Transkript
EDITORIAL
Hören und Sehen
Zwar ist es nicht explizit – etwa auf der Titelseite oder im Inhaltsverzeichnis – entsprechend kenntlich gemacht, aber für gewöhnlich beschäftigt sich jede Ausgabe von ARS MEDICI schwerpunktmässig mit einem speziellen Bereich aus dem weiten Feld der Medizin, das ja vor allem Sie, die Hausärzte und Leser unserer Zeitschrift, im beruflichen Alltag stets möglichst umfassend im Blick haben müssen. Mal fachbezogen (z. B. Rheumatologie, Kardiologie), mal eher patientenorientiert (z. B. Medizin für die Frau/im Alter) gebündelt, bildet das Kerngebiet mit seinen unterschiedlichen Aspekten den roten Faden, der dann zusammen mit zusätzlichen Themen am Ende jeweils einen hoffentlich abwechslungsreichen und informativen Lesestoff ergibt. Die inhaltliche Klammer dieses Hefts stellen Augen und Ohren, die wohl komplexesten und auch empfindlichsten unserer Sinnesorgane, und ihre Erkrankungen dar. Letztere sind so mannigfaltig und oft so speziell, dass sie eigene medizinische Fachgebiete begründeten – wenn auch zum Glück nicht immer entsprechend gefährlich. Aber vor allem mit zunehmendem Alter können uns Hören und Sehen vergehen. So beschäftigt sich denn auch einTeil der Beiträge auf den folgenden Seiten mit den typischen ophthalmologischen und otologischen Sujets fortgeschrittener Lebensphasen wie Makuladegeneration, Glaukom oder Hörminderung nebst den entsprechenden technischen Hilfsmitteln. Die herkömmlichen Gerätschaften zur Korrektur von Sehfehlern, die Brillen, avancierten mit ihrer inzwischen schier unüberschaubaren Vielfalt längst zu modischen Accessoires, die auch im Zuge filigraner augenoptischer
Weiterentwicklungen in Gestalt der Kontaktlinsen
nicht an Akzeptanz eingebüsst haben – wohl auch weil
Letztere vergleichsweise in der Handhabung umständ-
licher und zudem eben nicht «stylish» sind. Dagegen
haftet den Hörhilfen trotz der in den letzten Jahren
erzielten enormenVerbesserungen und der Imagekam-
pagnen der Hörgeräteakustiker aus Sicht vieler (poten-
zieller) Träger vielfach immer noch der Makel des un-
weigerlichen Zurschaustellens einer (Alters-)Schwäche
an. Diese Diskrepanz zur Brille ist offensichtlich para-
dox und psychologisch so merkwürdig wie im individu-
ellen Fall nicht selten durchaus tragisch.
Altersbedingter Hörverlust ist ein schleichender Pro-
zess und wird häufig von den Betroffenen zunächst
kaum wahrgenommen, ist jedoch gemäss Beobach-
tungsstudien mit höheren Raten an Behinderung, Pfle-
gebedarf, sozialer Isolation, Depression und kognitivem
Abbau bis hin zu Demenz (siehe dazu die Kurzvorstel-
lung einer neuen Studie auf S. 350) vergesellschaftet.
Ein aktueller systematischer Review der US Preventive
Services Task Force (1) hat die Datenlage zum Nutzen
eines Hörscreenings bei Personen ab 50 Jahren sondiert
und kommt zu dem Schluss, dass sich ein klarer Zu-
sammenhang zwischen der frühzeitigeren Entdeckung
einer Hörminderung und der Versorgung mit Hörgerä-
ten anhand der verfügbaren Daten nicht eindeutig be-
legen lässt. Auch unter den gescreenten und für eine
Hörgeräteversorgung als geeignet erachteten Perso-
nen war die Bereitschaft zur Nutzung von Hörhilfen
nicht besonders ausgeprägt – entweder wegen subjek-
tiver Zweifel an deren Notwendigkeit, aus Kosten- oder
Bequemlichkeitsgründen oder aber aus Sorge vor Stig-
matisierung, wie weiter oben angedeutet. Dabei könnte
der Gebrauch von Hörhilfen die mit dem Hören assozi-
ierten kognitiven Funktionen grundsätzlich verbessern,
auch wenn Beweise für die Langzeitwirkung, etwa auf
die Demenzentwicklung, noch fehlen.
Gerade beim Thema Hörverlust erscheint somit noch
vieles in Bewegung, woraus sich auch für den Hausarzt
die Aufgabe ableiten liesse, seine älteren Patienten
auch in dieser Hinsicht genau anzuschauen und ihnen
zuzuhören. Wir hoffen, die vorliegende Lektüre kann
Ihnen dabei dienlich sein.
s
Ralf Behrens
1. US Preventive Services Task Force; Krist AH et al.: Screening for hearing loss in older adults: US Preventive Services Task Force recommendation statement. JAMA 2021; 325(12): 1196–1201.
ARS MEDICI 12 | 2021
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