Transkript
SUMMER SCHOOL
Eisenmangel
Schweizer Experten finden Konsens
Eisenmangel zählt weltweit zu den häufigsten gesundheitlichen Störungen überhaupt. Zur Frage, wie man ihn richtig diagnostiziert und gegebenenfalls behandelt, existieren zwar mehrere Leitlinien, allerdings kaum präzise Handlungsanweisungen für die Praxis. Dies zu ändern war das Ziel einer aktuellen Schweizer Delphi-Konsensusstudie, welche von PD Dr. Albina Nowak im Rahmen der Iron Academy 2019 in Zürich vorgestellt wurde.
Delphi-Prinzip: anonymisierte Befragung
Die Bezeichnung «Delphi-Methode» geht auf die gleichnamige Weissagungsstätte im antiken Griechenland zurück. Das Besondere an diesem speziellen systematischen Befragungsverfahren, welches zurzeit des Kalten Krieges in den 50er- und 60er-Jahren des vorigen Jahrhunderts durch das US-Militär entwickelt wurde, ist die Tatsache, dass, wie im Mythos die Ratsuchenden das verschleierte Antlitz der Orakel sprechenden Pythia nicht erkennen konnten, auch hier kein Kontakt von Angesicht zu Angesicht zwischen Fragern und Befragten besteht. Die Befragung läuft also weitestgehend anonymisiert ab, um eine mögliche Gruppendynamik bei der Entscheidungsfindung zu verhindern. Im wissenschaftlichen Kontext eingesetzt, folgt die Delphi-Methode einem streng reglementierten Protokoll, das sich von der Definition der Forschungsziele und der Literaturrecherche über das Formulieren von Fragen und die Auswahl von zu befragenden Experten bis zur gegebenenfalls bis zu zweimal wiederholten Durchführung der Fragerunde und deren Analyse sowie bis zur abschliessenden Synthese und Konsensbildung erstreckt.
Steckbrief
Wer hat die Guidelines erstellt? Schweizer Experten verschiedener Fachrichtungen in einer Delphi-Konsensusstudie Wann wurden sie erstellt? 2019 Für welche Patienten? Personen mit Eisenmangel Was ist neu? Konkrete Empfehlungen für Diagnose und Behandlung des Eisenmangels für die Praxis in der Schweiz
The Swiss Delphi study on iron deficiency
https://smw.ch/en/article/doi/smw.2019.20097/
Zweck dieser Schweizer Delphi-Konsensusstudie war es, Empfehlungen für Diagnose und Management eines Eisenmangels sowohl mit als auch ohne Anämie herauszuarbeiten. Eisenmangel gilt als eines der häufigsten gesundheitlichen Probleme, was PD Dr. Albina Nowak, Universitätsspital Zürich, mit eindrücklichen Zahlen unterstrich: Weltweit sind schätzungsweise etwa 4 bis 5 Milliarden Menschen von Eisenmangel betroffen, rund 15 Prozent der Weltbevölkerung leiden an einer Eisenmangelanämie. Selbst in den industrialisierten Ländern weisen immerhin 9,1 Prozent der Bevölkerung (111 Mio.) eine Eisenmangelanämie auf, was gleichzeitig bedeutet, dass ursächlich auch andere Faktoren als die Ernährung eine Rolle spielen. Die wissenschaftliche Leitung der Studie oblag einem sechsköpfigen Steuerungskomitee aus Schweizer Fachleuten. Dieses Komitee benannte eine Expertengruppe mit je einem Vertreter der Fachrichtungen Kardiologie, Nephrologie, Gastroenterologie, Gynäkologie und Onkologie zur Durchführung der Literaturrecherchen und zur Formulierung der Statements für die Expertenbefragung (siehe unten). Mit der eigentlichen Durchführung des Projekts war das Berner LINK-Institut, ein international agierendes unabhängiges Markt- und Sozialforschungsunternehmen, beauftragt worden. Das unabhängig durchgeführte Projekt wurde von der Firma Vifor finanziell unterstützt. Gegliedert in drei Themenbereiche, wurden eingangs folgende Zielsetzungen des Projekts definiert: s Diagnose: Welche Zeichen und Befunde führen zur Dia-
gnose eines Eisenmangels? Es gibt viele Laborbefunde, für die der Bereich noch als normal zu bewertender Messergebnisse zurzeit noch so weit gefasst ist, dass er hinsichtlich einer eventuell zugrunde liegenden chronischen Erkrankung interpretiert werden müsste. s Behandlung: Es kursieren zurzeit widersprüchliche Aussagen zur Applikationsform einer Eisentherapie: Zum einen heisst es, man müsse zunächst mit einer peroralen (p.o.) Therapie beginnen, aber es gibt Situationen, wo man gleich mit der intravenösen (i.v.) Therapie starten muss. Welche Szenarien sind das? Wie viel Eisen muss man insgesamt geben? Ausserdem existieren derzeit zwar mehrere Guidelines, aber keine, welche dem Primärversorger klare Anleitungen zur Behandlung verschiedener Patienten liefert.
516 ARS MEDICI 14–16 | 2019
SUMMER SCHOOL
Tabelle:
Konsensfähige Statements (> 80% Zustimmung) aus verschiedenen medizinischen Bereichen in der Schweizer Delphi-Studie zum Eisenmangel
Fachbereich
Konsens
Kardiologie
s Eisenmangel ist definiert wie folgt: SF < 100 μg/l oder SF zwischen 100 und 300 μg/l und TSAT < 20%; bei solchen Werten kann eine intravenöse Eisentherapie mit Eisencarboxymaltose gemäss der Studie CONFIRM-HF in Betracht gezogen werden; 8 bis 12 Wochen nach i.v.-EST SF kontrollieren, danach jährlich mit TSAT und CRP monitorisieren s Zuständigkeit für Diagnose/Therapie: Hausarzt (Pat. m. kompensierter HI), Kardiologe (Pat. m. dekompensierter HI) s i.v.-EST bei Unverträglichkeit oder Eisenüberladung stoppen Nephrologie s Definition Anämie: Hb < 135 g/l (Männer), Hb <1 20 g/l (Frauen); bei Werten < 110 g/l weiter abklären (beide Geschlechter) s Zuständigkeit für Diagnose/Therapie: Hausarzt (in Verbindung mit Nephrologen, Pat. in Prädialyse), Nephrologe (Pat. in Dialyse) s Bei Patienten mit CKD und EMA i.v.-EST präferieren; 8 bis 12 Wochen nach i.v.-EST SF kontrollieren s Bei Patienten mit CKD und EMA und SF < 200 µg/l und/oderTSAT < 25% EST vor ESA-Gabe starten;TSAT-Grenzwert von 45% nicht überschreiten Gastroenterologie s Derzeitige WHO-Definition Anämie: Hb < 135 g/l (Männer), Hb < 120 g/l (nicht schwangere Frauen); auch für Patienten mit IBD gültig s SF-Werte als Kriterium für EM: < 30 µg/l (Pat. ohne klinischen/endoskopischen/biochemischen Hinweis auf Entzündung), < 100 µg/l (Patienten mit Entzündung) s Bei EM ohne Anämie kann EST erwogen werden s Bei Patienen mit klinisch aktiver IBD, vorheriger Intoleranz gegenüber p.o.-EST und/oder Hb-Werten < 100 g/l i.v.-EST präferieren; nach 8 bis 12 Wochen (bei zu früher Messung falsch hohe Werte möglich) SF kontrollieren Onkologie s EST frühestmöglich beginnen bei symptomatischen Patienen mit maligner Erkrankung und EM s Therapiekoordination durch sämtliche behandelnden Ärzte, insbesondere Onkologen s i.v.-EST ist indiziert bei symptomatischen Patienten für eine schnellere Korrektur des EM s Bei Patienten unter ESA mit symptomatischer Anämie und TSAT < 50% ist i.v.-EST indiziert Gynäkologie s Bei nicht schwangeren Frauen p.o.-EST präferieren; i.v.-EST ist indiziert, falls p.o.-EST nicht verträglich, risikobehaftet (z.B. bei IBD) oder nicht wirksam ist (kein Hb-Anstieg von ≥ 1g/l/Tag oder ≥ 20–30 g/l nach 3 Wochen nach Ausschluss von Folsäure- und Vitamin-B12-Mangel) s EM ist häufige Anämieursache während Schwangerschaft und kann zu erhöhtem Bedarf für Bluttransfusionen im Falle von Major-Blutungen sowie zu Fatigue, verminderter körperlicher und geistiger Leistungsfähigkeit, Kopfweh und Gleichgewichtsstörungen führen s Definition Anämie: Hb < 110 g/l (1. und 3. TM), Hb < 105 g/l (2. TM); Definition EM: SF < 30 µg/l s Zuständigkeit: Hausarzt in Verbindung mit Gynäkologen SF: Serumferritin, EM: Eisenmangel, EMA: Eisenmangelanämie, TSAT: Transferrinsättigung, CRP: C-reaktives Protein, HI: Herzinsuffizienz, Hb: Hämoglobin, CKD: chronische Nierenerkrankung, ESA: erythropoesestimulierende Substanzen, EST: Eisensubstitutionstherapie, IBD: entzündliche Darmerkrankungen, TM: Trimester s Therapieverantwortung: In wessen Händen sollte die Behandlung der Patienten liegen (Hausarzt oder Spezialist)? Grundsätzlich wurde bei der Literaturrecherche von lokal nach international vorgegangen, das heisst, es wurden zunächst Schweizer, dann europäische und erst danach internationale Publikationen herangezogen. Dasselbe Prinzip der lokalen Priorität wurde auch bei der Formulierung der Statements verfolgt. Expertenbefragung und Datenanalyse Für die Rekrutierung der zu befragenden Spezialisten wurde aus einer Liste von Schweizer medizinischen Institutionen (Spitäler, Praxen, Gruppenpraxen), gesondert für jedes Themengebiet, per Zufallsprinzip eine Auswahl getroffen. Der jeweilige Chef- beziehungsweise Leitende Arzt oder Praxisinhaber wurde um Teilnahme an der Umfrage, entweder persönlich oder durch Benennung eines Stellvertreters, gebeten. Folgende Bedingungen mussten für eine Teilnahme erfüllt sein: s Schweizer Approbation (FMH) s ≥ 40 Prozent klinisch tätig s ≥ 5 Jahre Arbeitserfahrung s ≥ 5 Patienten mit Eisenmangel pro Jahr. Insgesamt 93 Spezialisten (13 Kardiologen, 16 Nephrologen, 14 Gastroenterologen, 13 Gynäkologen, 19 Onkologen, 18 Allgemeinpraktiker bzw. Ärzte der Inneren Medizin) wurden auf diese Weise für die Studie rekrutiert. Sie bezogen, jeweils fachspezifisch, zu insgesamt 440 Statements Position (1: überhaupt nicht einverstanden, 2: nicht einverstanden, 3: neutral, 4: einverstanden, 5: sehr einverstanden, 6: weiss nicht). Ein Konsens über ein bestimmtes Statement war definitionsgemäss dann erzielt, wenn sich 80 Prozentt oder mehr, das heisst durchschnittlich mindestens 4 von 5 Befragten, einverstanden oder sehr einverstanden (Skalenwert 4/5) erklärt hatten. Dieser Wert ist bei der Hälfte (n = 219) der formulierten 518 ARS MEDICI 14–16 | 2019 SUMMER SCHOOL Statements erreicht worden. Ein bedingter Konsens (critical consensus; 50–79% Zustimmung) bestand für 167 Statements (38%). Bei 54 Statements (12%) lag der Prozentsatz der Zustimmung dagegen unter 50 Prozent; hier konnte also kein Konsens erzielt werden. Wichtigste Aussagen mit Konsens Im allgemeinen Teil erzielten folgende Statements mindestens 80 Prozent Zustimmung und mithin Konsens: s Zur Diagnose eines Eisenmangels beziehungsweise einer Eisenmangelanämie sollte die Bestimmung von Serumferritin in Kombination mit C-reaktivem Protein (CRP), Hämoglobin (Hb), dem mittleren korpuskulären Volumen (mean corpuscular volume, MCV) und der mittleren korpuskulären Hb-Konzentration (mean corpuscular haemoglobin content, MCHC) erfolgen. Die Aussagekraft des Ferritinwerts kann allerdings problematisch sein, weil er bei Patienten mit chronischer Entzündung (z.B. M. Crohn), maligner oder Lebererkrankung falsch erhöht sein kann. In diesen Fällen kann die Transferrinsättigung (TSAT) herangezogen werden; ein niedriger Wert weist dann auf einen Eisenmangel hin. s Vor Therapie ist zunächst die Ursache eines Eisenmangels abzuklären. Man sollte bei gesunden Patienten zuerst p.o. therapieren; eine i.v.-Gabe kommt nur infrage, falls die p.o.-Applikation nicht vertragen oder nicht gewünscht wird oder wenn das therapeutische Ansprechen nicht zufriedenstellend ausfällt (gemäss Arzneimittelkompendium der Schweiz liegt ein gutes Ansprechen vor, falls nach Ausschluss von Folsäure- oder Vitamin-B12-Mangel ein HbAnstieg von ≥ 1 g/l/Tag oder ≥ 20–30 g/l nach 3 Wochen zu verzeichnen ist) oder mit Komplikationen verbunden ist oder falls ein rascher Hb-Anstieg benötigt wird (Schwangerschaft, Postpartum, perioperativ). Eisenmangel ist ein ungünstiger Zustand zum Beispiel bei Schwangerschaft (Erhöhung des Risikos für Transfusionsbedürftigkeit). s Zum Monitoring des Behandlungserfolgs sollte das Serumferritin 8 bis 12 Wochen nach Therapie gemessen werden (nicht zu früh messen, da ansonsten möglicherweise falsch erhöhte Werte resultieren). Die konsensfähigen Statements der einzelnen medizinischen Bereiche sind in der Tabelle zusammengefasst. Ihren Vortrag beendete Nowak mit folgenden Erkenntnissen zu Diagnose und Therapie des Eisenmangels, die man aufgrund der Studie gewonnenen hatte: s Serumferritin ist der effektivste Indikator eines Eisenmangels. s Ein Grenzwert von 30 µg/l gewährleistet die höchste Sensi- tivität und Spezifität für die Diagnose eines Eisenmangels ohne Anämie (in Übereinstimmung mit den Meinungen der Schweizer Experten im Rahmen dieser Befragung). s Der Nutzen der Ferritinbestimmung kann bei Patienten mit akuter oder chronischer Entzündung, Leber- oder Krebserkrankung eingeschränkt sein. s Bei Ferritinwerten von 30–50 µg/l kann ein TSAT-Wert von weniger als 20 Prozent ein Hinweis auf Eisenmangel ohne Anämie sein. s Die Kombination weiterer Laborparameter (CRP, MCV, MCHC, löslicher Transferrinrezeptor im Blut [soluble transferrin receptor, sTfR oder sTfR/log]) mit dem Fer- ritin- und TSAT-Wert scheint die beste Beurteilung eines Eisenmangels zu gewährleisten. s Eine Eisensubstitutionstherapie ist nicht nur zur Behand- lung einer Eisenmangelanämie, sondern auch bei sympto- matischem Eisenmangel ohne Anämie angezeigt. s Die i.v.-Eisen-Gabe ist in Erwägung zu ziehen, falls p.o.- Eisen nicht toleriert oder nicht wirksam ist. s Eine p.o.-Eisen-Gabe gilt als ineffektiv, wenn sich mit the- rapeutischen Eisendosen kein Hb-Anstieg um 20–30 g/l in 3 Wochen erzielen lässt (gemäss Definition im Arznei- mittelkompendium der Schweiz). s Schweizer Experten zeigen eine hohe Adhärenz sowohl zu Schweizer Empfehlungen als auch zu zahlreichen europäi- schen und internationalen Guidelines. s Ralf Behrens Quelle: «Iron Update 2019: Eisenmangel und Eisenmangelanämie, gibt es einen Konsensus in der Schweiz?», Vortrag von PD Dr. med. Albina Nowak, Klinik und Poliklinik für Innere Medizin, USZ, Iron Academy 2019, 4. April 2019 in Zürich. Die Ergebnisse der Schweizer Delphi-Konsensusstudie zum Eisenmangel wurden nach Redaktionsschluss dieser vorliegenden Ausgabe von ARS MEDICI am 3. Juli 2019 publiziert: Nowak A et al.: Swiss Delphi study on iron deficiency. Swiss Med Wkly 2019; 149: w20097. ARS MEDICI 14–16 | 2019 519