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FORTBILDUNG
Androgendefizienz bei älteren Männern
Indikation, Vorteile und Tücken der Testosteronersatztherapie
Die mit zunehmendem Alter niedrigeren Testosteronspiegel werden mit körperlichen Veränderungen in Verbindung gebracht, die sich auf Lebensqualität und -erwartung auswirken. Im Gegensatz zur weiblichen Menopause zeigen die «Wechseljahre des Mannes» eher einen langsamen Verlauf und unspezifische Symptome. Das macht die Diagnose eines echten Testosteronmangels und die Vorhersage eines Ansprechens auf eine Testosteronersatztherapie oft schwierig.
CLEVELAND CLINIC JOURNAL OF MEDICINE
In einer immer älter werdenden Bevölkerung steigt der Anteil an Männern mit anscheinend typischen Altersmerkmalen wie zum Beispiel Müdigkeit, Depressionen, erektile Dysfunktion, Energie- oder Libidoverlust, welche sich eventuell auf einen Testosteronmangel zurückführen lassen. Der Beweis eines direkten Zusammenhangs zwischen solchen
Merksätze
❖ Ein allgemeiner gesundheitlicher Nutzen und die Sicherheit einer Testosteronersatztherapie (TRT) bei asymptomatischen Patienten sind bis heute nicht belegt.
❖ Eine Behandlung eines Testosteronmangels in Abwesenheit klinischer Symptome wird nicht empfohlen.
❖ Nach Ausschluss anderer Ursachen eines Androgendefizits sollten zur Diagnose morgendliche Serumtestosteronwerte herangezogen und durch wiederholte Messungen bestätigt werden.
❖ Androgendefizienz bei älteren Männern ist assoziiert mit metabolischem Syndrom, Typ-2-Diabetes, Fettleibigkeit, Osteoporose, Niereninsuffizienz, Anämie und vorangegangener Einnahme von Steroiden oder Opiaten.
❖ Die zurzeit begrenzte Datenlage deutet an, dass die TRT nach kurativer Therapie eines Prostatakarzinoms sicher ist. Die Patienten sollten eng überwacht und über die Risiken einer Krebsneubildung oder -progression unter TRT aufgeklärt werden.
Symptomen, die zweifellos die Lebensqualität und die Lebenserwartung stark beeinträchtigen können, und dem sinkenden Androgenspiegel steht allerdings noch aus. Angesichts des unspezifischen Charakters der Symptome werden eine gezielte Diagnose und eine erfolgreiche Therapie eines klinisch bedeutsamen Testosterondefizits zur Herausforderung für den behandelnden Arzt. Das findet seinen Niederschlag auch in dem nach wie vor bestehenden Bedarf an einer standardisierten Nomenklatur des Erscheinungsbilds: Begriffe wie «männliche Menopause» oder «Andropause», aber auch eher wissenschaftlich klingende englischsprachige Termini wie «late-onset hypergonadism» oder «testosterone deficiency syndrome» sind mehr oder weniger irreführend oder ungenau. Am ehesten geeignet erscheint noch die Bezeichnung «androgen deficiency in the aging male» (ADAM), da sie auf eine bestimmte Altersgruppe (> 40 Jahre) und einen messbaren Laborparameter und nicht auf die Symptomatik abzielt.
Prävalenz Ab der Mitte der 5. Lebensdekade nehmen bei Männern die Serumtestosteronkonzentrationen zunächst allmählich (ca. 1–2% jährlich) und ab dem 60. Altersjahr rapide ab. Eine Studie zur Prävalenz eines Androgendefizits, definiert als Vorliegen von mindestens drei Anzeichen oder Symptomen und gleichzeitig gemessenen Gesamttestosteronwerten unterhalb von 200 ng/dl oder aber zwischen 200 und 400 ng/dl, bei dann jedoch weniger als 8,91 ng/dl freien Testosterons, ergab bei erster Messung eine Gesamthäufigkeit von 6 Prozent, welche sich bei wiederholter Messung verdoppelte.
Klinische Erscheinungsformen und Diagnostik Entscheidend für eine biochemische Diagnose ist die akkurate Messung der Testosteronspiegel. Da die Testosteronsekretion einen diurnalen Verlauf mit Spitzenwerten in den frühen Morgenstunden und zum Teil auch von Woche zu Woche erhebliche Schwankungen zeigt, ist es notwendig, frühmorgens Blutproben zu nehmen und die Messung einige Tage später mindestens einmal zu wiederholen und dabei auch die Konzentration an luteinisierendem Hormon (LH) mitzuerfassen. Fragebogentests haben sich für ein Screening auf Androgendefizienz bisher nicht als praktikabel erwiesen. Im Blutkreislauf bindet Testosteron an das sexualhormonbindende Globulin (SHBG) und gilt in dieser gebundenen Form im Allgemeinen als inaktiv. Biologisch verfügbares Testosteron ist aktiv und liegt entweder frei oder an Albumin gebunden vor. Kein Konsens besteht darüber, in welchem
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Tabelle:
Mit Testosteronmangel assoziierte Anzeichen und Symptome
Somatisch ❖ Gynäkomastie ❖ verminderte Körperbehaarung ❖ Hitzewallungen ❖ geringe Muskelmasse ❖ verminderte Kraft ❖ Anämie ❖ Schwäche ❖ Osteoporose ❖ rasche Ermüdbarkeit ❖ Schlafstörungen ❖ vermehrtes Körperfett bzw. erhöhter Body-Mass-Index
Psychisch ❖ depressive Verstimmung ❖ Reizbarkeit ❖ emotionale Labilität ❖ verminderte Kognition und Merkfähigkeit ❖ verminderter Antrieb
Sexuell ❖ verminderte Libido ❖ erektile Dysfunktion ❖ verringerte nächtliche oder morgendliche Erektionen ❖ Orgasmusprobleme ❖ verminderte Leistungsfähigkeit
Konzentrationsbereich sich ein als normal zu bezeichnender Testosteronspiegel bewegen sollte. Die Werte schwanken in der Literatur und je nach Labor zwischen mehr als 280 ng/dl und mehr als 350 ng/dl totalen Testosterons, während in einigen Studien eine untere Grenze bei weniger als 230 ng/dl gezogen wird. Testosteronkonzentrationen zwischen diesen oberen Werten und dem unteren Wert bewegen sich demnach in einem Grenzbereich, der bei gleichzeitigem Auftreten klinischer Symptome eines Testosteronmangelsyndroms beziehungsweise eines ADAM als abnormal anzusehen ist. Bei totalen Testosteronkonzentrationen im Grenzbereich sollten Messungen des biologisch verfügbaren Testosterons in Erwägung gezogen werden, wobei es hier methodenbedingt (Immunoassay, Massenspektroskopie) zu mehr oder weniger stark ausgeprägter Variabilität kommt, insbesondere bei Männern mit niedrigem totalen Testosteron. Goldstandard zur Messung, jedoch aufwendig und in lokalen Labors meist nicht verfügbar, sind zentrifugale Ultrafiltration und Gleichgewichtsdialyse. Aber auch die Berechnung des freien Testosterons aus totalem Testosteron und SHBG liefert für die klinische Praxis ausreichend genaue Werte. Allerdings ist die diagnostische Aussagekraft dieses Parameters aufgrund unterschiedlicher Messverfahren und Grenzwerte begrenzt. Konzentrationen oberhalb 65 pg/ml gelten im Allgemeinen als normal.
Vor Beginn einer Testosteronersatztherapie (testosterone replacement therapy, TRT) sollten Hämoglobin und prostataspezifisches Antigen (PSA) gemessen werden. Daneben sind Untersuchungen hinsichtlich Virilisierung beziehungsweise Gynäkomastie sowie der Genitalien (Grösse, Position, Hodenvolumen) und der Prostata (genital-rektale Untersuchung bei Patienten über 39 Jahre) Bestandteile einer vollständigen körperlichen Inaugenscheinnahme. Zusätzlich sollte auch nach Verletzungen, Erkrankungen oder medizinischen Interventionen (Unterleibs- oder Hypophysenoperationen, Infertilität, Leber-/Nierenversagen, Chemotherapie) gefragt werden, welche als Ursache für eine beeinträchtigte Testosteronproduktion infrage kommen könnten. Niedrige Testosteronwerte sind nur dann behandlungsbedürftig, wenn klinisch signifikante Symptome auftreten, die wahrscheinlich durch den Mangel selbst bedingt sind (Tabelle). Zu den gut therapierbaren Erscheinungen eines altersbedingten Testosteronmangels zählen mangelnde Libido, Energieverlust, depressive Verstimmungen, geringe Muskelmasse, Osteoporose und Hitzewallungen sowie zum Teil auch erektile Dysfunktion.
Testosteronmangel Assoziierte Komorbiditäten: Testosteronmangel geht häufig mit Begleiterscheinungen wie metabolisches Syndrom, Depression, Typ-2-Diabetes, Herz-Kreislauf-Krankheiten, Osteoporose einher und wird ausserdem mit kognitiven Beeinträchtigungen, Hypertonie, Hyperlipidämie, verminderter körperlicher Leistungsfähigkeit und terminaler Nierenerkrankung in Verbindung gebracht. Die Studien, die Hinweise auf solche Assoziationen lieferten, schlossen allerdings auch Patienten im Alter unter 40 Jahren ein, und die Daten sind somit eventuell nicht ohne Weiteres auf die ADAM-Population übertragbar. Dennoch kommen beim Management eines Hypogonadismus auch Lebensstiländerungen eine wichtige Rolle zu. Sterblichkeit: Ein Testosteronmangel ist negativ mit der allgemeinen Sterblichkeit assoziiert. In einer retrospektiven Studie an über 40-jährigen Männern betrug das Risiko für Tod jedweder Ursache bei Männern mit normalen Testosteronwerten (> 250 ng/dl bzw. freies Testosteron > 0,75 ng/dl) 20 Prozent, bei Männern mit niedrigen Tetosteronwerten (< 250 ng/dl/< 0,75 ng/dl) dagegen 35 Prozent. Zudem scheint Testosteronmangel auch mit der krankheitsspezifischen Mortalität, etwa bei terminaler Niereninsuffizienz, HerzKreislauf-Erkrankungen oder Krebs, zu korrelieren.
Testosteronersatztherapie Die Indikationen, der Nutzen und die Risiken einer TRT sind Gegenstand kontroverser Diskussionen, auch weil es an ausreichend Daten zum Langzeit-Follow-up sowie an konsistenten Zielwerten mangelt. Indikationen: Derzeit ist eine TRT in Abwesenheit klinischer Symptome nicht indiziert. Behandelt werden sollten gemäss aktuellen Leitlinien jedoch symptomatische Patienten mit niedrigen oder grenzwertigen Spiegeln totalen oder freien Testosterons (< 350 ng/dl bzw. < 65 pg/ml). Männer mit Testosteronwerten im Grenzbereich (totales Testosteron 200–350 ng/dl, freies T. 40–65 pg/ml) und möglicherweise damit verbundenen Symptomen sollten mindestens für drei
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Monate behandelt und anschliessend reevaluiert werden. Auf welchem Level die Testosteronwerte dauerhaft eingestellt werden sollten, ist nicht abschliessend definiert; momentan werden Serumkonzentrationen empfohlen, die denen junger erwachsener Männer entsprechen oder nahekommen. Im Vordergrund bei allfälliger Justierung der TRT sollte immer die klinische Wirkung stehen; Behandlungsziel ist die Beseitigung von Anzeichen und Symptomen des Hormonmangels inklusive einer Verbesserung der sexuellen Funktion und der Libido sowie des Erhalts der Knochendichte. Kontraindikationen: Eine TRT sollte bei Männern nicht durchgeführt werden, auf die folgende Umstände zutreffen: ❖ Brustkrebs ❖ Polyzythämie (Hämatokrit > 50%) ❖ unbehandelte obstruktive Schlafapnoe ❖ LUTS (lower urinary tract symptoms), durch vergrösserte
Prostata (IPSS, International Prostate Symptom Score > 19) ❖ unkontrollierte Herzinsuffizienz ❖ Fertilitätswunsch.
Darreichungsformen und Behandlungsoptionen: Es steht eine Vielzahl effektiver Formulierungen für die TRT zur Verfügung; am gebräuchlichsten sind die transdermale und die perenterale Darreichungsform. Die bukkale Applikation führt häufig zu gingivalen Irritationen und hat sich nicht durchgesetzt. Die perenterale TRT kann intramuskulär (i.m.) oder subkutan verabreicht werden. In der Schweiz kommt für die i.m.-Gabe entweder das kurz wirksame Testosteron enantat (Testoviron®), das etwa alle 3 Wochen gegeben wird, oder das lang wirksame Testosteron undecanoat (Nebido®, alle 12 Wochen) infrage. Die subkutane Darreichungsform (Testopel®) ist hierzulande dagegen nicht erhältlich. Zur transdermalen Gabe sind Testosterongels erhältlich (Testogel®, Tostran®). Aufgrund der möglichen Übertragung auf Frauen und Kinder wird empfohlen, nach Kontakt mit dem Gel die Hände gründlich zu waschen und die behandelten Hautpartien zu bedecken. Die orale Formulierung von Testosteron undecanoat (Andriol®) steht unter Verdacht, leberschädigend zu sein und ist in den USA nicht zugelassen. Patientenmonitoring: Patienten unter TRT sind hinsichtlich Therapieerfolgs und Nebenwirkungen klinisch und biochemisch (Testosteron, PSA, Hämatokrit; zunächst 6–12 Wochen nach Beginn der TRT, im 1. Jahr vierteljährlich, im 2. Jahr halbjährlich und danach jährlich) zu überwachen. Bei Männern unter täglicher (transkutaner) Therapie sollte die Messung der Testosteronkonzentration etwa zwei Stunden nach Anwendung erfolgen. Falls die klinischen Symptome sich unter Therapie nicht bessern, ist es erforderlich, einen tatsächlichen Anstieg der Testosteronspiegel zu dokumentieren. Ein Anstieg des PSA um bis zu 24 Prozent gilt noch als akzeptabel; bei einer stärkeren Zunahme sollte eine Prostatabiopsie in Erwägung gezogen werden. Auch die Hämatokritund Hämoglobinwerte steigen typischerweise unter TRT an; bei Hämatokritkonzentrationen über 55 Prozent sollte allerdings die Therapie abgebrochen oder zumindest die Dosis reduziert werden. Die Knochendichte ist alle ein bis zwei Jahre zu überprüfen. Klinischer Nutzen: Es existieren vielverspechende Daten, dass eine TRT bei Patienten mit metabolischem Syndrom oder Diabetes mellitus Typ 2 von Nutzen sein kann. Auch
depressive Symptome bei hypogonadalen Männern liessen
sich durch Testosterongabe positiv beeinflussen. Die Evidenz
hinsichtlich einer Verbesserung der sexuellen Funktion durch
TRT ist dagegen nicht eindeutig. Aufgrund des multifak-
toriellen Charakters einer erektilen Dysfunktion könnte die
alleinige TRT bei Männern mit ADAM und Erektionspro-
blemen nicht ausreichen. Hier ist eventuell die zusätzliche
Gabe eines Phosphodiesterase-Typ-5-(PDE5-)Inhibitors in
Erwägung zu ziehen. PDE-5-Hemmer und Testosteron
scheinen laut Studien einen synergistischen Effekt bei der
Behandlung einer erektilen Dysfunktion auszuüben.
Nebenwirkungen: Trotz des erwähnten Nutzens muss betont
werden, dass die TRT nur bei spezifischen, mit einem
Hypogonadismus bei älteren Männern in Bezug stehenden
Symptomen zum Einsatz kommen sollte. Nutzen und Sicher-
heit der TRT bei asymptomatischen Männern mit Testo-
sterondefizit sind bis anhin nicht belegt. Nebenwirkungen
der Therapie sind häufig kardiovaskuläre Ereignisse und
seltener Erythrozytose, Gynäkomastie, Reizbarkeit, Akne,
Flüssigkeitsretention, Hodenatrophie sowie eine Verschlech-
terung von LUTS aufgrund einer Prostatavergrösserung.
Krebsrisiko: Eine Korrelation zwischen Prostatakrebs und
Testosteron ist unstrittig. Daher stand die TRT lange unter
Verdacht, das Risiko einer Neubildung oder der Progression
eines bestehenden Prostatakarzinoms zu erhöhen. Trotz
jüngster gegenteiliger Studienbefunde sollte bei androgende-
fizienten Männern unter TRT ein sorgfältiges Prostatakarzi-
nom-Screening und bei hypogonadalen Männern mit Prosta-
takrebs die TRT nur in Verbindung mit intensiver Beratung
und unter kontinuierlichem Monitoring erfolgen.
❖
Ralf Behrens
McGill JJ et al.: Androgen deficiency in older men: indications, advantages, and pitfalls of testosterone replacement therapy. Cleveland Clinic Journal of Medicine 2012; 79: 797–806.
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