Transkript
FOKUS PHARMAKOTHERAPIE
Asthma, HIV, Migräne, Multiple Sklerose
Neue Wirkstoffe und Fixkombinationen
Auch 2019 gab es wieder etliche Entwicklungen im Bereich der Pharmakotherapie. Neue Wirkstoffe sowie neue Fixkombinationen bereits bewährter Substanzen können einen Beitrag zur Therapieverbesserung respektive -vereinfachung und zur Optimierung der Compliance leisten. Im Folgenden finden Sie eine kleine Auswahl aus den Neuzulassungen der jüngeren Zeit, die in ihren jeweiligen Einsatzgebieten die Praxis bereichern können. Via QR-Code gelangen Sie direkt zu den Fachinformationen der jeweiligen Präparate.
Biktarvy® (Bictegravir + Emtricitabin + Tenofoviralafenamid): Neue Integrase-/Reverse-Transkriptase-Hemmer-Fixkombination
Mit dem Integrasehemmer Bictegravir reiht sich seit einigen Monaten nun auch in der Schweiz eine neue Substanz in die Palette der verfügbaren Wirkstoffe zur Behandlung der HIV-(humanes Immundefizienzvirus-) Infektion ein, welche in Fixkombination mit den Reverse-Transkriptase-Inhibitoren Emtricitabin und Tenofoviralafenamid im April 2019 durch Swissmedic sowie 2018 bereits in den USA und in der Europäischen Union zugelassen und unter dem Handelsnamen Biktarvy® am Markt eingeführt wurde. Das Medikament wird eingesetzt bei therapienaiven mit HIV Typ 1 (HIV‑1) infizierten Erwachsenen beziehungsweise als Ersatz der aktuellen antiretroviralen Therapie, wenn beim jeweiligen Patienten zuvor kein virologisches Therapieversagen aufgetreten ist, seit mindestens einem halben Jahr eine virologische Supprimierung (HIV‑1‑RNA < 50 Kopien/ml) durch eine stabile antiretrovirale Behandlung besteht und sich bis anhin keine gegen Integraseinhibitoren, Emtricitabin oder Tenofovir gerichteten Mutationen von HIV-1 nachweisen liessen. Die Wirksamkeit und die Sicherheit von Biktarvy® wurden in je zwei klinischen Studien über 48 Wochen zum einen an therapienaiven und zum anderen an virologisch supprimierten HIV‑1‑infizierten Erwachsenen geprüft. Erstere Patienten erhielten dabei randomisiert entweder das Prüfmedikament oder aber die Kombination Abacavir/Dolutegravir/Lamivudin (Studie GS-US-380-1489) beziehungsweise Dolutegravir plus Emtricitabin/Tenofovirala- fenamid (Studie GS-US-380-1490). Dabei zeigte sich Biktarvy® gegenüber den Vergleichsregimen hinsichtlich der Senkung des HIV‑1‑RNA-Wertes auf weniger als 50 Kopien/ml als nicht unterlegen. Bei den virologisch supprimierten Patienten erfolgte jeweils randomisiert entweder eine Umstellung ihrer antiretroviralen Ausgangstherapie (Studie GS-US-380-1844: Dolutegravir + Abacavir/Lamivudin bzw. Abacavir/Dolutegravir/Lamivudin; Studie GS-US-3801878: Abacavir/Lamivudin bzw. Emtricitabin/Tenofovirdisoproxilfumarat + Atazanavir oder Darunavir) auf Biktarvy® oder aber eine unveränderte Weiterbehandlung. Bei der Auswertung der Daten ergab sich für die Therapieumstellung auf Biktarvy® ebenfalls keine Unterlegenheit gegenüber einer Weiterbehandlung mit der antiretroviralen Ausgangstherapie. Es zeigten sich unter allen Regimen nach 48 Wochen ähnlich grosse Anteile an Patienten, bei denen die HIV‑1‑RNA-Konzentration entweder nach wie vor bei weniger als 50 Kopien pro ml lag oder aber auf höhere Werte angestiegen war. Wie wirkt die Fixkombination? Bictegravir richtet sich gegen HIV-1 und -2 und bindet an das aktive Zentrum des für die Replikation des Virus essenziellen Enzyms Integrase. Der NukleosidReverse-Transkriptase-Inhibitor (NRTI) Emtricitabin und auch der NukleotidReverse-Transkriptase-Inhibitor (NtRTI) Tenofoviralafenamid hemmen ebenfalls die HIV-1/2-Replikation, aber auch die von Hepatitis-B-Viren (HBV), indem sie in aktivierter Form über das Enzym reverse Transkriptase in die virale DNA eingebaut werden und so einen Kettenabbruch bewirken. Das Medikament wird als Filmtablette (50 mg Bictegravir, 200 mg Emtricitabin, 25 mg Tenofoviralafenamid) einmal täglich unabhängig von den Mahlzeiten eingenommen. Da an Kindern oder Jugendlichen unter 18 Jahren keine Daten zur Sicherheit oder Wirksamkeit von Biktarvy® erhoben wurden, soll das Medikament nur bei erwachsenen Patienten eingesetzt werden. Kontraindikationen bestehen ferner bei gleichzeitiger Anwendung von Substanzen, die als starke Induktoren von Cytochrom P450 3A (CYP3A) oder Uridin-Glucuronyl-Transferase 1A1 (UGT1A1) fungieren, wie etwa Rifampicin oder Johanniskraut, da Bictegravir ein Substrat dieser Enzyme ist. An unerwünschten Wirkungen waren in klinischen Studien überwiegend Kopfschmerzen, Diarrhö und Übelkeit aufgetreten. RABE s Literatur: Arzneimittelinformation Biktarvy®; Stand Dezember 2018, www.compendium.ch 34 ARS MEDICI 1+2 | 2020 FOKUS PHARMAKOTHERAPIE Emgality® (Galcanezumab): Injizierbarer Antikörper beugt Migräne vor Mit dem rekombinanten, humanisierten, monoklonalen Immunglobulin-G-(IgG-) Antikörper Galcanezumab steht seit Frühjahr 2019 auch in der Schweiz ein neues Medikament zur prophylaktischen Therapie von Migräne bei Erwachsenen zur Verfügung. In den USA und in der Europäischen Union war die Substanz bereits im Vorjahr am Markt eingeführt worden. Die Indikation ist vor Beginn sowie im Verlauf der Therapie durch einen in der Migränebehandlung erfahrenen Arzt zu stellen beziehungsweise zu überprüfen. Der subkutan zu injizierende neue Wirkstoff konnte seine Wirksamkeit und Sicherheit in drei randomisierten, plazebokontrollierten, doppelblinden Phase-III-Studien an Patienten mit episodischer (EVOLVE-1 und EVOLVE-2, jeweils 6-monatige Behandlung) beziehungsweise chronischer Migräne (REGAIN, 3-monatige Behandlung, gefolgt von offener Verlängerung über 9 Monate) unter Beweis stellen. Primärer Endpunkt aller drei Studien, in denen neben Arzneimitteln zur Akuttherapie der Migräne (bedarfsweise) randomisiert jeweils Plazebo sowie Emgality® in Konzentrationen von 120 mg (Anfangsdosis im 1. Monat: 240 mg) und 240 mg pro Monat eingesetzt worden waren, war die allgemeine mittlere Veränderung der An- zahl der pro Monat aufgetretenen Tage mit Migränekopfschmerz (migraine headache days, MHD) gegenüber dem Wert zu Studienbeginn (EVOLVE-1, EVOLVE-2: 9,13 Tage; REGAIN: 19,41 Tage). Mit beiden Dosierungen des Verums zeigten sich nach Ende der Behandlungsdauer im Vergleich mit Plazebo grössere Ansprechraten sowie klinisch relevante und statistisch signifikante Verbesserungen der MHD-Werte. Auch die Anzahl der Tage, an denen zusätzlich eine Akutmedikation eingesetzt wurde, war bei den mit Galcanezumab behandelten Patienten deutlicher zurückgegangen als unter Plazebo. Darüber hinaus waren bei den Patienten sowohl unter 120 mg als auch unter 240 mg des Verums in allen Studien bessere Funktionswerte, beurteilt mit dem Migraine-Specific Quality of Life Questionnaire (MSQ; Role Function-Restrictive Domaine), erzielt worden als mit Plazebo. Wie wirkt Galcanezumab? Der Effekt der Substanz resultiert aus ihrer Bindung an das Neuropeptid CGRP (calcitonin gene-related peptide) im Blut und dessen dadurch bedingter reduzierter entzündungsfördernder und gefässerweiternder Aktivität. In erhöhter Konzentration gilt CGRP als migräneassoziiert. Emgality® ist als 120-mg-Injektionslösung im Fertigpen erhältlich, die einmal monat- lich verabreicht werden muss; zu Beginn der Behandlung ist eine einmalige Anfangs- dosis von 240 mg empfohlen. Bei Kindern und Jugendlichen darf Galcanezumab nicht angewendet werden, da dessen Wirk- samkeit und Sicherheit in dieser Alters- gruppe bis anhin nicht untersucht worden sind. Über einen Zeitraum der Anwendung von 12 Monaten hinaus liegen auch für Er- wachsene keinerlei Daten zur Effektivität und Verträglichkeit vor. Als häufigste unerwünschte Wirkungen waren in den Zulassungsstudien Hautre- aktionen und Schmerzen an der Injektions- stelle aufgetreten. RABE s Literatur: Arzneimittelinformation Emgality®; Stand März 2019, www.compendium.ch Fampyra® (Fampridin): Kaliumkanalblocker fördert Gehleistung bei MS-Patienten Im August 2018 hat Swissmedic den Kaliumkanalblocker Fampridin (Fampyra®) als Retardtabletten (10 mg 2-mal täglich) zur Verbesserung der Gehfähigkeit von erwachsenen Multiple-Sklerose-(MS-)Patienten mit Gehbehinderung zugelassen. In den USA war die Zulassung des Medikaments bereits im Jahr 2010 und in der Europäischen Union 2011 erfolgt. Seine klinische Wirksamkeit hatte Fampridin in drei randomisierten, doppelblinden, plazebokontrollierten Phase-III-Studien nachweisen können. Patienten mit schubförmig-remittierender, progressiver MS, die hinsichtlich ihrer Gehgeschwindigkeit, gemessen mit dem T25FW-(Timed 25 Foot Walk-)Test, auf das Medikament ansprachen (primärer Endpunkt von 2 der 3 Zulassungsstudien, MS-F203 und MSF204), erfuhren dabei unabhängig von einer begleitenden immunmodulatorischen Therapie (inkl. Interferone, Glatirameracetat, Fingolimod, Natalizumab) eine Verbesserung ihrer Gehfähigkeit. So erhöhte sich bei ihnen die Gehgeschwindigkeit durchschnittlich um 26,3 bzw. 25,3 Prozent (vs. 5,3/7,8% unter Plazebo; jeweils ARS MEDICI 1+2 | 2020 35 FOKUS PHARMAKOTHERAPIE p < 0,001). In der dritten Zulassungsstudie (218MS305) zeigte sich nach 24-wöchiger Therapie bei den mit Fampridin behandelten MS-Patienten ebenfalls eine gegenüber Plazebo statistisch signifikant verbesserte Gehfähigkeit (primärer Endpunkt; gemessen mit der 12 Elemente umfassenden Multiple Sclerosis Walking Scale [MSWS-12]; relatives Risiko: 1,38; 95%-Konfidenzintervall [KI]: 1,06–1,70). Darüber hinaus ergaben sich für mit dem Verum behandelte Patienten auch im TUG-(Timed Up and Go-)Test (statisches/dynamisches Gleichgewicht, körperliche Mobilität) wie auch in der Multiple Sclerosis Impact Scale (MSIS29) im Vergleich zu Plazebo signifikante Verbesserungen. Wie wirkt Fampridin? Der positive Effekt von Fampridin soll in dessen Eigenschaft als Kaliumkanalblocker begründet liegen. Durch Blockierung dieser Ionenkanäle wird in den MS-bedingt demyelinisierten Axonen der auswärtsge- richtete Kaliumstrom gehemmt und somit die Repolarisation verlängert. Durch eine daraus resultierende verstärkte Aktionspotenzialbildung und verbesserte neuronale Funktion der Axone können dann möglicherweise mehr Impulse im zentralen Nervensystem weitergeleitet werden. Die Tabletten werden jeweils morgens und abends im Abstand von 12 Stunden nüchtern eingenommen. Die Therapie sollte zunächst auf 2 bis 4 Wochen begrenzt werden, da sich in der Regel in diesem Zeitraum ein klinischer Behandlungserfolg zeigt. Bleibt ein entsprechender Effekt (Verbesserung in T25FW bzw. MSWS-12) aus, ist das Präparat abzusetzen. Fampridin erhöht das Risiko für Krampfanfälle. Bei Personen mit entsprechenden Risikofaktoren darf das Medikament nur mit Vorsicht und bei Auftreten von Krampfanfällen überhaupt nicht mehr gegeben werden. Da Fampridin hauptsächlich renal ausgeschieden wird, ist es bei Vorliegen von Nierenfunktionsstörungen ebenfalls kontraindiziert. Zu den in klinischen Studien unter Fampridin am häufigsten beobachteten unerwünsch- ten Wirkungen zählen Harnwegsinfekte, Infektionskrankheiten, Schlaflosigkeit, Angst, Schwindel, Gleichgewichtsstörun- gen, Kopfschmerzen, Parästhesien, Tremor, Palpitationen, Dyspnoe, pharyngolarynge- ale Schmerzen, gastrointestinale Störungen und Rückenschmerzen. RABE s Literatur: Arzneimittelinformation Fampyra®; Stand Mai 2019, www.compendium.ch Foster® (Beclometason + Formoterol): rasch wirksame ICS/LABA-Fixkombination zur Erhaltungs- und Bedarfstherapie bei Asthma und COPD Anfang 2019 erhielt dieFixkombinationaus dem inhalativem Kortikosteroid (ICS) Beclometasondipropionat und dem lang wirksamen Betasympathomimetikum (longacting beta-agonist, LABA) Formoterolfumaratdihydrat nun auch in der Schweiz unter dem Markennamen Foster® die Zulassung zur Behandlung von Asthma und chronisch obstruktiver Lungenerkrankung (COPD). In vielen anderen Ländern ist das Präparat bereits seit einigen Jahren verfügbar, so etwa in Deutschland seit 2006. Indiziert ist das Medikament zur regelmässigen Anwendung bei erwachsenen Asthmapatienten, die mit der bedarfsweisen Inhalation von ICS und kurz wirksamen Beta-2-Agonisten (short-acting beta-agonists, SABA) nicht ausreichend eingestellt sind, sowie bei Patienten mit COPD (FEV1 [Einsekundenkapazität] < 50% des Normwertes), die trotz regelmässiger Behandlung mit lang wirksamen Bronchodilatatoren unter wiederholten Exazerbationen und schwerer Symptomatik leiden. In klinischen Studien bei Erwachsenen besserten sich unter Zusatz von Formoterol zu Beclometason (Erhaltungstherapie) Asthmasymptome und Lungenfunktion, und Exazerbationen traten seltener auf. Wurde die Kombination sowohl zur Erhaltungswie auch zur Bedarfstherapie angewendet, verging im Vergleich zu einem Regime, bestehend aus Foster® als Erhaltungs- plus Salbutamol als Bedarfstherapie, signifikant mehr Zeit bis zum ersten Auftreten einer schweren Exazerbation. Darüber hinaus war die Rate an schweren Exazerbationen signifikant reduziert und die Asthmakontrolle deutlich verbessert. In einer Studie an COPD-Patienten wurde Foster® mit einer Budesonid-Formoterol-Kombination beziehungsweise mit Formoterol allein verglichen. Dabei erwies sich die Behandlung mit Foster® hinsichtlich der FEV1 vor Inhalation bei Behandlungsende (48 Wochen) gegenüber der alleinigen Formoteroltherapie als effektiver und im Vergleich zu Budesonid/Formoterol als nicht unterlegen. Wie wirkt die Fixkombination? Beclometason wirkt in der Lunge entzündungshemmend, immunsuppressiv und antiallergisch. Formoterol besitzt bronchodilatatorische Eigenschaften; seine Wirkung 36 ARS MEDICI 1+2 | 2020 FOKUS PHARMAKOTHERAPIE setzt rasch (innerhalb von 1–3 min) ein und dauert etwa 12 Stunden an. Foster® liegt als Dosieraerosol vor, zur Einnahme mittels Pulverinhalator ist das Medikament nicht zugelassen. Bei Asthma werden je 1 bis 2 Inhalationen morgens und abends zur Erhaltungstherapie sowie zur Erhaltungs- und Bedarfstherapie eine morgendliche und eine abendliche Inhalation und bei Symptomen im Bedarfsfall zusätzliche Inhalationen (max. 6/Tag) empfohlen. COPD-Patienten führen 2-mal täglich je 2 Inhalationen durch. An unerwünschten Arzneimittelwirkungen wurden am häufigsten Pharyngitis, orale Candidose, Pneumonie (bei COPD-Patienten), Kopfschmerzen und Dysphonie beobachtet. Wegen des Risikos einer Infektion mit Candida (Mundsoorerreger) wird empfohlen, Mund und Rachen nach jeder Inhalation mit Wasser auszuspülen. RABE s Literatur: Arzneimittelinformation Foster®; Stand Januar 2019, www.compendium.ch 38 ARS MEDICI 1+2 | 2020