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«Aufpassen, dass man kein Vorhofflimmern übersieht»
Interview mit Prof. Dr. Jan Steffel, Universitätsspital Zürich
Foto: zVg
Aus der Vielfalt der präsentierten Daten das auszulesen, was für die Praxis relevant ist, ist bei Kongressen von der Grössenordnung des europäischen Kardiologiekongresses eine Herausforderung. Wir baten Prof. Dr. Jan Steffel, Leitender Arzt und stellvertretender Klinikdirektor der Klinik für Kardiologie am Universitätsspital Zürich, um seine Einschätzung.
Prof. Jan Steffel
CongressSelection: Was sind Ihre persönlichen Highlights am Kongress? Prof. Dr. Jan Steffel: Schon allein die Tatsache, dass der Kongress in dieser Form stattfindet, ist ein Highlight, das wird oft unterschätzt. Wir haben hier mehr als 30 000 Teilnehmer und ein super Setting, nicht nur Vortragsräume, sondern auch viele offene Angebote mit Möglichkeit zur Interaktion. Der Austausch mit den Kollegen, die Ideen, die dabei entstehen, die daraus erwachsenden Projekte – das macht den Kongress so wertvoll.
Und wie sieht es mit den wissenschaftlichen Highlights aus? Da haben wir eine ganze Reihe von Studien, die die Praxis potenziell ändern können. In erster Linie sind das Studien mit neutralen Ergebnissen, die wirklich wichtig sind. Zum Beispiel die MARINER-Studie mit Rivaroxaban zur Thromboembolieprophylaxe bei medizinisch hospitalisierten Patienten. Sie hat keinen wirklichen Nutzen gezeigt, vielleicht bezüglich symptomatischer venöser Thromboembolien – aber das ist schwierig zu sagen. Wenn der primäre Endpunkt negativ ist, muss man mit Subgruppenanalysen vorsichtig sein. Auch die Commander-HF-Studie hat für Patienten mit Herz-
Studien mit neutralem Ausgang sind keine «negativen» Studien. Das sind Studien, aus denen wir extrem viel lernen.
insuffizienz ohne (!) Vorhofflimmern keinen Nutzen für Rivaroxaban gezeigt. Es reduzierte zwar die Schlaganfallrate, von denen es nur wenige gab, aber im kombinierten primären Endpunkt, bestehend aus Gesamtsterblichkeit, Herzinfarkt und Schlaganfall, hat man keinen Unterschied gesehen. Vor zehn Jahren noch haben wir alle Patienten mit schwerer Herzinsuffizienz antikoaguliert, auch wenn sie kein Vorhof-
flimmern hatten. Das ist für Vitamin-K-Antagonisten bereits vom Tisch, für Rivaroxaban nun auch, und ich denke nicht, dass eines der anderen NOAK in dieser Indikation noch untersucht werden wird. Ich glaube, diese Patienten profitieren einfach nicht von einer Antikoagulation. Man muss nur aufpassen, dass man kein Vorhofflimmern übersieht, Patienten mit Herzinsuffizienz und Vorhofflimmern profitieren sehr von einer Antikoagulation. Sie haben ein deutlich höheres Schlaganfallrisiko als diejenigen ohne Vorhofflimmern.
Was gibt es aus dem Bereich der Primärprävention Neues zu berichten? Da gab es zunächst zwei negative Studien für Acetylsalicylsäure. Das ist einmal die ASCEND-Studie, die Patienten mit Diabetes mellitus untersucht hat, sowie die ARRIVE-Studie bei Patienten mit kardiovaskulärem Risiko, beide sehr interessant. ASS reduzierte die kardiovaskulären Endpunkte zwar etwas, aber die Patienten hatten darunter ein deutlich erhöhtes Risiko für Blutungen, vor allem gastrointestinale Blutungen, und letztlich hob sich das wechselseitig auf. Das waren Riesenstudien, ein riesiger Effort. Solche Studien durchzuführen ist extrem wichtig, denn das gibt uns die notwendige Evidenz, um unseren Patienten das Richtige vorzuschlagen. Ob es Gruppen geben wird, die vielleicht doch profitieren, Hochrisikogruppen, das müssen jetzt weitere Subgruppenanalysen zeigen. Aber primär, für Patienten mit Diabetes mellitus sowie für Patienten mit moderatem kardiovaskulären Risiko, ist ASS in der Primärprophylaxe jetzt mal vom Tisch.
Was ist Ihnen sonst noch aufgefallen? Hochinteressant war auch noch die MITRA-FR-Studie. Diese untersuchte den Einsatz des Mitraclips bei funktioneller Mitralinsuffizienz – einer sekundären Insuffizienz, die aus einer Herzinsuffizienz resultiert. Dort haben wir, trotz hoher Ereignisraten von etwa 25 Prozent, beim primären Endpunkt überhaupt keinen Nutzen gesehen, weder was Symptome noch was den Endpunkt angeht. Bei dieser Situation mit schwerer Herzinsuffizienz und schwerer funktioneller Mitral-
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insuffizienz scheint die Herzinsuffizienz das Hauptproblem, die wir vorrangig behandeln müssen; «das Loch zu schliessen» ist hier sehr wahrscheinlich nicht die entscheidende Massnahme. Man muss allerdings bedenken, dass diese Patienten alle sehr krank waren. Ob bei weniger weit fortgeschrittener Erkrankung eine perkutane Mitralklappenrekonstruktion sinnvoll sein kann, werden weitere Studien zeigen (inkl. CoAPT und RESHAPE).
Gab es auch etwas, das Ihnen positiv aufgefallen ist? Ich war in einer ganze Reihe von Sessions zum Vorhofflimmern involviert, da und auch in anderen Vorträgen war ich sehr positiv überrascht davon, wie viele Menschen sich dafür interessieren. Die Sessions waren voll, es gibt ein grosses Interesse, die Praxis zu verbessern. Das ist sehr erfreulich und ausgesprochen wichtig. Was an dieser Stelle noch einmal ganz klar gesagt werden muss: Studien mit neutralem Ausgang sind keine «negativen» Studien. Das sind Studien, aus denen wir extrem viel lernen. Wenn die Fragestellung relevant, die Studie gut gepowert und sauber durchgeführt ist, ist das Ergebnis ein Stück weit sekundär, denn es wird so oder so unsere Praxis verändern. Wenn wir jetzt zum Beispiel in der Primärprävention seltener Acetylsalicylsäure geben, werden wir Blutungskomplikationen verhindern. Mir tut es immer ein wenig leid für die Patienten, wenn eine gute Idee sich nicht bewährt. Im Prinzip möchte man ja Studien machen, um den Patienten mehr anbieten zu können, um ihre Beschwerden zu verbessern oder ihr Leben zu verlängern – aber das ist Teil unserer Medizin. Besser, als die Studie nicht zu haben und eine Praxis weiter zu verfolgen, die möglicherweise Schaden anrichtet.
Wir können im Alltag eine Menge für viele unserer Patienten tun – aber wir müssen es dann auch machen.
Es gab ein paar neue Guidelines, wie relevant sind diese für die Praxis? Das sind zum Teil hochrelevante Guidelines für die Praxis. Zwei Beispiele: Die Guideline über kardiovaskulären Erkrankungen in der Schwangerschaft ist eine sehr schwierig zu schreibende Guideline, da es hier sehr wenig Evidenz gibt. Schwangere Frauen sind eine ganz besondere Population, für die nicht viele Forschungsergebnisse vorliegen, und es geht in der Regel gleichzeitig um zwei Leben. Eine ganz schwierige Konstellation, egal ob die Frauen bereits mit kardiovaskulären Problemen in die Schwangerschaft gehen oder erst im Verlauf kardiovaskuläre Probleme auftreten. Die Guideline betrifft zwar nicht ganz so viele Patientinnen, aber sie ist dennoch sehr wichtig. Um viel mehr Patienten geht es bei der neuen HypertonieGuideline, handelt es sich doch bei der Hypertonie um eine Volkserkrankung. Auch diese Guideline ist wichtig für die Praxis, zumal es ja hier eine grosse Kontroverse zwischen den
amerikanischen und den europäischen Richtlinien gibt, vor allem was die untere Grenze der Hypertonie angeht. Die Europäer sind deutlich zurückhaltender, und ich persönlich denke auch, dass die Evidenz eher für den europäischen Ansatz spricht – aber ich fürchte, dazu ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.
Wie sieht es mit der Guideline zu den Synkopen aus? Auch die Synkopenabklärung und -behandlung ist für den Hausarzt ein wichtiges Thema, denn Synkopen sind auch in der hausärztlichen Praxis extrem häufig. Die Guideline wurde erstmals am EHRA-Kongress im März vorgestellt, aber am ESC hier weiter diskutiert. Ein wichtiges Dokument, und ich kann jedem nur empfehlen, sie einmal zu lesen und später griffbereit zu haben.
Stichwort Digital Health: Viele Veranstaltungen waren diesem Thema gewidmet. Werden die Entwicklungen in diesem Bereich den Arzt letztlich überflüssig machen? Digital Health ist ein grosses Thema, ich denke, hier geht es in erster Linie darum, die Weichen richtig zu stellen und wichtige Regulationen in die Wege zu leiten. Man darf dabei eines nicht vergessen: «Big Data», oft negativ konnotiert, beinhaltet auch ein Riesenpotenzial. Die künstliche Intelligenz wird immer besser, Beispiele aus der Radiologie oder auch in der EKG-Befundung gibt es zuhauf. Aber sie wird uns auch nie überflüssig machen, glaube ich, denn die Entscheidung, was am Ende gemacht werden muss, ist immer eine individuelle, und wird immer den menschlichen Faktor brauchen – aufseiten des Patienten sowie aufseiten des Arztes.
Haben Sie vielleicht ein konkretes Beispiel? Ein konkretes Beispiel dazu liefert das Vorhofflimmerscreening, sei es durch Apps oder Wearables. Beim Aufspüren von Vorhofflimmern sind wir hier schon ganz gut. Aber das Entscheidende sind dann doch die Implikationen, was muss man mit einem solchen Fund machen? Beim wirklich asymptomatischen Vorhofflimmern wissen wir derzeit noch zu wenig, was die Antikoagulation angeht oder die Rhythmuskontrolle – sollten wir etwas geben oder gar abladieren? Hier fehlt es an Studien, aber das wird kommen, da arbeiten wir dran.
Haben Sie noch eine Botschaft für die Hausärzte?
Wir können im Alltag eine Menge für viele unserer Patienten
tun – aber wir müssen es dann auch machen. Gutes Beispiel
ist die Antikoagulation bei Vorhofflimmern, das tangiert uns
alle. Es lohnt sich, sich mit dem komplexen Gebiet mit vier
verfügbaren NOAK zu beschäftigen. Daten aus Schweden
haben gezeigt, dass in den letzten Jahren der Anteil antiko-
agulierter Patienten stark zugenommen und gleichzeitig die
Zahl der Schlaganfälle abgenommen hat, ohne dass wir viel
mehr Blutungen sehen. Das Feld ist komplex – aber es lohnt
sich, hier aktiv zu werden, denn damit machen wir wirklich
etwas Gutes für unsere Patienten.
L
Das Interview führte Christine Mücke.
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