Transkript
BERICHT
Tumorschmerzen
Analgesie individuell anpassen und engmaschig kontrollieren
Schmerzen sind ein häufiges, meist eher spätes Begleitsymptom einer Krebserkrankung und häufig auch der Grund, weshalb der Patient den Arzt aufsucht. Oft wird ein Tumor dann auch in einem bereits fortgeschrittenen Stadium entdeckt, wenn es bereits zu einer Metastasierung und somit zu einer palliativen Situation gekommen ist. Die Lebensqualität dieser Patienten kann mit einer ganzen Reihe sehr effektiver Analgetika verbessert werden. Über Möglichkeiten, Dosierungen und Nebenwirkungen einer medikamentösen Schmerztherapie informierte Dr. Raphaël Delaloye, Oberarzt Onkologie, Universitätsspital Basel, an der diesjährigen medArt.
Auch wenn glücklicherweise nicht immer eine maligne Erkrankung dahinterstecke, sei es wichtig, bei jeglichen, zudem meist unspezifischen Schmerzen wie Bauch- oder Rückenweh stets nach der eigentlichen Ursache zu fahnden, mahnte der Referent zu Beginn seines Vortrags. Denn bei alleiniger symptomatischer Therapie kann nicht nur Zeit verloren gehen, sondern auch eine ernste Ursache verpasst werden.
Umfassende Schmerzanamnese ist Voraussetzung
Bei Krebspatienten ist, gerade in der Palliativsituation, für die Lebensqualität eine gute Einstellung der Schmerztherapie essenziell. Voraussetzung dafür ist eine gezielte Schmerzanamnese, die Fragen zum Zeitverlauf (Seit wann? Wie lange?), zur Quantität (visuelle Analogskala, VAS) und Qualität (Druck, Stechen, Brennen usw.) der Schmerzen, den Einfluss externer Faktoren (Positionswechsel, Wärme, Kühlen), Begleitsymp-
KURZ & BÜNDIG
� Bei Tumorpatienten ist, vor allem in fortgeschrittenen Stadien, zur Aufrechterhaltung der Lebensqualität eine gute Einstellung der Schmerztherapie essenziell. Voraussetzung dafür ist eine gezielte Schmerzanamnese, die verschiedene, auch ganzheitliche Aspekte berücksichtigt.
� Neben der Behandlung der Ursache können der Einsatz von Analgetika, anästhesiologische Interventionen, transkutane Neurostimulation (TENS) sowie zum Teil Physiotherapie und komplementärmedizinische Verfahren die Schmerzen meist sehr gut bekämpfen.
� Die medikamentöse Schmerztherapie erfolgt nach dem Basis-Bolus-Prinzip gemäss dem Stufenschema der WHO. Bei der Gabe von Opioiden ist eine adjuvante Medikation mit Antiemetika oder Laxanzien wichtig.
� Dosierungen und Verabreichungsformen der einzelnen Analgetika sind unter Berücksichtigung von Nebenwirkungen und Begleiterkrankungen individuell anzupassen.
tome (z. B. Nausea, Harndrang, Lähmungserscheinungen), bisherige Therapien (Selbstmedikation) sowie die ganzheitliche Komponente umfasst. Hinsichtlich des letzten Punkts verwies Delaloye auf das bereits in den 1960er-Jahren von Cicely Saunders beschriebene «total pain concept», wonach das Schmerzerleben nicht nur die physische, sondern auch die seelische, soziale und spirituelle Ebene umfasst. Schmerzen werden grundsätzlich in akut (Warnsignal mit nachvollziehbarem Auslöser) und chronisch (die Empfindung bleibt trotz beseitigter Ursache bestehen, typisch bei wiederholter Aktivierung von Nervenbahnen: «chronisches Schmerzsyndrom», z. B. bei Herpes Zoster) unterteilt. Weiterhin wird differenziert in nozizeptive («normale» Reaktion auf direkte Gewebeschädigung) und neuropathische Schmerzen (Schädigung der Nervenbahnen, z. B. nach Operation, Chemotherapie). Des Weiteren bestehen, insbesondere bei Krebspatienten, auch gemischte Formen (z. B. bei Zerstörung von Knochen, aber auch von Nervenbahnen). Nicht vergessen werden darf ausserdem auch die Dimension psychogener beziehungsweise psychosomatischer Schmerzen.
Diverse Ansätze der Schmerztherapie
Therapieansätze umfassen neben der Behandlung der Ursache (Onkologika, Operation, Radatio usw.) den Einsatz von Schmerzmedikamenten, anästhesiologische Interventionen (z. B. Schmerzpumpe) und die transkutane Neurostimulation (TENS). Schmerzausstrahlungen, die zu muskulären Verspannungen führen, lassen sich auch physiotherapeutisch sehr gut behandeln. Im Einzelfall können Patienten ausserdem von komplementärmedizinischen Therapien wie zum Beispiel Akupunktur profitieren. Wenn ein Patient erfährt, dass sein Schmerz chronischer Natur und therapeutisch nicht komplett zurückzudrängen ist, sollte er dahingehend begleitet werden, den Schmerz zu akzeptieren und zu lernen, damit zu leben und mit entsprechenden Einschränkungen zurechtzukommen. Die medikamentöse Schmerztherapie richtet sich nach dem Stufenschema der Weltgesundheitsorganisation (WHO): Auf Basis eines Basis-Bolus-Prinzips werden dabei nicht opioide
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Analgetika (Stufe 1; z. B. Metamizol, Paracetamol, nicht steroidale Antirheumatika) entweder mit einem schwachen (Stufe 2; z. B. Tramadol, Tilidin, Codein) oder starken Opioid (Stufe 3; z. B. Morphin, Fentanyl, Methadon) kombiniert. Die vierte und höchste Stufe bilden dann parenterale, lokalanästhetische oder neurochirurgische Interventionen, welche stets einen Spitalaufenthalt erfordern. Wichtig bei der medikamentösen Schmerzbehandlung mit Opioiden ist die adjuvante Medikation mit Antiemetika oder Laxanzien. Zusätzlich können als Koanalgetika weitere Medikamente (Antidepressiva, Antiepileptika, Neuroleptika, Glukokortikoide und Bisphosphonate) eingesetzt werden. Die Auswahl von Dosierung und Verabreichungsform der Schmerzmedikamente erfolgt immer individuell unter Berücksichtigung von Komorbiditäten (Niereninsuffizienz, Schluck-/Resorptionsstörungen, Kachexie), eine orale Gabe ist zu bevorzugen. Die Neueinstellung einer medikamentösen Therapie muss unter engmaschiger Kontrolle und die Basisanalgesie (Morphin) statt nach Bedarf stets fix und in einem konstanten Zeitintervall erfolgen. Die Bolusdosis beträgt etwa 10 bis 15 Prozent der Basisdosis. Delaloye gab einige Beispiele geeigneter Anfangsdosen einzelner Wirkstoffe (siehe Tabelle). Für die Reservedosis kann man unter Umständen bei niedrigen Dosierungen von der 15-Prozent-Regel nach oben abweichen, um gegebenenfalls eine ausreichende Wirksamkeit zu gewährleisten. Jeder Arzt müsse aber seine eigenen Erfahrungen mit diesen Medikamenten machen, riet der Referent, denn es sei wichtig, mehr als eine Substanz zu kennen und in seinem Repertoire zu haben. Obwohl kein klassisches Analgetikum, wird auch Dexamethason als ein solches eingesetzt, insbesondere bei Nervenkompression oder in der letzten Phase einer Palliativsituation. Hier sind dann auch mögliche frühe (Soor, Schlaflosigkeit,
Tabelle:
Medikamentöse Analgesie (Basis-Bolus-Prinzip), Beispiele Anfangsdosis
Medikament
Dosis
Reserve
MST® Continous (Morphin)
2-mal 10 mg
Morphin 2% 5 Tropfen
MST® Continous (Morphin)
2-mal 30 mg
Morphin 2% 10 Tropfen
Targin® (Oxycodon)
2-mal 10/5 mg
Oxycodon Lösung 0,2 ml
Oxynorm® Kapseln, Tropfen (Oxycodon)
3-mal 5 mg
Oxycodon Lösung 0,2 ml
Palladon® retard (Hydromorphon)
2-mal 4 mg
Palladon® Kapseln 1,3 mg
Fentanyl TTS
12 µg/h
Morphin 2% 5 Tropfen
Initial bei opiatnaiven Patienten ggf. Metoclopramid oder Haloperidol prophylaktisch für ca. 5 Tage TTS: transdermale therapeutische Systeme Quelle: nach R. Delaloye
Steroidpsychose u. a.) und verzögerte Nebenwirkungen (Myopathien, M. Cushing, Umverteilung von Fettgewebe) zu bedenken und mit dem Patienten zu besprechen. Für die Compliance ist es grundsätzlich wichtig, den Patienten den Umgang mit den Medikamenten sowie deren Wirkungen und Nebenwirkungen gut zu erklären und sie insbesondere zu Beginn der Schmerztherapie relativ engmaschig in der schmerztherapeutischen Sprechstunde zu kontrollieren. Besondere Beachtung sollte die bei Krebspatienten häufig bestehende Polymedikation finden. Ziel muss es dabei sein, den Medikamentenplan so weit wie möglich zu vereinfachen. So appellierte der Referent zum Beispiel daran, bei Patienten, die in ihre letzte Lebensphase gekommen seien, die Statine wegzulassen, denn deren Einsatz ergebe dann keinen Sinn mehr. Speziell bei Patienten mit Schluckstörungen aufgrund von HNO-Tumoren oder bei solchen mit gastrointestinalen Tumoren, bei denen die Resorption gestört ist, setzt Delaloye gern Fentanylpflaster ein.
Nebenwirkungen einzelner Opiate kaum
unterschiedlich
In der Diskussion im Anschluss an seine Ausführungen ging
Delaloye noch auf spezielle Fragen der Schmerztherapie ein.
Eine davon betraf das adäquate Vorgehen bei neuropathi-
schem Schmerz, der ja häufig durch die Krebsbehandlung
(Chemotherapeutika) erst verursacht wird. Hier gelte es, früh
eine entsprechende Problematik zu erkennen und die Ziele der
Therapie abzuwägen (adjuvante oder palliative Krankheits-
situation?). Je nachdem kommen dann eventuell Dosisreduk-
tionen in Betracht, und wo immer möglich sollte nach Be-
handlungsalternativen gesucht werden. Gegebenenfalls kön-
nen auch Kombinationen von Substanzen zur Therapie
nozizeptiver Schmerzen (Dafalgan, Morphin) mit Antikon-
vulsiva wie Pregabalin oder Gabapentin unter langsamer Do-
sissteigerung hilfreich sein.
Zur Frage, ob und wann hinsichtlich der Nebenwirkungen
von Morphinen eine sogenannte Opiatrotation sinnvoll ist,
sagte der Referent, dass sich die einzelnen Opiate seiner Er-
fahrung nach in der Realität hinsichtlich ihrer Nebenwirkun-
gen kaum unterschieden. Vielmehr kommt es darauf an, Subs-
tanzen gegen die Nebenwirkungen zu geben, zum Beispiel
Laxanzien gegen die Obstipation oder Antiemetika gegen
Übelkeit. Eine Rotation kann dennoch sinnvoll sein, vor allem
wenn Schmerzen nicht gut kontrolliert sind. Hier sei, so Dela-
loye, statt die Dosis weiter zu steigern, eher zu fragen, was
tatsächlich beim Patienten ankomme, und dementsprechend
ein Substanzwechsel vorzunehmen oder beispielsweise auch
auf ein Pflaster auszuweichen.
Weitere Forschungsanstrengungen erhofft sich der Referent
bei den Cannabinoiden, die seiner Ansicht nach für die
Schmerztherapie sehr vielversprechend sind, diesbezüglich bis
anhin jedoch allgemein unterschätzt werden. Derzeit sind
Cannabinoide in der Schweiz als Medikamente kaum verfüg-
bar und sehr teuer, wobei die Kosten von den Krankenkassen
nicht erstattet werden.
s
Ralf Behrens
Quelle: Vortrag «Schmerz und Krebs» von Dr. Raphaël Delaloye, medArt Basel, 7./8. Mai 2020, digital.
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