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FORUM
«Nicht nur schlechte Botschaften»
Zukunftsfragen in der Onkologie
wurde 1990 die heutige Krebsinzidenz um ein Drittel zu hoch geschätzt; statt wie damals hochgerechnet 22 200 neue Erkrankungen waren es «nur» rund 16 000 (Zahl für 2008, hochgerechnet). Präventions- und Früherkennungsbestrebungen werden eine Rolle spielen.
Krebs im Jahr 2030: Was erwarten wir in den nächsten 20 Jahren angesichts der stark alternden Bevölkerung? Wie stark werden maligne Erkrankungen zunehmen, welche Tumoren werden deutlich häufiger? Wie sehr könnten Präventions-, Früherkennungs- und neue Therapiestrategien greifen, um die krebsassoziierte Mortalität zu senken? Zu diesen Zukunftsfragen in der Onkologie gab ein Expertenteam kürzlich in St. Gallen Antworten. Fakten für die Schweiz und Meinungen sind im Folgenden zusammengestellt.
BÄRBEL HIRRLE
Dr. Matthias Bopp, Institut für Sozialund Präventivmedizin der Universität Zürich, nannte Zahlen: Während wir weltweit heute jährlich rund 13 Millionen neue Krebsfälle und rund 8 Millionen krebsbedingte Todesfälle zählen, wird es nach jetzigen Schätzungen in 20 bis 30 Jahren Verdopplungen geben. Schon für das Jahr 2030 wird von 21 Millionen neuen Erkrankungen und
13 Millionen krebsbedingten Todesfällen ausgegangen.
Veränderungen besonders bei Männern In der Schweiz (und in den Nachbarländern) wird sich der Anstieg der Krebsinzidenz überwiegend bei Männern infolge der Altersentwicklung bemerkbar machen. In den letzten 30 Jahren ist die Lebenserwartung der Männer ganz wesentlich gestiegen. «2015 wird es so sein, dass 65-jährige Männer im Schnitt 5,7 Jahre länger leben als diejenigen im gleichen Alter, die 1980 lebten», so Bopp. Da Krebs eine Alterskrankheit ist, werden alle Tumorarten (bis auf Hodenkrebs) in absoluten Zahlen zunehmen, ganz besonders Prostata-, Nierenzellund Blasenkarzinome, daneben Brustund Lungenkarzinome. Dagegen wird Magenkrebs seltener, sofern sich diesbezügliche Tendenzen der letzten Jahrzehnte weiter fortsetzen.
Schätzungen dürfen nach unten korrigiert werden Es gibt daher nicht nur schlechte Botschaften. «Wir dürfen heute optimistischer sein als vor 20 Jahren», kommentierte Bopp. «Eine Schätzung allein aufgrund der heutigen altersspezifischen Raten ist sicher zu pessimistisch.» So
Kasten:
Demografischer Wandel in der Schweiz:
Im Jahr 2050 wird fast jeder Dritte älter als 65 Jahre sein
Personen über 65 Jahre Kinder/Jugendliche unter 20 Jahren Lebenserwartung der Geburtsjahrgänge
Fachpersonal Gesundheit
15,4% (2000); 16,6% (2008); 28% (2050) 23,1% (2000), 21,2% (2008); 17% (2050) Jahrgang (Jg.) 1920: > 60 J.; Jg. 1960: > 75 J.; Jg. 2000: 80–90 J. (Daten: Avenir Suisse) Neurekrutierung bis 2030: 120 000 bis 190 000 neue Fachkräfte
Quelle: www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/news/publikationen.Dokument.127584.pdf Demografisches Porträt der Schweiz.
Die Bürde des Alters ... Fest steht für uns heute: In den nächsten zwei Jahrzehnten wird der Anteil der über 65-Jährigen in der Gesamtbevölkerung um ein Drittel zunehmen, damit werden Krebserkrankungen nominell zunehmen. «Vor dem 75. Lebensjahr ist Krebs schon heute Todesursache Nummer 1 in der Schweiz», erklärte Prof. Thomas Cerny, Chefarzt Onkologie/Hämatologie am Kantonsspital St. Gallen. «Wir haben derzeit 16 häufige und 194 seltene maligne Tumoren. Dank medizinischer Fortschritte gelingt es zwar immer mehr, dass viele neu diagnostizierte maligne Neoplasien zu chronischen Krankheiten oder sogar geheilt werden. Dabei wird die Multimorbidität im Alter ein grosses Thema sowohl für die Medizin als auch für das Gesundheitswesen.» Berechnungen gehen davon aus, dass direkte medizinische Kosten der Krankheit auf 15 bis 30 Prozent und indirekte Kosten auf 70 bis 85 Prozent anwachsen werden.
... und struktureller Probleme ... Cerny sieht viele ungelöste strukturelle Probleme auf die Schweiz zukommen, darunter: ❖ teilweise sehr unterschiedliche regio-
nale Versorgungsbedingungen ❖ immer mehr Singlehaushalte und
entsprechend fehlende (mangelnde) familiäre Unterstützung der Erkrankten ❖ verzögerte diagnostische Abklärungen regional (z.B. bei Brustkrebs mit der Folge sehr unterschiedlicher Überlebenschancen, beispielsweise in Genf und der Ostschweiz/Graubünden). ❖ verzögerte diagnostische Abklärungen und Therapien bei alten Menschen.
Der Onkologe wies auf die Bedeutung des nationalen Krebsprogramms für die Schweiz hin, welches auf die Durchsetzung gleicher regionaler Bedingun-
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gen für die Versorgungsoptimierung in allen Krankheitsstadien, die Entwicklung nationaler Guidelines, Standards und Früherkennungskampagnen, geführt mit öffentlichen Kommunikationsstrategien, abzielt. Das vorliegende «Programm 2011 bis 15» basiert auf Initiative privater Organisationen; dabei brauchte es, so Cerny, zur Umsetzung unbedingt ein nationales Mandat. Immer noch gebe es zu viele vermeidbare Krebstodesfälle, so Cerny, insbesondere die regionalen Unterschiede bezüglich Zugang zu und Qualität von Krebsbehandlungen seien inakzeptabel.
So nahm die Mortalität bei Brustkrebs in den Jahren 1995 bis 2005 in der Romandie hochsignifikant stärker ab als im deutschsprachigen Teil, nämlich um 35 Prozent im Westen und nur um 14 Prozent in der übrigen Schweiz. Im Interview stellte er sich weiteren Fragen zu Zukunftsszenarien und zur optimierten Versorgung in der Onkologie.
... auch in der Grundversorgung Dramatisch steigen wird der Bedarf an medizinischen Fachkräften, insbesondere in der Hausarztmedizin, warnte Dr. Carlos Quinto, Allgemeinmedi-
ziner aus Pfeffingen. Zu den Heraus-
forderungen zur Sicherung der medi-
zinischen Grundversorgung in den
nächsten Jahrzehnten gehörten die
Ausbildung von Ärzten und Pflegekräf-
ten im eigenen Land, neue regionale
Strukturen und breite Vernetzungen,
betonte er. In der Allgemeinmedizin be-
stehe hoher nationaler Handlungsbe-
darf, der gerade auch in der Versorgung
onkologischer Patienten nicht zu unter-
schätzen sei.
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Bärbel Hirrle E-Mail: hirrle@rosenfluh.ch
NACHGEFRAGT
Prof. Thomas Cerny, Chefarzt Onkologie/Hämatologie am Kantonsspital St. Gallen
Freien sind zudem vergleichbar preisgünstig. Die Adipositas, damit impliziert, ist vor allem in den USA ein riesiges Thema, muss aber auch bei uns stärker in der Krebsprävention thematisiert werden. Ich denke, die Präventionsbestrebungen werden greifen, aber nicht so stark, wie wir es brauchten. Zum Rauchen: In der Ostschweiz haben sich Lungenkrebsfälle und die Lungenkrebs-
«Ich sehe die Gefahr, dass Patienten wegen unbezahlbarer Kosten nicht erreicht werden!»
Herr Prof. Cerny, wir stellen uns vor, wir sind im Jahr 2040 – und wir leben noch beide! Welche Tumoren werden in der Schweiz zugenommen haben? Prof. Thomas Cerny: Zunehmen werden besonders die «Nichtmen-made»-Tumoren, also Tumoren, die wir nach heutigem Wissen nicht durch gesunde Lebensweise verhindern können. Das sind angesichts der Altersentwicklung vor allem Prostataund Brustkrebs. Gastrointestinale Tumoren werden etwas zurückgehen, ausser vielleicht bei Migranten, die teilweise spezielle Risikofaktoren mitbringen. Zu beachten: In der Summe – in absoluten Zahlen ausgedrückt – werden wir mehr Krebsfälle haben als heute, eben weil es mehr alte Menschen geben wird. Relativ gesehen, also alterskorrigiert und auf die Gesamtbevölkerung bezogen, werden wir weniger Tumorerkrankungen haben.
Das bedeutet, dass Früherkennungs- und Präventionsmassnahmen greifen werden!? Welches sind denn die Hauptrisiken, die unbedingt präventiv angegangen werden müssen? Cerny: Ganz zuoberst – ganz weit vor allen anderen Massnahmen – steht die Tabakprävention! Diese schlägt in ihrer Effizienz bei der Krebsprävention am stärksten zu Buche, und zwar bei zahlreichen Tumoren. Weiterhin muss der Bewegungsmangel angegangen werden. Denn der Körper retabliert durch regelmässiges Training zelluläre Schlüsseleffekte zur Gesunderhaltung. Präventionsprogramme für mehr Bewegung im
mortalität bei Frauen in den letzten 20 Jahren verdoppelt! Und es sieht nicht so aus, dass sich sehr schnell etwas ändern würde. Jungen rauchen wieder mehr, und bei jugendlichen Mädchen hat Rauchen extrem zugenommen. Nicht einmal in der Frühschwangerschaft erreichen die Frauen einen konsequenten Rauchstopp; Frühgeburten sind heute in der Hauptsache auf Nikotin zurückführbar. Die HPV-Prävention gynäkologischer und urologischer sowie möglicherweise dann auch von Hals-Kopf-Tumoren mittels Impfung ist dagegen ein Erfolgsmodell.
Welche Früherkennungsmassnahmen sollten ausgebaut werden? Cerny: Auch hier ist noch eine Menge zu tun. Neben dem programmmässigen Brustkrebsscreening, welches bald in der ganzen Schweiz zu realisieren ist, sind Screeningprogramme für Prostatakarzinom zu entwickeln, die PSA-Bestimmung hat sich als zu unspezifisch herausgestellt. Das Darmkrebsscreening ist für eine Implementierung auszubauen. Bezüglich Lungenkrebs zeigen sich jetzt erste Möglichkeiten mit Low-radiation-CT, welche für Raucher noch weiterzuentwickeln sind. Insgesamt werden verbesserte Technologien zu mehr (frühen) Diagnosen und verbesserte Therapien zu längerem Überleben führen. Das Entscheidende ist aber das Verhalten jedes Einzelnen in der Prävention, das heisst eine gesunde Lebensweise und die frühe Inanspruchnahme der angebotenen Massnahmen. Hierzu ist vermehrt Aufklärung zu leisten.
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In welche Richtung werden die Therapiestrategien gehen? Cerny: Nun, es wird Therapiefortschritte auf sehr breiter Basis geben, selbst bei seltenen Tumoren – und zwar schon relativ bald. Die Behandlungen basieren immer mehr auf zu bestimmenden individuellen genomischen Strukturen des Tumors. Für diese personalisierten Therapien werden aber neue diagnostische Modalitäten wegweisend sein. Die Gesundheitsbehörden müssen sich den neuen Tatsachen stellen, dass bisherige klassische Diagnoseeinteilungen weitgehend ausgedient haben und die molekularen Strukturen immer mehr Grundlage für die Therapiewahl sind. Viele Tumoren, auch solche an unterschiedlichen Lokalitäten, ähneln sich biologisch, zum Beispiel können Lungenkrebs- pathologisch Brustkrebsarten ähneln, und dann werden diese Tumoren mit dem gleichen zielgerichteten Therapiekonzept anzugehen sein. Damit wird jede Tumorerkrankung fast zur Einzelkrankheit. Ich sehe aber die Gefahr, dass für die riesigen Forschungsbestrebungen dreistellige Milliardensummen ausgegeben und die betroffenen Patienten wegen unbezahlbarer Kosten nicht erreicht werden!
Man hat manchmal den Eindruck, dass die Swissmedic Neuzulassungen für die Schweiz absichtlich zurückhält, wahrscheinlich aus Kostengründen. Wie beurteilen Sie die Arbeit der Swissmedic bezüglich neuer Krebsmedikamente?
Cerny: Die Zulassung hat vorerst nichts mit der Kostenfrage zu
tun! Da ist das BAG zuständig. Die Swissmedic übernimmt üb-
rigens auch die Arbeit für viele weitere kleinere Länder, bei-
spielsweise im Nahen und Fernen Osten, die sich keine eigene
Zulassungsbehörde leisten. Die Schweizer Behörde kann si-
cherlich vieles besser und effizienter machen in der Zukunft;
wir wünschen uns eine schlanke, effiziente und weniger büro-
kratische Swissmedic. Auch sollten deren Experten selber einen
soliden, praktischen Forscherhintergrund haben. Die bürokra-
tischen Verzögerungen durch die Swissmedic sind fast welt-
meisterlich.
Preisfestsetzungen werden in der Regel mit den Herstellern in
den USA getroffen. Wenn ein Medikament zu einem bestimm-
ten, meist sehr hohen Preis dort zugelassen ist, ist dies ein glo-
baler Referenzpreis. Für ärmere Länder sind diese Medika-
mente nicht erschwinglich und führen direkt in die Mehrklas-
senmedizin!
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Herr Prof. Cerny, herzlichen Dank für das Interview!
Das Interview wurde anlässlich der Vortragsreihe «An ageing society and the implications for Oncology» am 7th World Ageing & Generations Congress am 30. August 2011 in St. Gallen geführt.
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