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«Late-onset»-Diabetes Typ 1
Rechtzeitige Diagnose hat erste Priorität
FORTBILDUNG
Bei Erwachsenen mit neu aufgetretener Diabetessymptomatik ist es oft nicht leicht, zwischen Typ-1und Typ-2-Diabetes zu unterscheiden. Eine möglichst frühzeitige exakte Diagnose ist jedoch essenziell, um Komplikationen wie eine Ketoazidose mit möglicherweise lebensgefährlichen Folgen zu verhindern.
BMJ
Zu den autoimmun bedingten Formen der Zuckerkrankheit, die im Erwachsenenalter auftreten können, zählt der Typ-1Diabetes, der bereits bei Diagnose charakterisiert ist durch einen Bedarf an Insulin, um die Glykämie zu kontrollieren und eine Ketogenese zu verhindern. Bei etwa 13 Prozent aller in der Altersgruppe der 30- bis 50-Jährigen neu diagnostizierten Diabeteserkrankungen handelt es sich um Typ-1-Diabetes. Daneben kommt der verzögert auftretende, autoimmun bedingte Diabetes («late-onset autoimmunity diabetes in the adult», LADA) vor, der durch eine nach Diagnosestellung wesentlich langsamere Progression hin zu einem Insulinmangel gekennzeichnet ist.
Diagnose oft zu spät Bei Patienten mit Typ-1-Diabetes wird ein bestehender Insulinmangel häufig erst verspätet entdeckt. Zwar sind die klas-
Merksätze
❖ Eine verzögerte Diagnose eines Diabetes Typ 1 im Erwachsenenalter kann zur Entwicklung einer Ketoazidose führen.
❖ Manche Familien haben sowohl Typ-1- als auch Typ-2-Diabetiker in ihrem Stammbaum. Die Familiengeschiche ist daher ein unzuverlässiger Wegweiser für eine Diabetesklassifizierung.
❖ Auch wenn überzeugende Hinweise auf Typ-2-Diabetes vorliegen, sollten bei Verdacht auf eine Zuckerkrankheit bei Erwachsenen routinemässig Ketonurietests durchgeführt werden.
❖ Jeder junge Erwachsene, bei dem ein Typ-2-Diabetes diagnostiziert wurde, sollte über die Symptome einer Progression hin zu einer Ketoazidose informiert sein, um sich gegebenenfalls rechtzeitig einer Nachfolgeuntersuchung zu unterziehen.
sischen Symptome einer Hyperglykämie kaum zu übersehen, doch das klinische Bild kann bei Erstkonsultation dem bei Diabetes Typ 2 ähneln. Ausserdem spielt die Familienanamnese bei der Diabetesdiagnostik durch den Grundversorger eine wichtige Rolle. Verwandte von Typ-2-Diabetikern haben jedoch nicht nur ein deutlich erhöhtes Risiko, ebenfalls an Typ-2-Diabetes zu erkranken, sondern auch Diabetes Typ 1 kommt bei ihnen deutlich häufiger vor. Die Folgen einer verpassten Diagnose eines Typ-1-Diabetes sind möglicherweise fatal, denn im Verlauf kann sich eine Ketoazidose entwickeln, die eine intensive fachärztliche Versorgung erforderlich macht. Zudem werden die Patienten unnötigerweise den Risiken einer Dehydratation, einer Azidose, von Kaliumverschiebungen sowie eines Nierenversagens ausgesetzt. Grosse Kohortenstudien an Typ-1-Diabetikern haben gezeigt, dass sich die im Langzeitverlauf deutliche Besserung des Gesundheitszustands, wie sie bei Patienten zu beobachten ist, die bereits im Kindesalter erkrankten, bei einem Krankheitsbeginn im Erwachsenenalter nicht einstellt. In den folgenden zwei Jahren nach Diagnose ist die Mortalität bei erwachsen Erkrankten sogar höher als nach Krankheitsbeginn in der Kindheit.
Worauf ist bei Diabetessymptomen im Erwachsenenalter zu achten? Die klassischen Symptome einer Hyperglykämie sind Durst und Polyurie. Sie treten, wie eine kleinere Kohortenstudie ergab, zwar gleichermassen bei Krankheitsbeginn im Kindeswie im Erwachsenenalter auf, jedoch ist der Zeitverlauf bei Erwachsenen verzögert (5 Wochen vs. 2 Wochen bei Kindern), und der Gewichtsverlust fällt geringer aus. Weil auch bei Typ-2-Diabetes die ersten Symptome einer Hyperglykämie bereits sehr früh auftreten (20% symptomatisch bis zu 6 Monate vor Diagnose), ist es schwierig, bei jungen Erwachsenen zwischen Typ-1- und Typ-2-Diabetes zu unterscheiden, denn verlässliche klinische Unterscheidungskriterien gibt es nicht. Labormarker für Autoantikörper oder C-Peptid-Level, die einer prospektiven Studie zufolge in der Lage sind, zwischen Typ 1 und Typ 2 zu unterscheiden, sind für den Routineeinsatz noch nicht zugelassen. Das britische National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE) empfiehlt, bei allen neu diagnostizierten Diabetikern mit Gewichtsverlust beziehungsweise ohne Anzeichen eines metabolischen Syndroms an das Vorliegen eines Typ-1-Diabetes zu denken. Bei Erstvorstellung von neu an Diabetes erkrankten jungen Erwachsenen lässt sich die klassische und ohnehin verein-
ARS MEDICI 15 ■ 2012
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FORTBILDUNG
fachte Typeneinteilung (Typ 1: Insulinmangel, Typ 2: Insulinresiszenz) kaum vornehmen. Unabhängig vom Typ sind Blutzuckerwerte von ≥ 11,1 mmol/l bzw. ≥ 7,0 mmol/l (Nüchternwert) ein diagnostisches Kriterium für Diabetes; die Diagnose anhand von HbA1c-Werten gilt für Diabetes Typ 1 als nicht geeignet. Das NICE empfiehlt, immer einen ersten Test auf Vorliegen einer Ketonurie als Marker eines Bedarfs an exogenem Insulin durchzuführen. Obgleich Studien zumindest für fachärztliche Kohorten ergaben, dass bis zu 20 Prozent der neu diagnostizierten erwachsenen Typ-1-Diabetiker bei Erstvorstellung keine Ketonurie aufweisen, können bei unklarem Ergebnis dennoch wiederholte Tests erforderlich sein, insbesondere falls sich der klinische Zustand rasch verschlechtert.
Management des Typ-1-Diabetes
Bei Diagnose eines Diabetes Typ 1 sollte sofort Insulin gege-
ben werden, um den Blutzucker einzustellen und die Keto-
genese zu unterdrücken. Bei den meisten Patienten müssen
Nierenfunktion, Säure-Basen-Gleichgewicht und Keton-
körper-Level fachärztlich überprüft werden, da von diesen
Parametern abhängt, ob eine intravenöse Therapie mit
Insulin, Flüssigkeit und Elektrolyten erforderlich ist. Nach
Stabilisierung des Zustands stehen verschiedene Insulin-
therapieregime zur Verfügung. Für eine optimale Glukose-
kontrolle werden allerdings sowohl langwirksames (um den
Nüchternblutzucker zu senken) als auch kurzwirksames
Insulin (um postprandiale Werte zu reduzieren) benötigt.
Vervollständigt werden ein umfassendes Management des
Typ-1-Diabetes bei Erwachsenen durch das Abschätzen kar-
diovaskulärer Risiken und eine gegebenenfalls entspre-
chende zusätzliche Therapie. Wichtig ist ausserdem, eine
enge Koordination zwischen Haus- und Facharzt zu gewähr-
leisten sowie die Patienten hinsichtlich Diät- und Lebensstil-
massnahmen sowie Komplikationen der Diabeteserkran-
kung zu beraten und sie zu schulen, wie sie Blutzucker-
kontrollen inklusive Insulindosierung, auch im akuten
Krankheitsfall, selbstständig durchführen können.
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Ralf Behrens
Daniel Lasserson et al.: Early missed? Late-onset type 1 diabetes. BMJ 2012; 344: e2827 Interessenkonflikte: keine deklariert