Transkript
EDITORIAL
Die Pille für den Mann schluckt nach wie vor die Frau
Vor 60 Jahren kam in den USA ein Medikament auf den Markt, welches schon bald als «die Pille» nicht nur sprachlich, sondern auch faktisch in zunehmendem Masse seinen Weg in den Volksmund fand – zumindest in den weiblichen. Dieses Präparat namens «Enovid» war bereits 1957 von der Food and Drug Administration (FDA) offiziell zugelassen worden – allerdings zunächst als Therapeutikum gegen Menstruationsbeschwerden. Erst drei Jahre später schien die Zeit reif, um es als das zu präsentieren, als was es in Wirklichkeit entwickelt worden war und von vielen Frauen auch dann schon eingenommen wurde, als sich die «temporäre Infertilität» noch als «Nebenwirkung» auf dem Beipackzettel tarnte: nämlich als Mittel zur hormonellen Kontrazeption. Noch lange nicht reif genug allerdings war die Zeit, allen rückblickenden Verklärungen zum Trotz, als dass allein die Verfügbarkeit eines bis dato ungekannt sicheren und einfach handhabbaren Verhütungsmittels gleich zu dessen breiter Anwendung geführt oder etwa die weibliche Selbstbestimmung revolutioniert hätte. Dem standen nicht nur die damaligen Moralvorstellungen und die römisch-katholische Kirche entgegen: Auch weite Teile der Ärzteschaft verschrieben das Hormonpräparat nicht allein aufgrund medizinischer Vorbehalte noch ein Jahrzehnt nach seiner Markteinführung nur äusserst selten und dann auch nur verheirateten, mehrfachen Müttern. So war die «Verhütungspille» für die Frauen bestenfalls später, als diese auf ihrem «Marsch durch die Institutionen» mal so weit vorangekommen waren, um sich dessen auch bedienen zu können, eine Art Instrument, um ein Stück mehr Gleichstellung zu erlangen. Aber persönliche oder gar sexuelle Befreiung? Nein, nicht wirklich … Die erlebten wohl eher manche Männer: Sie, die zuvor ihren jeweiligen Partnerinnen, und sei es nur in eigenem Interesse, auch hinsichtlich der im wahrenWortsinn potenziellen Konsequenzen ihres triebhaften Tuns nahe wa-
ren oder allenfalls «aufpassen» mussten, dass sich
diese nicht einstellten, konnten sich fortan bequem
zurücklehnen und die Frauen machen lassen.
Daran hat sich bis heute kaum etwas geändert. Die
Realisierung eines Kinderwunsches mögen junge hete-
rosexuelle Paare inzwischen mehr denn je als gemein-
same Sache begreifen, bei der Kontrazeption wird die
Frau dagegen nach wie vor überwiegend alleingelassen,
und wenn nicht von ihrem Partner, dann doch vom Gros
in Gesellschaft, Politik, Forschung und Medizin – vom
Klerus ganz zu schweigen. Wie konnte das passieren?
Die Konsequenzen einer ungewollten Schwangerschaft
oder deren Abbruchs treffen, natürlich, die Frauen weit
schwerer. Aber selbst wer auf die Biologie und zu Recht
auf die feinen Unterschiede zwischen Männlein und
Weiblein abhebt, um die es doch schade wäre, gingen
sie im Zuge eines überzogenen Gender Mainstreaming
vollends verloren, muss sich die Frage stellen, warum
es trotz vielfältiger Bemühungen noch immer keine
marktreife Pille für den Mann gibt. Antworten darauf
versuchte unlängst ein sehenswerter TV-Beitrag (1) zu
geben. Gewiss sind die Hürden für die Entwicklung
neuer Arzneien mittlerweile höher als Ende der 1950er-
Jahre, weshalb es auch die Antibabypille, zu deren Ent-
wicklung seinerzeit noch Feldversuche in den Slums
von Haiti und Puerto Rico durchgeführt worden waren,
heutzutage viel schwerer hätte, zugelassen zu werden.
Doch wenn Nebenwirkungen, die schliesslich jede hor-
monell verhütende Frau nach wie vor und auf Dauer in
Kauf nimmt, als Gründe dafür herangezogen werden,
warum fertige Produkte für den Mann in den Schubla-
den stecken bleiben, gibt das «starke Geschlecht» ein-
mal mehr ein ganz schwaches Bild ab ... Kommt dann
hinzu, dass auch die forschende Pharmaindustrie hier
kaum noch Geld in die Hand nimmt, bleibt alles, wie es
ist: «Never change a running system!»
Doch viele, vor allem junge Frauen wollen das nicht
mehr so selbstverständlich hin- und die Hormone nicht
mehr einnehmen. Weniger aus emanzipatorischen Be-
weggründen, sondern eher weil sie – nicht selten vom
Zeitpunkt ihrer ersten Regelblutung an aufs Pillen-
schlucken konditioniert und nun angestossen und un-
terstütztvon zahlreichen Bloggerinnenwie zum Beispiel
der Bernerin Lara Zaugg, aber auch von der öffent-
lich-rechtlichen Comedy-Amazone Carolin Kebekus (2)
– erkennen, dass sie ein Gefühl für ganz wesentliche
Vorgänge in ihrem Körper, die nicht zuletzt auch ihre
Psyche beeinflussen, verloren oder, noch schlimmer, nie
entwickelt haben. Für sie ist es, auch und gerade in Zei-
ten eines immer weiter eingeschränkten Raums für die
«sprechende Medizin», fundamental wichtig, dass ih-
nen wenigstens ihr Hausarzt oder Gynäkologe hier in-
dividuell beratend und im Sinne wirklicher Selbstbe-
stimmung zur Seite steht.
s
Ralf Behrens
1. «60 Jahre Pille: Wo bleibt die Pille für den Mann?» ZDF/arte 2019; https:// youtu.be/2ePCs3lLwO4.
2. «60 Jahre Pille – Happy No Birthday!» Die Carolin Kebekus Show, ARD, 25.6.2020; https://www.youtube.com/watch?v=z7jW84NNl88.
ARS MEDICI 19 | 2020
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