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Titel
Psychiatrie – Der emotionalen und psychischen Belastung durch COVID-19 vermehrt Rechnung tragen
Untertitel
Interview mit Prof. Dr. med. Henning Wormstall Praxis Webergasse Webergasse 58 8200 Schaffhausen und PD Dr. med. Dr. phil. Ulrich Michael Hemmeter Chefarzt Alters- und Neuropsychiatrie Psychiatrie St. Gallen Nord – PSGN Zürcherstrasse 30 9500 Wil
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Rückblick 2020/Ausblick 2021
Artikel-ID
49981
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RÜCKBLICK 2020/AUSBLICK 2021

Psychiatrie
Prof. Dr. med. Henning Wormstall Praxis Webergasse Webergasse 58 8200 Schaffhausen
PD Dr. med. Dr. phil. Ulrich Michael Hemmeter Chefarzt Alters- und Neuropsychiatrie Psychiatrie St. Gallen Nord – PSGN Zürcherstrasse 30 9500 Wil
Der emotionalen und psychischen Belastung durch COVID-19 vermehrt Rechnung tragen

Hobbys, geistige Interessen (Lesen, Schreiben) oder der Einsatz der elektronischen Medien (Zoom, Skype, WhatsApp etc.) auswirken. Neben den Sorgen über eine Infektion mit dem Coronavirus und einen damit potenziell verbundenen schweren Krankheitsverlauf bewirkt die Pandemie zusätzlich ausgeprägte wirtschaftliche Sorgen und eine verminderte, coronabedingte Lebenszufriedenheit. Diese finden sich besonders in den Branchen Gastronomie, Kultur und Sport. 8 Prozent der Bevölkerung haben Angst vor einem Arbeitsplatzverlust, und ein Drittel kennt keine Anlaufstelle für Notlagen. In der Gruppe der 15- bis 25-Jährigen können sogar 45 Prozent keinen Ort benennen, wohin sie sich in Not wenden könnten (1). Es zeigen sich Auswirkungen der Pandemie im Spannungsfeld zwischen den Erfordernissen der Wirtschaft und des Gesundheitswesens. Stimmen wurden lauter, dass trotz der im Vergleich zum europäischen Ausland erhöhten Mortalität «die Politik» zu wenig eingreife. Die Direktoren der Schweizer Universitätskliniken warnten davor, dass die Betten- und vor allem Personalkapazitäten in Kürze nicht mehr ausreichen würden (3).

Das Thema, das den Jahresrückblick 2020 auch auf psychiatrischem Fachgebiet dominiert, ist die COVID-19-Pandemie oder die Coronakrise. COVID-19 meint die Erkrankung, SARS-CoV-2 den Erreger. In den Medien stehen Infektionszahlen, die 7-Tages-Inzidenz, Testverfahren, die Mortalität und nun das Impfgeschehen im Vordergrund. Psychische Themen sind ebenfalls von grosser Bedeutung, befinden sich aber weniger im Fokus der Berichterstattung. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) veröffentlichte im Dezember 2020 das lesenswerte Faktenblatt (1) (siehe Linktipp) «Psychische Gesundheit in Zeiten von Corona». Beauftragt wurde zuvor das Büro für Arbeits- und sozialpolitische Studien (BASS) in Bern zur Datenerhebung. In einem Vergleich der nationalen mit der internationalen Situation wurden die Ergebnisse im ersten Teilbericht «Der Einfluss der COVID-19-Pandemie auf die psychische Gesundheit der Schweizer Bevölkerung und die psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung in der Schweiz» am 2. November 2020 zusammengefasst (2). Anhand der derzeit zur Verfügung stehenden Daten beschreibt das BAG die COVID-19-Pandemie als Belastungssituation, die die Balance zwischen Ressourcen und Stressoren aus dem Gleichgewicht bringt und psychisches Leiden entstehen lässt. Als Hauptbelastungsfaktoren werden Einsamkeit und soziale Isolation, Langeweile, familiäre Konflikte, sozioökonomische Einschränkungen, Arbeitslosigkeit sowie ungünstige Coping-Strategien in Form von vermehrtem Alkoholkonsum oder Medikamentenmissbrauch genannt. Auf stabilisierende Ressourcen wie den persönlichen Austausch mit Freunden, kulturelle Veranstaltungen oder das Fitnessstudio kann in der Pandemie nur noch reduziert oder gar nicht mehr zurückgegriffen werden. Als hilfreich können sich jedoch körperliche Bewegung (Spaziergänge, Gymnastik),

Akzentuierung bestehender Probleme
Die Pandemie kann als «Brennglas» für Menschen mit psychiatrischen oder somatischen Vorerkrankungen, für sozioökonomisch benachteiligte Personen oder Migranten wirken und bereits vorliegende Schwierigkeiten deutlich akzentuieren. Eine nicht unerhebliche Anzahl an Patienten mit psychischen Erkrankungen hat ihre Alltagsstruktur verloren. Durch die COVID-19-bedingten Stressoren (Einsamkeit, Existenzängste u. a.) kam es zur Dekompensation von Erkrankungen wie rezidivierenden depressiven oder bipolaren Störungen, die zuvor über viele Jahre im ambulanten Rahmen stabil blieben. Mittlerweile hat auch eine internationale Studie mit Beteiligung der Universität Zürich gezeigt, dass die Coronapandemie zu einer Intensivierung der Symptomatik von psychischen Erkrankungen geführt hat (4).
Auswirkungen auf Patienten und Personal
Die unmittelbaren Auswirkungen der Pandemie erforderten insbesondere für die Hochrisikogruppen Kontaktreduzierungen in den Praxen und Polikliniken sowie massive Einschränkungen im teilstationären und stationären Bereich. In nahezu allen psychiatrischen Institutionen wurden die Tageskliniken geschlossen, die stationären Gruppentherapien ausgesetzt und Aussenaktivitäten der Patienten stark eingeschränkt. Erschwerend kam noch ein weitreichendes Besuchsverbot dazu. Diese Massnahmen hatten zur Folge, dass sich ein Teil der Patienten entlassen liess oder gar nicht erst zur stationären Behandlung kam. Durch die COVID-19-Auswirkungen war das Personal in den Kliniken nicht nur körperlich, sondern auch psychisch extrem belastet, sodass von psychiatrisch-psychotherapeutischer Seite eine enge Begleitung erfolgen musste/sollte und hier auch schnell Konzepte entwickelt wurden, die jedoch eine unterschiedliche Akzeptanz fanden (5). Diese betreffen die direkte

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Quelle: adaptiert nach (1); Skala: 1 («stimme überhaupt nicht zu» bis 10 («stimme voll und ganz zu»), Befragte: 2097 (März), 1682 (April), 1665 (Juni), 1673 (Juli) und 1633 (Oktober)

Zu den Risikogruppen gehören berufsbedingt das medizinische Personal und Menschen mit erhöhtem Expositionsrisiko (Polizisten oder Angestellte in der Lebensmittelversorgung), Alleinstehende, Wohnsitzlose, Migranten und Personen mit unterschiedlichsten Beeinträchtigungen. Besonders gefährdet sind drei Kategorien: 1. über 65-Jährige 2. Schwangere 3. Patienten mit schweren somatischen Vorerkrankungen
(z. B. geschädigtes Immunsystem, Diabetes mellitus, Karzinome, Herz-Kreislauf-Erkrankungen etc.) In der Schweiz zählen über 2,5 Millionen Menschen als Risikopersonen im engeren Sinn (1). Aufgrund des erhöhten Risikos ist gerade bei diesen Gruppen von einer erhöhten emotionalen und psychischen Belastung durch COVID-19 auszugehen.

psychotherapeutische Unterstützung, beinhalten aber auch Anleitungen zur optimalen Nutzung des Homeoffice wie auch der Telemedien, um Stress vorzubeugen und sich an die neue Situation zu gewöhnen. Deutlich wurde, dass die Stimmungslage im Oktober 2020 im Vergleich zum März 2020 (mit zwischenzeitlicher Verbesserung in den Sommermonaten) annähernd gleich beeinträchtigt war (siehe Abbildung) (1). Im Frühling stand das Gefühl einer unmittelbaren Bedrohung im Vordergrund, im Herbst waren es hingegen die ausgelaugten emotionalen Ressourcen. Psychisch Kranke sind nicht selten mit Krisen mehr vertraut als Gesunde, da sie extreme Lebenssituationen bereits gewohnt sind. Personen, die vor der Pandemie eine gute soziale Einbindung (Vereinsleben, beruflicher Erfolg, regelmässiger Ausgang) hatten, leiden häufig mehr unter dem Lockdown als jene, die vorher bereits isoliert waren. Patienten mit Störungen aus dem Autismusspektrum (kommunikative Einschränkungen), anankastische Personen (Händewaschen), Hypochonder (kontinuierliches Achten auf Gesundheit), Sozialphobiker oder Angstpatienten (Wunsch, zu Hause zu bleiben) könnten durch die Pandemie zunächst sogar entlastet werden (6). Es lässt sich deshalb auch kein einheitliches psychisches Reaktionsmuster auf die COVID-19-bedingten Belastungen erkennen. Möglich sind sowohl eine Zunahme von psychischen Symptomen (7) als auch positive emotionale Effekte (Verstärkung der familiären Zusammenhänge oder das verbindende Gefühl, dass wir alle «im gleichen Boot sitzen»). Diagnostisch stehen Anpassungsstörungen an erster Stelle, Langzeitfolgen (z. B. Angststörungen) sind aber zu erwarten. Ein Drittel einer Kohorte von 50  000 Befragten in China berichtete von psychologischem Stress durch die COVID-19-Epidemie (8). Suizidgedanken nehmen in der Schweiz zu (1) (BAG 2020), ein Anstieg der Suizide wird befürchtet (9).
Neuropsychiatrisches Krankheitsbild
Nicht vergessen werden darf, dass COVID-19 ein neuropsychiatrisches Krankheitsbild mit Hirn- und Multiorganbeteiligung ist und auch zu hirnorganischen Veränderungen und akuten deliranten Zuständen führen kann (10).

COVID-19 führt zu altersspezifischen Besonderheiten
Kinder sind besonders vulnerabel für Einschränkungen beim Kontakt mit Gleichaltrigen, haben aber keine einheitlichen Reaktionsmuster. Weniger spielen vor der Tür bedeutet weniger körperliche Fitness und eventuell auch eine Gewichtszunahme (11). Sozioökonomische Beeinträchtigungen der Eltern oder Alleinerziehung durch einen Elternteil hatten zum Beispiel beim Homeschooling negative Auswirkungen. Sogenannter Dichtestress kann zum Anstieg von häuslicher Gewalt führen. Jugendliche und jüngere Erwachsene, das heisst unter 35-Jährige, entwickeln mehr Ängste als die Älteren; eine Erklärung ist die Angstübertragung durch die sozialen Medien (fear is downloaded) (12); das Internet gibt viel Raum für unterschiedliche Wahrheiten. Auch diese Altersgruppe leidet besonders unter Kontakteinschränkungen mit ihren Peergroups. Frauen im Homeoffice unterliegen Mehrfachbelastungen durch Beruf und die häuslich-familiäre Situation. Positiv im Homeoffice sind die grössere Autonomie und Selbstbestimmtheit sowie der kürzere Arbeitsweg, belastend hingegen die ständige Erreichbarkeit, der Stress im häuslichen Milieu und die verminderten sozialen Kontakte. Ältere haben mehr Bewältigungsstrategien gegen ängstliche Stimmungen und verfügen über mehr Erfahrungen, dass im Leben nicht alles planbar und voraussehbar ist. Hervorzuheben sind für Menschen in der zweiten Lebenshälfte die unterschiedlich vulnerablen Subgruppen, die Besonderheiten der Altersstufen (13) oder das weitgefächerte Krankheitsspektrum mit riesigen sozioökonomischen Unterschieden. Belastend sind auch offene Anfeindungen gegenüber betagten Menschen oder eine Stigmatisierung von COVID-19-Infizierten. Aufgrund des hohen Risikos für einen schweren Krankheitsverlauf wie auch für eine deutlich erhöhte Mortalität sind ältere Menschen gezwungen, sich mit Fragen des Lebensendes auseinanderzusetzen. Themen und juristische Fragen wie Vorsorgeauftrag, Patientenverfügung und Testament erhalten in Zeiten der gravierenden Epidemie im ärztlichen Gespräch einen zusätzlichen Stellenwert.

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Kontakte aufrechterhalten
Brooks et al. (14) empfehlen, die restriktiven Massnahmen zur Eindämmung der sozialen Kontakte jedoch zeitlich möglichst kurz und Kontakte über andere Kanäle (Telefon, elektronisch, schriftlich) aufrechtzuerhalten. Die akkurate und rechtzeitige Information der Bevölkerung mit Schutz vor «fake news» ist dringend notwendig, der Altruismus der Bevölkerung (Nachbarschaftshilfe) ist zu fördern und Langeweile (z. B. abwechslungsreiches Fernsehprogramm) zu reduzieren. Staatliche Verantwortung liegt in der Vermeidung von finanziellen Nöten (Kurzarbeitergeld, Sozialhilfe, Projektförderung), die als grösster Risikofaktor von seelischen Nöten in Pandemiezeiten gelten (15). Therapeutische Handlungen müssen individuell auf die jeweiligen Lebensumstände und diagnostischen Besonderheiten zugeschnitten sein. Eine enge Zusammenarbeit zwischen Hausärzten und Psychiatern/Psychotherapeuten ist dringend notwendig.
Positive und negative Aspekte
Für den Lockdown lassen sich positive und negative Aspekte beschreiben: Positiv sind neuere breit gefächerte Fortbildungsmodalitäten per Livestream, der Ausbau der Telemedizin beziehungsweise Onlinetherapien oder die mittlerweile unkomplizierte Finanzierung von fernmündlichen Konsultationen. Negative Auswirkungen gab es für die Tageskliniken, die psychiatrische Rehabilitation und die unterschiedlichsten Formen der Gruppentherapie. Notwendige somatische Behandlungen wurden weniger in Anspruch genommen, und Erhaltungs-EKT-Serien wurden unterbrochen.

Linktipp Wenn Sie die aktuellen Publikationen des BAG im Detail ansehen möchten, können Sie diese hier via QR-Code direkt finden/herunterladen: ▲ Faktenblatt «Psychische Gesundheit in Zeiten von
Corona» (1)
▲ Langfassung: «Der Einfluss der COVID-19-Pandemie auf die psychische Gesundheit der Schweizer Bevölkerung und die psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung in der Schweiz»
▲ «Der Einfluss der COVID-19-Pandemie auf die psychische Gesundheit der Schweizer Bevölkerung und die psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung in der Schweiz»

Verlaufsstudien dringend notwendig
Wissenschaftlich laufen derzeit diverse Studien zur Thematik (z. B. an den Universitäten Zürich oder Göttingen/BSI-Studie). Zu COVID-19-bedingten Langzeitfolgen liegen aufgrund des erst ein Jahr dauernden Geschehens noch keine abschliessenden Ergebnisse vor. Derzeit publizierte Studienergebnisse muten noch als «Werkstattberichte» an, Verlaufsstudien sind dringend notwendig. Die bisherigen Studien konnten noch nicht die erst seit Anfang 2021 anlaufenden Impfungen berücksichtigen. Die Impfoption lässt Hoffnung aufkeimen, dass der aktuelle Zustand ein Ende finden könnte. Nicht ausser Acht gelassen werden sollte, dass auch die Impfoption selbst seelische Reaktionen auslöst: Hoffnung, Sorgen wegen der Warteschlange, Unsicherheit bezüglich Nebenwirkungen, generelle Impfängste, Angst vor Sanktionen bei Impfverweigerung. Einen weiteren brandaktuellen Faktor stellen die erst vor Kurzem bekannt gewordenen viralen Mutationen dar, die neue tiefgreifende Befürchtungen und Ängste auslösen. Fraglich ist, ob eine bereits erkennbare Spaltung der Gesellschaft (Coronabesorgte vs. Coronaleugner, Wirtschaft vs. Mortalität, systemrelevant vs. Homeoffice) nun zu neuen gesellschaftlichen Polaritäten (Geimpfte vs. Ungeimpfte) führt und es dadurch zu weiteren Belastungen und Ängsten und somit auch zum zusätzlichen Auftreten oder zur Dekompensation bereits bestehender psychischer Erkrankungen kommt.

2020 – mehr als nur Coronakrise
Die alles überstrahlende Coronakrise führte dazu, dass neben dem Beethovenjahr auch die Vorbereitung auf die International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD-11) etwas unterging. Für das Jahr 2020 wurden die neuen Diagnosekriterien der ICD-11 zunächst in der englischen Originalversion eingeführt (16). Die offizielle deutschsprachige Fassung wird ab 2022 erwartet. Die Vorbereitungen im psychiatrischen Fachgebiet laufen und werden für alle gängigen Diagnosegruppen mehr oder weniger einschneidende Änderungen haben. Ein Beispiel stellen die Persönlichkeitsstörungen (PS) dar, die bisher in der ICD-10 noch in acht Kategorien eingeteilt wurden (17). In der ICD-11 soll bis auf die Borderline-PS auf eine kategoriale Typendiagnostik gänzlich verzichtet werden. Es werden nun fünf übergeordnete Persönlichkeitszüge (trait domains) definiert: negative Affektivität, Dissozialität, Enthemmung, Anankasmus und soziales Desinteresse. Neu eingeführt werden drei Schweregrade (leicht, mittelschwer, schwer). Entscheidend sind aber

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das interpersonelle und das Selbstfunktionsniveau. Das Kriterium der (lebenslangen) Stabilität wurde aufgegeben und durch eine Symptomdauer von mindestens 2 Jahren ersetzt. Mit Erscheinen der ICD-11 ist eine grundsätzlich neue Form der Diagnosestellung bei PS gefordert, das heisst statt kategorialer Klassifikation (starre Entitäten) erfolgt der Übergang zu einer dimensionalen (dynamischen) Sichtweise. Psychopharmakologisch wurde im Jahr 2020 Esketamin in der intranasalen Anwendung als Spray (Spravato®) zur Behandlung therapieresistenter Depressionen zugelassen. Es stellt durch seine Wirkung über den glutamatergen NMDA-Rezeptor einen neuen und alternativen Ansatz bei der pharmakologischen Behandlung der Depression dar (18). Bei der Anwendung ist jedoch zu berücksichtigen, dass eine Indikation nur gegeben ist, wenn die Patienten auf zwei antidepressive Vorbehandlungen in ausreichender Dosierung nicht angesprochen haben. Zudem muss die Einstellung auf das Medikament an einem zertifizierten Zentrum erfolgen, da die Patienten nach der Gabe wegen des möglichen Auftretens von dissoziativen Zuständen und auch Herz-Kreislauf-Dysregulation über zirka 2 Stunden hinweg nach der Applikation überwacht werden müssen.
Einsatz von Cannabis bei psychischen Erkrankungen
Ein weiteres Thema, von dem die psychiatrische Arbeit derzeit tangiert wird, ist der Einsatz von Cannabis bei psychischen Erkrankungen. In der Schweiz gibt es Cannabispräparate mit verschiedenen galenischen Formulierungen (Tabak, Öle, Kapseln, Tinkturen etc.), die bei einem THC-Gehalt von unter 1 Prozent alle problemlos angewendet werden können. Von Cannabidiol ist bekannt, dass es antiepileptische (antikonvulsive), angstlösende, neuroprotektive, antipsychotische, entzündungshemmende, antiemetische und antioxidative Eigenschaften besitzt. Im Unterschied zu Δ9-Tetrahydrocannabinol (THC) ist es nicht psychoaktiv (euphorisierend) und bindet nicht als Agonist an die CB1- und CB2-Rezeptoren. Im Auftrag des BAG wurde 2020 eine Studie publiziert, die Antworten von 335 Personen, die Cannabisprodukte einnahmen, zusammenfasst. 96 Prozent davon gaben eine zum Teil markante Verbesserung ihrer Beschwerden (v. a. Schmerzen, Entzündungen, depressive Symptome) an und konnten zum Teil auch andere Medikamente einsparen (19). Über diese Symptome hinaus kommen Cannabisprodukte im psychiatrischen Fachgebiet bereits jetzt für ADHS und Schlafstörungen zum Einsatz. Nicht zuletzt aufgrund dieser Ausgangslage hat der Bundesrat im Sommer 2020 eine Gesetzesänderung in die Vernehmlassung gegeben, die den Einsatz von Cannabisprodukten über die Zulassung durch Swissmedic regelt und bei definierter Indikation eine ärztliche Verschreibung ermöglicht, ohne dass in jedem individuellen

Fall eine Sondergenehmigung beim BAG eingeholt werden

muss (20).

Weitere Themen, die das psychiatrische Fachgebiet im Jahr

2020 beschäftigten, waren das noch in Diskussion befindliche

Anordnungsmodell für psychologische Psychotherapeuten

(21) und die Kostendämpfungsmassnahmen des Bundesrats

(22), die auch für die Psychiatrie mit gravierenden Verände-

rungen hinsichtlich der Finanzierung und damit auch der

Versorgungsstrukturen verbunden wären.

s

Referenzen: 1. BAG 2020: Psychische Gesundheit in Zeiten von Corona, Faktenblatt.
https://www.fmh.ch/files/pdf25/psychische-gesundheit-coronavirus. pdf; letzter Zugriff am 28.1.2021. 2. BAG 2020: https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/das-bag/aktuell/ news/news-20-11-2020.html; letzter Zugriff 28.1.2021. 3. Spitäler fordern härtere Massnahmen. SRF, 13. 12. 2020. 4. Gobbi S et al.: Worsening of preexisting psychiatric conditions during the COVID-19 pandemic. Front Psychiatry 2020; 11: 581426. 5. Benoy Ch et al.: COVID-19: Ein Virus nimmt Einfluss auf unsere Psyche. Kohlhammer, 2020. 6. Belz M et al.: Psychosoziale Belastung im Verlauf der Coronapandemie: erste Ergebnisse zum Gö-BSI: z.B. Symptomverläufe, Auswirkung von social distancing, Identifikation von Resilienzfaktoren. DGPPN-Kongress 2020. 7. Peters A et al.: The impact of the COVID-19 pandemic on self-reported health – early evidence from the German National Cohort. Dtsch Ärztebl Int 2020; 117: 861–867. 8. Qiu J et al.: A nationwide survey of psychological distress among Chinese people in the COVID-19 epidemic: implications and policy recommendations. Gen Psychiatr 2020; 33(2): e100213. 9. Gunnell D et al.: Suicide risk and prevention during the COVID-19 pandemic. Lancet Psychiatry 2020; 7(6): 468–471. 10. Berichte über neurologische Komplikationen bei COVID-19. Deutsches Ärzteblatt, 2. April 2020. 11. Wang G et al.: Mitigate the effects of home confinement on children during the COVID-19 outbreak. Lancet 2020; 395(10228): 945–947. 12. Domschke K et al.: State of the art: Angststörungen – Update Neurobiologie und Pharmakotherapie. DGPPN-Kongress 2020. 13. Wormstall H: Die Alten Jungen. Themenheft. Psychotherapie im Alter 2008; 5: Heft 4. 14. Brooks SK et al.: The psychological impact of quarantine and how to reduce it: rapid review of the evidence. Lancet 2020; 395(10227): 912–920. 15. Mihashi M et al.: Predictive factors of psychological disorder development during recovery following SARS outbreak. Health Psychol 2009; 28(1): 91–100. 16. ICD-11 2020: https://gmhacademy.dialogedu.com/icd11 17. Jeung-Maarse H et al.: Neues zur Diagnostik und Therapie von Persönlichkeitsstörungen – Änderungen in ICD-11. Nervenarzt 2020; 91: 863–871. 18. Hasler G: Die Einführung des Esketamin-Sprays ist ein Meilenstein.Leading opinions Neurologie & Psychiatrie 2020; 6: 12. 19. https://www.isgf.uzh.ch/dam/jcr:4cde5c2b-e77a-4ed2-9412f63cd835484c/Faktenblatt_Cannabiskonsum_Rekreative%20oder%20 medizinische%20Beweggründe.pdf; letzter Zugriff am 28.1.2021. 20. https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/medizin-und-forschung/ heilmittel/med-anwend-cannabis/gesetzesaenderungcannabisarzneimittel.html; letzter Zugriff 28.1.2021. 21. https://swissmentalhealthcare.ch/smhc/koordiniertes-anordungsmodell/; letzter Zugriff 28.1.2021. 22. https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/versicherungen/ krankenversicherung/krankenversicherung-revisionsprojekte/kvgaenderung-massnahmen-zur-kostendaempfung-paket-2.html; letzter Zugriff 28.1.2021.

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