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FORTBILDUNG
Progrediente Multiple Sklerose: Aktuelle und zukünftige Behandlungsoptionen
Bislang sind die Möglichkeiten der verlaufsmodifizierenden Therapie bei progredienter Multipler Sklerose im Vergleich zur schubförmigen MS deutlich eingeschränkt. Grund dafür ist wahrscheinlich die andere Pathophysiologie in Form der Neurodegeneration (2, 3). Der Beitrag fasst die wichtigsten Daten bezüglich der Therapie der progredienten MS zusammen. Nach einem kurzen Überblick über die negativen Studien mit Immunmodulatoren werden die aktuell für die primär- und sekundär progrediente MS zugelassenen Präparate und die derzeit in Entwicklung befindlichen Substanzen mit möglicher «neuroprotektiver» Wirkung vorgestellt. Die rein symptomatische Therapie sowie Stammzelltherapien werden nicht diskutiert.
Cornelius Kronlage Athina Papadopoulou
von Cornelius Kronlage* und Athina Papadopoulou*
Progrediente Multiple Sklerose
D ie Multiple Sklerose (MS) ist pathophysiologisch nicht nur durch Entzündung, sondern auch durch Neurodegeneration im zentralen Nervensystem (ZNS) charakterisiert (1–3). Letzteres spielt wahrscheinlich eine entscheidende Rolle für die Entwicklung der «Progression» (2, 3). Dabei handelt es sich um eine irreversible, klinisch neurologische Verschlechterung, welche unabhängig von Schüben auftritt (4). Diesbezüglich kann zwischen einer primären (primär progredienten MS, PPMS) und sekundären Progression (sekundär progredienten MS, SPMS) unterschieden werden (5). Zirka 50 Prozent der Patienten mit schubförmiger MS (relapsing-remitting MS, RRMS) ohne Basistherapie konvertieren innerhalb von 10 bis 15 Jahren nach Erkrankungsbeginn zur SPMS (6). Leider sind die Möglichkeiten der verlaufsmodifizierenden Therapie bei progredienter MS im Vergleich zur RRMS deutlich eingeschränkt. Grund dafür ist wahrscheinlich die andere Pathophysiologie in Form der Neurodegeneration (2, 3), gegen welche bisher keine wirksamen «neuroprotektiven» Substanzen verfügbar sind. Darüber hinaus ist die progrediente MS durch eine Kompartimentalisierung der entzündlichen Prozesse im zentralen Nervensystem bei intakter BlutHirn-Schranke charakterisiert (3, 7, 8). Mehrere Studien mit immunmodulierenden Präparaten, die bei RRMS wirksam sind, fielen bei progredienter MS somit negativ aus.
Negative Studien Eine Reihe immunmodulatorisch wirksamer Medikamente, die bei RRMS etabliert sind, wurden auch bei progredienter MS untersucht (Kasten 1 online abrufbar unter QR-Code am Ende des Beitrags).
* Neurologische Klinik und Poliklinik, Universitätsspital Basel
Eine kontrollierte Studie mit Glatirameracetat (Copaxone®) bei 943 PPMS-Patienten musste nach einer Zwischenanalyse wegen eines fehlenden Behandlungseffekts frühzeitig gestoppt werden (9). Ähnlich konnte für Fingolimod (Gilenya®) in der INFORMS-Studie, in der 970 Patienten mit PPMS für 3 bis 5 Jahre behandelt wurden, keine Wirksamkeit hinsichtlich der Behinderungsprogression nachgewiesen werden (10). Auch wenn in explorativen Subgruppenanalysen nur Patienten mit kontrastmittelaufnehmenden Läsionen berücksichtigt wurden, war kein Effekt feststellbar. Die ASCEND-Studie untersuchte die Wirksamkeit von Natalizumab (Tysabri®) an insgesamt 889 Patienten mit SPMS (11). Es konnte kein statistisch signifikanter Unterschied gegenüber Plazebo in der klinischen Behinderungsprogression nachgewiesen werden, wie anhand eines kombinierten Endpunkts aus dem Expanded Disability Status Scale (EDSS), dem Timed 25-Foot Walk (T25FW) und dem 9-Hole-Peg-Test (9HPT) definiert. Explorative Analysen deuten auf eine Reduktion der Schubrate unter Natalizumab hin. Cladribin (Mavenclad®) wurde nach ermutigenden Daten aus einer monozentrischen, kontrollierten Studie mit 51 Patienten (12, 13) in einer multizentrischen Studie mit 159 progredienten Patienten (70% davon SPMS) mit Plazebo verglichen (14). Es fand sich kein signifikanter Unterschied bezüglich des primären Endpunkts, der Änderung des EDSS über ein Jahr. Schliesslich konnte auch das orale Laquinimod trotz initialer Hinweise für einen möglichen neuroprotektiven Effekt bei RRMS (15, 16) in einer kontrollierten Phase-2Studie keine Wirksamkeit hinsichtlich der Hirnatrophie oder der Behinderungsprogression bei PPMS nachweisen (17, 18). Auch für zahlreiche andere immunmodulierende bzw. -suppressive Substanzen, die bei RRMS nicht routinemässig zum Einsatz kommen (u. a. Methotrexat, Cyclophosphamid, intravenöse Immunglobuline [IVIG], Langzeitkortikosteroide und Azathioprin), liess sich zusammenfassend keine Wirksamkeit bei progredienter MS nachweisen (19).
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Zugelassene Therapieoptionen bei progredienter MS Derzeit sind weltweit insgesamt nur vier Substanzen für Patienten mit progredienter MS zugelassen: Interferon beta-1b, Mitoxantron, Ocrelizumab und Siponimod (Letzteres aktuell in der USA und der Europäischen Union [EU]), bei noch laufendem Zulassungsprozess in der Schweiz) (Kasten 2).
Interferon beta-1b für SPMS Interferon beta-1b (Betaferon®, 8 Mio. IE s.c. alle 2 Tage) ist ein immunmodulierendes Medikament, welches nicht nur für RRMS, sondern auch für SPMS zugelassen ist. Die Zulassung basierte auf den positiven Resultaten einer europäischen multizentrischen, plazebokontrollierten Studie mit insgesamt 718 Patienten (20, 21). Hier konnte nach mindestens 2 Jahren Behandlung ein statistisch signifikanter Therapieeffekt hinsichtlich Behinderungsprogression nachgewiesen werden. In einer zweiten grossen Untersuchung in Nordamerika mit 939 Teilnehmern hingegen war kein solcher Unterschied nachweisbar, wohl aber ein Effekt auf die klinische Schubrate und kernspintomografische Surrogate der Krankheitsaktivität (22). Eine retrospektive gepoolte Analyse beider Studien zeigte einen signifikanten Effekt (Hazard Ratio: 0,79; 95%-KI: 0,66–0,93; p = 0,008), der vor allem durch die Ergebnisse der europäischen Studie bedingt war (23); in Subgruppenanalysen fand sich über beide Studien ein Therapieeffekt insbesondere für Patienten mit ausgeprägter Behinderungsprogression vor Studienbeginn oder mit Schüben. Eine CochraneMetaanalyse, die ausserdem drei randomisierte, kontrollierte Studien mit Interferon beta-1a bei SPMS berücksichtigte, fand keinen Effekt von Interferonen auf die klinische Krankheitsprogression bei SPMS (24). Auch bei PPMS war bisher kein Therapieeffekt von Interferon beta-1a oder -1b nachweisbar (25). In der Schweiz ist Interferon beta-1b für die Behandlung der SPMS generell, in der EU für die Behandlung der SPMS mit durch Schübe ausgewiesener Krankheitsaktivität zugelassen. Obwohl das Medikament ein günstiges längerfristiges Sicherheitsprofil zeigt, ist unter Berücksichtigung der oben erwähnten Studienlage a. e. von einem eher geringen Effekt auf die Behinderungsprogression auszugehen.
Mitoxantron für SPMS Mitoxantron (Novantron®) ist ein Zytostatikum, das auch zur Therapie bestimmter Malignome (v. a. Leukämien und Lymphome) zugelassen ist. Durch eine Suppression von aktivierten B- und T-Lymphozyten hat es eine immunmodulierende Wirkung (26). Einzelfälle und Beobachtungsstudien mit Mitoxantron bei MS, auch SPMS, ergaben ermutigende Resultate, was zur Durchführung einer randomisierten, plazebokontrollierten Studie führte (27). In diese Studie wurden insgesamt 194 relativ junge Patienten sowohl mit RRMS und Behinderungsprogression zwischen Schüben als auch mit SPMS und teilweise überlagerten Schüben eingeschlossen (Kasten 2). Nach 2 Jahren zeigte sich ein signifikanter Unterschied zwischen den mit hoch dosiertem Mitoxantron und den mit Plazebo behandelten Patienten bezüglich Anzahl der Schübe und klinischer Behinderung, gemessen mittels EDSS sowie «Ambulation-Index» (27). Diese
Resultate führten zur Zulassung für die Therapie der SPMS. In der Schweiz ist Mitoxantron beschränkt auf gehfähige Patienten mit rasch progredientem Verlauf (RRMS sowie SPMS mit und ohne überlagerte Schübe) und Versagen oder Unverträglichkeit anderer Immunmodulatoren. Die kurz- (u. a. Übelkeit, Alopezie, Infektionen) und längerfristigen Nebenwirkungen (u. a. dosisabhängige Kardiotoxizität, Amenorrhö, therapieassoziierte Leukämie) sind limitierend (28). Echokardiografiekontrollen vor jeder Applikation sind erforderlich, und eine kumulative Dosis von 140 mg/m2 KO sollte nicht überschritten werden. Darüber hinaus ist zu beachten, dass die Effekte von Mitoxantron in der oben genannten Zulassungsstudie möglicherweise durch die immunmodulierende Wirkung bei Patienten mit wesentlicher entzündlich schubförmiger Krankheitsaktivität zu erklären sind. Tatsächlich lag die durchschnittliche Anzahl von Schüben innerhalb eines Jahres vor Studienbeginn bei zirka 1,3, was darauf hindeutet, dass es sich um relativ aktive SPMS-Patienten handelte. Diesbezüglich zeigte eine Subgruppenanalyse nur der Patienten ohne Schübe (46 Patienten, 26%) auch einen Trend zugunsten Mitoxantron (mittlere Veränderung des EDSS 0,1 ± 0,7 vs. 0,7 ± 0,9 unter Plazebo) (27). Diese Resultate sollten jedoch aufgrund der geringen Fallzahl und des retrospektiven, explorativen Charakters dieser Analyse vorsichtig interpretiert werden. Zuletzt konnte bisher keine Wirksamkeit von Mitoxantron bei PPMS (29) und kein Effekt der Substanz auf die Hirnatrophie nachgewiesen werden (30).
Ocrelizumab für PPMS Ocrelizumab (Ocrevus®) ist ein humanisierter monoklonaler Antikörper, der an CD20-positive B-Zellen bindet. Diese Zellen spielen eine zentrale Rolle in der Pathogenese der MS (31), sodass Immunmodulation durch B-Zell-Depletion einen Angriffspunkt für die verlaufsmodifizierende Therapie darstellt (32). Ocrelizumab zeigte in zwei grossen internationalen, kontrollierten Phase-3Studien eine deutliche Reduktion der klinischen Schübe und aktiven MRT-Läsionen gegenüber s.c. Interferon beta-1a bei Patienten mit RRMS (33). Mit Ocrelizumab behandelte Patienten hatten auch ein signifikant geringeres Risiko für eine nach 3 und 6 Monaten bestätigte Behinderungsprogression im Vergleich zur Interferongruppe (33). Darüber hinaus gab es bereits Hinweise auf eine Wirksamkeit des ebenfalls CD20-gerichteten monoklonalen Antikörpers Rituximab (Mabthera®) bei Patienten mit progredienter MS: Explorative Subgruppenanalysen der plazebokontrollierten OLYMPUS-Studie zeigten einen Effekt von Rituximab auf die Behinderungsprogression bei PPMS bei Patienten jünger als 51 Jahre und/oder mit kontrastmittelaufnehmenden Läsionen bei Baseline (34). Bei SPMS wurde in einer retrospektiven Untersuchung eine geringere und verzögerte Behinderungsprogression bei mit Rituximab behandelten Patienten (n = 54) beschrieben, das im Vergleich zu Patienten (n = 59), die nie damit behandelt worden waren (8). In Übereinstimmung mit diesen ermutigenden Daten konnte Ocrelizumab in einer kontrollierten Phase-3-Studie (ORATORIO) (35) eine verlaufsmodifizierende Wirkung bei PPMS nachweisen (Kasten 2). Ocrelizumab reduzierte das Risiko für eine nach 3 und 6 Monaten be-
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Kasten 2: Positive Zulassungsstudien bei progredienter MS
Name der Studie Studiendesign Population
Anzahl Patienten (Plazebo: Verum) Baseline Charakteristika der Patienten
Studiendauer Primärer Endpunkt
Hauptergebnis
Relevante Ergebnisse der sekundären Endpunkte
Interferon beta-1b (8 Mio. IE s.c. alle 2 Tage)
European multicenter trial on IFNbta-1b in SPMS (20, 21) Phase 3, multizentrisch, doppelblind, randomisiert SPMS
358: 360
Mitoxantron (12 mg/m2 Körperoberfläche i.v. alle 3 Monate) MIMS (27)
Ocrelizumab (600 mg i.v.) alle 6 Monate
ORATORIO (35)
Phase 3, multizentrisch,
Phase 3, multizentrisch,
doppelblind, randomisiert
doppelblind, randomisiert
«worsening» RRMS (mit
PPMS
Behinderungsprogression
zwischen Schüben) und SPMS
(94/188 = 50% der in die Analyse
eingeschlossenen Patienten)
64: 60 (MTX 12 mg)*
244:488
Siponimod (2 mg/Tag p.o.) EXPAND (41) Phase 3, multizentrisch, doppelblind, randomisiert SPMS
546:1105
Mittleres Alter 41 Jahre (SD ca. 7,2 Jahre), mittlere Krankheitsdauer 13,1 Jahre (SD 7 Jahre), mittlerer EDSS 5,2 (SD 1,1)
3 Jahre Anteil der Patienten mit nach 3 Monaten bestätigter Behinderungsprogression anhand EDSS
Interferon 39% vs. Plazebo 50% (OR 0,65; p = 0,0008)
Therapieeffekt auch hinsichtlich Gesamtvolumen der T2-hyperintensen MRT-Läsionen
Mittleres Alter 33 Jahre (SD ca. 8 Jahre), mittlere Krankheitsdauer 10 Jahre (SD 7 Jahre), mittlerer EDSS 4,6 (SD 1)
2 Jahre Multivariate Analyse von 5 klinischen Outcomes inkl. Veränderung von EDSS und «Ambulation index» nach 2 Jahren** Differenz 0,30 (p < 0,0001) in der multivariaten Analyse, in univariaten Analysen Differenz in der Änderung des EDSS 0,24 (p = 0,0194) und des «ambulation index» 0,21 (p = 0,0306)*** Therapieeffekt auch hinsichtlich Anzahl der T2-hyperintensen MRT-Läsionen in einer untersuchten Subgruppe
Mittleres Alter 44,6 Jahre (von 18 bis 56), mittlere Krankheitsdauer 6,4 Jahre, medianer EDSS 4,5 (von 2,5 bis 7)
ca. 3 Jahre**** Anteil der Patienten mit nach 3 Monaten bestätigter Behinderungsprogression anhand EDSS
Ocrelizumab 32,9% vs. Plazebo 39,3% (HR 0,76; p = 0,03)
Anteil der Patienten mit nach 6 Monaten bestätigter Behinderungsprogression: Ocrelizumab 29,6% vs. Plazebo 35,7% (HR = 0,75; p = 0,04); Therapieeffekt auch hinsichtlich Gesamtvolumen der T2-hyperintensen MRTLäsionen sowie der Hirnatrophierate (–0,009 unter Ocrelizumab vs. –0,011 unter Plazebo; p = 0,02)
Mittleres Alter 48 Jahre (von 21 bis 61), mittlere Krankheitsdauer ca. 17 Jahre (mit mittlerer Zeit seit Beginn der Progression 3,8 Jahre), medianer EDSS 6,0 (von 2 bis 7) ca. 2 Jahre***** Anteil der Patienten mit nach 3 Monaten bestätigter Behinderungsprogression anhand EDSS
Siponimod 26% vs. Plazebo 32% (HR 0,79; p = 0,013)
Anteil der Patienten mit nach 6 Monaten bestätigter Behinderungsprogression: Siponimod 20% vs. Plazebo 26% (HR = 0,74; p = 0,006); Therapieeffekt auch hinsichtlich Gesamtvolumen der T2hyperintensen MRT-Läsionen sowie der Hirnatrophierate (–0,005 unter Siponimod vs. –0,0065 unter Plazebo, p = 0,0002)
* Es gab auch eine dritte explorative Interventionsgruppe mit 64 Patienten, die eine geringere Dosis von MTX 5 mg/m2 Körperoberfläche erhielten. ** Die anderen drei Outcomes des primären Endpunkts waren: Anzahl von mit Steroid behandelten Schüben, Zeit bis zum ersten Schub und Veränderung im «standardisierten neurologischen Status» über 2 Jahre (27). *** Die weiteren klinischen Outcomes in den univariaten Analysen waren: adjustierte Anzahl der behandelten Schübe (0,38; p = 0,0002), Zeit bis zum ersten behandelten Schub (0,44; p = 0,0004), Änderung im «standardneurologischen Status» (0,23; p = 0,0268). **** Die mediane Studiendauer betrug 2,9 Jahre für die Ocrelizumab-Gruppe und 2,8 Jahre für die Plazebogruppe. ***** Die mediane Studiendauer betrug 21 Monate (von 0,2 bis 37).
Abkürzungen: HR = Hazard Ratio, KI = Konfidenzintervall, EDSS = Expanded Disability Status Scale, KG = Körpergewicht, KM = Kontrastmittel, MRT = Magnetresonanztomografie, MTX = Mitoxantron, OR = Odds Ratio, p.o. = peroral, PPMS = primär progrediente Multiple Sklerose , s.c. = subkutan, SD = Standardabweichung, SPMS = sekundär progrediente Multiple Sklerose , 9HPT = 9-Hole-Peg-Test, T25FW = Timed 25-Foot Walk
stätigte Behinderungsprogression gegenüber Plazebo um 24 bzw. 25 Prozent (35). Ebenso führte es zu einem geringeren Gesamtvolumen T2-hyperintenser MRT-Läsionen sowie zu einer geringeren Abnahme des Hirn-
volumens. Klinisch zeigte sich zudem ein positiver Effekt auf die Gehfähigkeit (geringeres Risiko für Verschlechterung im T25FW) (35) und die Funktion der oberen Extremitäten (geringeres Risiko für Verschlechterung im
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9HPT) (36). Anhand dieser Resultate wurde Ocrelizumab in den USA, in der EU und der Schweiz für die Therapie der PPMS zugelassen. In Ermangelung therapeutischer Alternativen sieht die schweizerische Fachinformation – ähnlich der amerikanischen und im Gegensatz zur europäischen – für Ocelizumab keine Einschränkungen vor hinsichtlich Krankheitsdauer, Behinderungsgrad oder bildgebender Aktivität. Impliziert wird jedoch eine erhaltene Gehfähigkeit, welche aber nicht genau definiert wird (z. B. bezüglich Hilfsmittel) (37). Die Verträglichkeit von Ocrelizumab ist gut, schwere infusionsbedingte Reaktionen sind selten (2,5%). In den Phase-3-Studien (33, 35) wurde ein leicht erhöhtes Risiko für Infektionen (insbesondere der Atemwege sowie Herpesinfektionen) und Neoplasien beobachtet (z. B. in der ORATORIO-Studie: 2,3% vs. 0,8% unter Plazebo, darunter Mammakarzinom am häufigsten) (35). Diesbezüglich ist im Rahmen der Ocrelizumabtherapie auf regelmässige Tumorvorsorge im Rahmen der etablierten Programme zu achten. Darüber hinaus sollten mindestens 6 Wochen vor Therapiebeginn wichtige Schutzimpfungen aufgefrischt werden, da von einer reduzierten Impfantwort unter B-Zell-Depletion auszugehen ist (38).
Sipominod für SPMS Siponimod ist ein oraler Sphingosin-1-Phosphatrezeptor-Modulator, eine Weiterentwicklung des für RRMS bereits zugelassenen Fingolimod (Gilenya®), welches selektiver an die Rezeptorsubtypen 1 und 5 (S1P1 und S1P5) bindet (39). Im Vergleich zu Fingolimod hat es eine deutlich kürzere Halbwertszeit und wird innerhalb von 7 Tagen nach Beendigung der Therapie vom Körper eliminiert (40). Obwohl Fingolimod keine Wirkung bei PPMS zeigte (Kasten 1), führte Siponimod in der EXPAND-Studie (Kasten 2) bei SPMS (41) zu einer signifikanten Reduktion des Risikos für eine nach 3 und 6 Monaten bestätigte Behinderungsprogression (21% bzw. 26% gegenüber Plazebo) (41). Dieser Effekt war unabhängig von Schüben (42). Darüber hinaus zeigten mit Siponimod behandelte Patienten weniger entzündliche Aktivität im MRT sowie einen geringeren Verlust von Hirnvolumen gegenüber Plazebo (0,5% vs. 0,65%, Kasten 2). In einer separaten Analyse ergaben sich zudem Hinweise für einen positiven Einfluss auf die kognitiven Funktionen (43). Ein Effekt der Substanz auf die Gehgeschwindigkeit, gemessen mit dem T25FW-Test, konnte allerdings nicht nachgewiesen werden (41).
Merkpunkte:
● Die Multiple Sklerose (MS) ist pathophysiologisch durch Entzündung und Neurodegeneration im zentralen Nervensystem charakterisiert. Letzteres spielt wohl eine entscheidende Rolle für die Entwicklung der «Progression».
● Derzeit sind weltweit insgesamt nur vier Substanzen für Patienten mit progredienter MS zugelassen.
● In den letzten drei Jahren wurden in Form der Zulassungen von Ocrelizumab für PPMS und Siponimod für SPMS deutliche Fortschritte erreicht.
● Andere Substanzen mit möglicher «neuroprotektiver» Wirkung werden derzeit untersucht.
Interessanterweise entsprachen die in der EXPAND eingeschlossenen Patienten einer relativ typischen SPMSPopulation: Die meisten (64%) hatten keine Schübe in den letzten 2 Jahren und keine kontrastmittelaufnehmenden Läsionen bei Baseline (ca. 80%). Darüber hinaus war die Mehrheit der Patienten zum Zeitpunkt des Studienbeginns auf eine Gehhilfe angewiesen (> 55% mit Baseline-EDSS ≥ 6). Dennoch ergaben Subgruppenanalysen Hinweise für eine höhere Wirksamkeit von Siponimod bei Patienten mit Schüben und/oder rascher Behinderungsprogression in den letzten 2 Jahren, sodass die Zulassung in den USA – und seit Januar 2020 auch in der EU – auf Patienten mit «aktiver SPMS» eingeschränkt ist (Mayzent®) (44, 45). Siponimod war in der EXPAND-Studie insgesamt gut verträglich, das Sicherheitsprofil scheint ähnlich demjenigen von Fingolimod zu sein (41).
Substanzen in der Entwicklung Eine Reihe von Substanzen mit – aufgrund experimenteller Daten – erhoffter «neuroprotektiver» Wirkung wurden oder werden aktuell bei progredienter MS untersucht (46). Die relevanten Studiendaten dazu werden in Kasten 3 (online abrufbar unter QR-Code am Ende des Beitrags) zusammengefasst.
Fazit
Nach vielen negativen Studien mit immunmodulieren-
den Substanzen bei progredienter MS wurden in den
letzten 3 Jahren in Form der Zulassungen von Ocrelizu-
mab für PPMS und Siponimod für SPMS deutliche Fort-
schritte erreicht. Die neuen Medikamente sind wirksam
zur Verzögerung der Behinderungsprogression. Nächste
Erweiterungen des Therapiespektrums in diesem Bereich
in den nächsten Jahren sind gut denkbar. Der Effekt im-
munmodulatorischer Therapien generell könnte jedoch
bei der progredienten MS begrenzt sein. Es werden be-
reits zahlreiche Substanzen mit möglicher «neuroprotek-
tiver» Wirkung evaluiert. Zukünftig sind durch ein
verbessertes Verständnis der genauen pathophysiologi-
schen Mechanismen, welche der Progression zugrunde
liegen, neue Therapieansätze zu erhoffen.
G
Korrespondenzadresse:
Dr. med. Athina Papadopoulou
Oberärztin Neurologische Klinik und Poliklinik
Petersgraben 4
4031 Basel
E-Mail: athina.papadopoulou@usb.ch
Interessenkonflikte:
Dr. Athina Papadopoulou erhielt finanzielle Zuwendungen von SanofiGenzyme (Sprecherin), Bayer (Reiseunterstützung), Teva (Reiseunterstützung), Hoffmann-La Roche (Reiseunterstützung), Förderung durch die Universität Basel, die Schweizerische Multiple Sklerose Gesellschaft, dem Schweizer Nationalfonds, der Stiftung zur Förderung der gastroenterologischen und allgemeinen klinischen Forschung sowie der medizinischen Bildauswertung (ausserhalb der eingereichten Arbeit).
Cornelius Kronlage: keine Interessenkonflikte.
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2/2020
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
41
56. Spain R, Powers K, Murchison C et al.: Lipoic acid in secondary progressive MS: A randomized controlled pilot trial. Neurol Neuroimmunol Neuroinflamm. 2017; 4: e374.
57. Simvastatin in Secondary Progressive Multiple Sclerosis – Full Text View – ClinicalTrials.gov [online]. Accessed at: https: //clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT03896217. Accessed March 11, 2020.
58. Chataway J, Schuerer N, Alsanousi A et al.: Effect of high-dose simvastatin on brain atrophy and disability in secondary progressive multiple sclerosis (MS-STAT): a randomised, placebo-controlled, phase 2 trial. Lancet. 2014; 383: 2213–2221.
59. Intrathecal Rituximab in Progressive Multiple Sclerosis – Full Text View – ClinicalTrials.gov [online]. Accessed at: https: //clinicaltrials. gov/ct2/show/NCT02545959. Accessed March 11, 2020.
60. A Single Ascending Dose Study of GZ402668 in Patients With Progressive Multiple Sclerosis - Full Text View - ClinicalTrials.gov [online]. Accessed at: https: //clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT02977533. Accessed March 11, 2020.
61. Efficacy and Safety of Masitinib in the Treatment of Progressive Multiple Sclerosis – Full Text View – ClinicalTrials.gov [online]. Accessed at: https: //clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT01433497. Accessed March 11, 2020.
62. Hydroxychloroquine in Primary Progressive Multiple Sclerosis – Full Text View – ClinicalTrials.gov [online]. Accessed at: https: //clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT02913157. Accessed March 11, 2020.
63. Zhornitsky S, Johnson TA, Metz LM, Weiss S, Yong VW: Prolactin in combination with interferon-β reduces disease severity in an animal model of multiple sclerosis. J Neuroinflammation. 2015; 12: 55.
64. Gregg C, Shikar V, Larsen P et al.: White matter plasticity and enhanced remyelination in the maternal CNS. J Neurosci. 2007; 27: 1812– 1823.
FORTBILDUNG
42 2/2020
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
FORTBILDUNG
Kasten 1: Wichtigste negative Studien mit Immunmodulatoren bei progredienter MS
Name der Studie Studiendesign
Population Anzahl Patienten
Studiendauer Primärer Endpunkt
Hauptergebnis Relevante Ergebnisse der sekundären Endpunkte
Glatirameracetat PROMiSe (9) Phase 3, multizentrisch, doppelblind, randomisiert PPMS
Fingolimod INFORMS (10) Phase 3, multizentrisch, doppelblind, randomisiert PPMS
943 (2:1 GA 20 mg/Tag s.c. oder Plazebo)
970 (1:1:1 Fingolimod 1,25 oder 0,5 mg/Tag p.o. oder Plazebo)
3 Jahre
3–5 Jahre
Über 3 Monate
Über 3 Monate
bestätigte Behin-
bestätigte Behin-
derungsprogression derungsprogression
anhand EDSS
(kombiniert anhand
EDSS, T25FW, 9HPT)
Kein signifikanter
Kein signifikanter
Effekt (HR: 0,87;
Effekt (HR: 0,95;
95%-KI: 0,71–1,07)
95%-KI: 0,80–1,12)
Teilweise in explorativen Kein Effekt auf Hirn-
Analysen Effekt auf MRT- volumenminderung,
Parameter (KM-
aber unter Fingolimod
aufnehmende Läsionen neue oder vergrösserte
in Jahr 1, T2-Läsions- T2-Läsionen um 73%
Volumen in Jahr 2 und 3) reduziert, KM-aufneh-
mende Läsionen um
78% reduziert
Natalizumab ASCEND (11) Phase 3, multizentrisch, doppelblind, randomisiert SPMS
889 (1:1 Natalizumab 300 mg i.v. 4-wöchentlich oder Plazebo)
2 Jahre Über 3 Monate bestätigte Behinderungsprogression (kombiniert anhand EDSS, T25FW, 9HPT) Kein signifikanter Effekt (OR: 0,86; 95%-KI: 0,66–1,13) Geringeres Risiko für Verschlechterung in 9HPT (Funktion der oberen Extremitäten)
Cladribin Rice et al., 2000 (14) Phase 3, multizentrisch, doppelblind, randomisiert SPMS (70%) und PPMS (30%) 159 (1:1:1 Cladribin Gesamtdosis 0,7 oder 2,1 mg/kg KG p.o. oder Plazebo) 1 Jahr Änderung im EDSS
Laquinimod ARPEGGIO (17, 18) Phase 2, multizentrisch, doppelblind, randomisiert PPMS
374 (1:1:1 Laquinimod 0,6 mg oder 1,5 mg p.o. oder Plazebo)
1 Jahr Prozentuale Hirnvolumenminderung (MRT)
Kein signifikanter
Kein signifikanter
Effekt
Effekt (Ergebnisse nicht
vollständig publiziert)
In explorativen Analysen Kein Effekt auf klinische
Effekt auf MRT-Parameter Behinderungsprogression,
(Anzahl von Patienten aber Reduktion neu auf-
mit KM-aufnehmenden getretener T2-Läsionen
Läsionen, Volumen
(Ergebnisse nicht
und Anzahl KM-aufneh- vollständig publiziert)
mender Läsionen)
Abkürzungen: KI = Konfidenzintervall, EDSS = Expanded Disability Status Scale, GA = Glatirameracetat, HR = Hazard Ratio, KG = Körpergewicht, KM = Kontrastmittel, MRT = Magnetresonanztomografie, OR = Odds Ratio, PPMS = primär progrediente Multiple Sklerose , s.c. = subkutan, SPMS = sekundär progrediente Multiple Sklerose , 9HPT = 9-HolePeg-Test, T25FW = Timed 25-Foot Walk.
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PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
43
FORTBILDUNG
Kasten 3: Laufende oder kürzlich publizierte Studien mit möglicherweise «neuroprotektiven» Substanzen bei progredienter MS
Präparate Amilorid, Fluoxetin, Riluzol (MS-SMART Studie) (47)
Design Phase 2b (n = 445)
Population SPMS
Status Abgeschlossen
Primärer Endpunkt Hirnvolumen – minderung im MRT über 2 Jahre
Resultate Negativ (46, 48)
Hochdosiertes Biotin (MD 1003) (49)
Domperidon (52) Ibudilast (54)
Liponsäure (55) Simvastatin (57)
Phase 3 (n = 642)
Phase 2 Phase 2 (n = 255)
Phase 2 Phase 2
PPMS und SPMS Abgeschlossen
SPMS Abgeschlossen PPMS und SPMS Abgeschlossen
Progrediente MS Rekrutierung laufend
SPMS Rekrutierung noch nicht begonnen
EDSS und T25FW
T25FW Rate der Hirnatrophie über 2 Jahre im MRT (gemessen mit BPF)
T25FW
Effekt auf zerebralen Blutfluss (sekundäre Endpunkte u.a. Hirnatrophie und EDSS)
– Frühere Phase-III-Studien mit 154 Patienten zeigten positives Resultat bzgl. klinischer Verbesserung (gemessen durch EDSS und T25FW) nach 1 Jahr im Vergleich zu Plazebo (50) – Gemäss Press-Release vom 10.3.20 negative Resultate der aktuellen Studie (bzgl. EDSS und T25FW) (http://www.medday-pharma.com/2020/03/10/ medday-reports-top-line-data-from-phaseiii-trial-spi2-for-treatment-of-progressiveforms-of-multiple-sclerosis/) Resultate ausstehend; frühere Daten zeigten Erhöhung des Prolaktinspiegels durch Domperidon bei MS-Patienten (53)* Primärer Endpunkt erreicht (jährliche Hirnatrophierate unter Ibudilast: –0,0010 vs. –0,0019 unter Plazebo; p = 0,04); kein signifikanter Effekt auf Behinderungsprogression (sekundärer Endpunkt): HR 0,74 (95%-KI: 0,43–1,28) (54) Resultate ausstehend; frühere «Pilot»-Studie bei 51 SPMS-Patienten zeigte niedrigere jährliche Hirnatrophierate unter Liponsäure gegenüber Plazebo (–0,0021 vs. –0,0065; p = 0,002) (56) Resultate ausstehend; frühere Phase-II-Studie bei SPMS (MS-STAT) zeigte niedrigere jährliche Hirnatrophierate unter Simvastatin (80 mg/Tag) gegenüber Plazebo (0,029 vs. 0,058; p = 0,003) (58)
Kasten 3 fokussiert auf relevanten Substanzen, welche gemäss Studienlage am ehesten eine neuroprotektive Wirkung bei progredienter MS haben könnten. Zusätzlich gibt es derzeit bei progredienter MS laufende Studien mit primär immunmodulierenden Präparaten, unter anderem mit Rituximab, kombiniert intravenös und intrathekal (59), dem Anti-CD-52-Antikörper GZ402668 (60), dem Tyrosinkinase-Hemmer Masitinib (61) und dem Anti-Malaria-Medikament Hydroxychloroquin (62).
*Prolaktin könnte gemäss klinischer und präklinischer Daten einen günstigen Effekt auf die Remyelinisierung bei MS haben (63, 64)
Abkürzungen: BPF = Brain Parenchymal Fraction, EDSS = Expanded Disability Status Scale, HR = Hazard Ratio, KI = Konfidenzintervall, MRT = Magnetresonanztomografie, PPMS = primär progrediente Multiple Sklerose, SPMS = sekundär progrediente Multiple Sklerose, T25FW = Timed 25-Foot Walk
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PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE