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GESCHICHTE DER ERNÄHRUNG IN DER SCHWEIZ
Wie kam das Jod ins Salz?
Eine Präventionsgeschichte (1820–1930)
Pascal Germann
Pascal Germann
Wer im Supermarkt Speisesalz kauft, findet in der Regel auf der Packung den Zusatz «mit Jod». Hinter diesem unscheinbaren Hinweis verbirgt sich eine der erfolgreichsten Gesundheitsmassnahmen in der Schweiz des 20. Jahrhunderts: die sogenannte Jodsalzprophylaxe. Mit der staatlichen Verordnung, dem Kochsalz eine kleine Dosis Jod beizufügen, fand man ein effektives Mittel, um einem der grössten Gesundheitsprobleme in den Alpenländern vorzubeugen. Gemeint sind der endemische Kropf und seine Begleiterscheinungen, die von Minderwuchs, Schwerhörigkeit und Taubheit bis zum Kretinismus reichten – eine durch geistige Retardierung und Zwergwuchs gekennzeichnete Entwicklungsstörung.
Die Schweiz war von diesen Leiden, die auf einen ört-
lich bedingten Jodmangel zurückzuführen sind, be-
sonders betroffen. Bei Anfang der 1920er-Jahre
Das Jod erfuhr seit
durchgeführten Schuluntersuchungen im Kanton
seiner Entdeckung sehr widersprüchliche kulturelle Deutungen, die bis weit ins 20. Jahrhundert
Bern wurde bei 94 Prozent der Schulkinder eine vergrösserte Schilddrüse festgestellt (1). Medizinische Studien aus dem 19. Jahrhundert berichten zudem von einer enormen Verbreitung des Kretinismus: In einigen Bergdörfern soll bis zu ein Drittel der Bevölkerung unter dieser angeborenen Krankheit gelitten
immer wieder zu
haben. Militärstatistiker schliesslich kamen ab den
Kontroversen führten.
1880er-Jahren zu dem Schluss, dass der Kropf und die mit ihm assoziierten Pathologien die Hauptursache
für die grossen Untauglichkeitsziffern der Schweizer
Armee bilden (2, 3). Vor diesem Hintergrund schrie-
ben staatliche Behörden der Bekämpfung von Kropf
und Kretinismus eine hohe Priorität zu.
Es gibt nur wenige Krankheiten, die in den Alpenlän-
dern so intensiv erforscht wurden wie diese ende-
misch verbreiteten Pathologien. Bereits zu Beginn des
19. Jahrhunderts existierte ein erstaun-
lich breites empirisches Wissen über die
L’histoire de l‘iode dans le sel
beiden Krankheiten. Früh erkannte
man, dass sie aufgrund ihres örtlichen
Mots clés: Iode – thyroïde – sel iodé – goitre –
Vorkommens dieselben Ursachen ha-
histoire de la prévention – pays alpins
ben müssen, und Berichte über die po-
sitive Wirkung von Jod kursierten
Le sel de table vendu dans les supermarchés
schon um 1820. Dennoch sollte es mehr
porte en général la mention « contient de l’iode
als 100 Jahre dauern, bis sich mit der
» sur l‘emballage. Cette mention discrète cache
Jodsalzprophylaxe eine breit angelegte
l’un des grands succès de la santé publique au
Präventionsmassnahme durchzusetzen
20e siècle en Suisse, la prophylaxie par l‘iode.
begann. In einem der wenigen Beiträge
Son histoire montre comment l’alimentation est
zur Geschichte der Jodsalzprophylaxe
devenue un objet de la science et illustre l’ap-
spricht der Medizinhistoriker Friedrich
parition d‘un nouveau concept des maladies.
Merke deshalb von einer «hundertjäh-
rigen Leidensgeschichte», die «pein-
lich» berühre, da Mediziner bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts den «richtigen Weg» gezeigt hätten, den man «erst nach mehr als hundert Jahren gegangen» sei (4). Eine solche Deutung impliziert eine Kontinuität, einen «Weg», auf dem die Medizin voranschreite und ihre Fortschritte erziele. Demgegenüber möchte der Beitrag den historischen Wandel von medizinischem Wissen betonen. Krankheiten sind keine fixen Entitäten, die darauf warten, entdeckt und kuriert zu werden. Vielmehr sind sie stets an sich historisch verändernde Konzepte gebunden, die bestimmte Aspekte körperlichen Geschehens beleuchten und andere ausblenden. Um 1820 existierte noch kein Konzept der Mangelkrankheit, und wesentliche Entwicklungen der modernen Medizin standen der Genese eines solchen Konzepts entgegen. Die Auffassung, dass der Mangel bestimmter Mikronährstoffe die Ursache für schwerwiegende Krankheiten sein könnte, blieb deshalb lange Zeit nicht vorstellbar.
Jodtheorie und multifaktorielle Ätiologie
Das Jod erfuhr seit seiner Entdeckung sehr widersprüchliche kulturelle Deutungen, die bis weit ins 20. Jahrhundert immer wieder zu Kontroversen führten. Einerseits galt es als schreckliches Gift, andererseits wurde es als Wundermittel gegen unterschiedlichste Leiden gepriesen. Diese gegensätzliche Bewertung des Jods fand auch Eingang in die Kropfund Kretinismusforschung. 1820 und 1821 veröffentlichte der Genfer Arzt Jean-François Coindet drei enthusiastische Artikel: Darin berichtet er über seine erfolgreichen Versuche, Jod als Heilmittel gegen Kropf einzusetzen. Coindets Artikel fanden ein breites Echo, und Apotheker profitierten von einem massiv steigenden Absatz von Jodprodukten, die jedoch nicht nur
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als Kropfmittel, sondern beispielsweise auch als Aphrodisiakum beworben wurden. Bald schon kursierten auch Berichte über fatale Nebenwirkungen des Jods. Schwere Vergiftungen und sogar Todesfälle wurden dokumentiert, die wohl auf Überdosierungen zurückzuführen sind. 1821 verbot deshalb die Stadt Genf, jodhaltige Substanzen zu verkaufen (5). Trotz solcher Rückschläge blieb Jod in der medizinischen Kropf- und Kretinismusdiskussion präsent. Der französische Chemiker Jean Baptiste Boussingault berichtete 1825 von seiner Beobachtung, dass das Salz in Kropfgebieten stets arm an Jod sei, und folgerte daraus, dass genügend Jod das Auftreten von Kropf und Kretinismus verhindere (4). Sowohl Coindet als auch Boussingault waren jedoch nicht Begründer der Jodmangeltheorie, sondern hielten Jod für ein Medikament, das vorbeugend und heilend wirke (6). Um die Jahrhundertmitte tauchte in Frankreich indessen eine neue Jodtheorie auf. Der Mediziner und Botaniker Gaspar Adolphe Chatin kam in seinen chemischen Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass je häufiger Kropf und Kretinismus in einem Gebiet aufträten, desto geringer dort das Jodvorkommen in Luft, Wasser und Nahrungsmittel sei. Diesen Jodmangel hielt Chatin nun für die primäre Ursache der Erkrankungen (6: S. 28–33). Der Pariser Professor war jedoch seiner Zeit weniger voraus, als es scheint. Im Unterschied zu den Vertretern der Mangeltheorie der 1920er-Jahre, die Jodmangel als «alleinige Ursache» des Kropfes bezeichneten (7: S. 16), bettete er seine Jodtheorie in eine multifaktorielle Ätiologie ein. So liess er neben dem Jodmangel auch klimatische, hygienische und soziale Faktoren als krankheitsverursachende Faktoren gelten. Eine solche Sichtweise entsprach den damaligen medizinischen Auffassungen. Kropf und Kretinismus galten als durch eine Vielzahl von geografischen und sozialen Einflüssen bedingte Krankheiten. Diese reichten von mangelnder Hygiene, schädlichem Trinkwasser, feuchtem Klima, spezifischer Boden- und Luftbeschaffenheit, schlechter Ernährung und Inzucht bis zu sozialen Missständen wie Wohn- und Arbeitsverhältnissen, fehlender Schulbildung und moralischer Verwahrlosung. Ebenso vielfältig wie die angenommenen Ursachen waren die vorgeschlagenen Massnahmen: Dazu zählten pädagogisch-diätetische Programme, die mittels frischer Luft, körperlicher Bewegung und Schulbildung Patienten behandeln wollten, aber auch soziale und politische Reformen, welche die Armut beseitigen sowie Hygiene und Ernährungslage verbessern sollten (8). Die multifaktorielle Krankheitserklärung hatte den Vorteil, dass sie sehr unterschiedliches empirisches Wissen in die ätiologischen Theorien über Kropf und Kretinismus integrieren konnte, so auch Wissen über Jod und Jodmangel. Zugleich galt der Jodmangel aber nur als eine Ursache unter vielen. Typisch war etwa eine 1855 veröffentlichte Abhandlung des Mediziners Franz Köstl. Als Ursache des Kretinismus bezeichnete er «das Convolut aller endemischen Einflüsse (Gebirge und seine Eigenthümlichkeiten) einer bestimm-
ten Gegend» (9: S. 102). Dementsprechend schlug er am Schluss seines Buches nicht weniger als 38 Massnahmen vor, um den Kretinismus zu bekämpfen. Dabei nannte er auch die Jodierung des Kochsalzes. Ab den 1860er-Jahren gerieten die multifaktorielle Krankheitserklärung und ihre Therapie- und Präventionsprogramme zusehends unter Kritik. An Akzeptanz verlor auch die Jodmangeltheorie, da neue chemische Untersuchungen die Resultate von Chatin nicht bestätigen konnten. Die Chatin-Lehre wurde nun oft im gleichen Atemzug zurückgewiesen wie die nun als veraltet geltenden pädagogisch-diätetischen Konzepte (10: S. 448).
Moderne Medizin und epistemologische Hindernisse
In den 1880er-Jahren kam es zu einem eigentlichen Paradigmenwechsel in der Kretinismusforschung. Ein neues Krankheitskonzept setzte sich durch, das die multifaktoriellen Ätiologien nun definitiv ersetzte. Es führte den Kretinismus auf eine einzige organische Ursache zurück, nämlich auf ein Versagen der Schilddrüse. Zu verdanken ist dieses neue Krankheitsparadigma insbesondere den Forschungen des Berner Chirurgen Theodor Kocher. Aufgrund langjähriger Patientenbeobachtungen stellte er fest, dass Patienten, denen er bei Kropfoperationen die gesamte Schilddrüse entfernt hatte, Symptome des Kretinismus entwickelten. In der Folge wurden in zahlreichen Tierversuchen Kochers «Fehlbehandlungen» wiederholt, indem man den Tieren unter Laborbedingungen die Schilddrüse entfernte. Diese Laborexperimente bestätigten schliesslich die Beobachtungen Kochers und stabilisierten eine neue Krankheitsauffassung, die heute noch gültig ist: Kropf und Kretinismus wurden nun beide auf eine Unterfunktion der Schilddrüse zurückgeführt (8, 11). Die sozialen Deutungen der Krankheiten verschwanden damit weitgehend. «Weder mangelhafte Nahrung noch ungesunde Wohnungen, noch Elend und Armuth jeder Art» seien Ursachen für Kropf und Kretinismus, hielt Theodor Kocher fest (12: S. 611). Der Staat wurde damit von den ihm zugedachten sozialund gesundheitspolitischen Aufgaben entlastet und die Lösung des Problems ganz den Ärzten anvertraut. Wer Kretinismus im Labor erzeugen konnte, dem traute man auch seine Kontrollierung in der «Natur» zu (8). Dieser Optimismus war indessen verfehlt. Unklar blieb nämlich, wie es zu den Schädigungen der Schilddrüse kam, die nun für Kropf und Kretinismus verantwortlich gemacht wurden. Anders als bisweilen behauptet, führten Kochers Forschungen und die organische Neudefinition der Krankheiten nicht zu einem erneuten Aufschwung der Jodmangeltheorie. Vielmehr galt diese nun als ebenso unhaltbar wie andere Krankheitstheorien, welche die Ursachen von Kropf und Kretinismus in den Lebens- und Umweltverhältnissen der Menschen suchten. In der 1909 erschienenen zweiten Auflage von Carl Anton Ewalds
Kropf und Kretinismus galten als durch eine Vielzahl von geografischen und sozialen Einflüssen bedingte Krankheiten.
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Die Bakteriologie stellte ein Hindernis für die Vorstellung von Mangelkrankheiten dar.
Lehrbuch über die Schilddrüsenkrankheiten, einem damaligen Standardwerk, erledigte der Autor die Jodmangeltheorie in wenigen Worten. Die Ursache einer Krankheit in der «Abwesenheit bestimmter Stoffe» zu suchen, sei völlig abwegig. Man könne «sich nur darüber wundern, wie viel Zeit auf Dinge in der Kropffrage verwendet ist, deren Haltlosigkeit auf der Hand liegt» (13: S. 89f.). Stattdessen hielt Ewald fest, es könne «kaum einem Zweifel unterliegen, dass (…) der Kropf und der ihm eng verwandte Kretinismus zu den Infektionskrankheiten zu rechnen sind» (13: S. 78). Der Berliner Medizinprofessor fasste damit die damals dominante Auffassung zusammen. Während der Hochphase der Bakteriologie zwischen 1880 und 1920 war die Mehrheit der Mediziner – so auch Theodor Kocher – überzeugt, dass eine im Trinkwasser vorkommende Mikrobe die Schilddrüsen schädigen und damit Kropf und Kretinismus verursachen würde. Die Forschung konzentrierte sich deshalb auf die Jagd nach einem Bakterium oder Virus. Obwohl die intensive Suche nach dem Kropferreger keine Erfolge zeitigte, hielt sich die Infektionstheorie hartnäckig. Ewald versicherte beispielsweise, das Auffinden der Mikrobe sei «nur noch eine Frage der Zeit» (13: S. 94). Die Bakteriologie stellte ein Hindernis für die Vorstellung von Mangelkrankheiten dar. Infektionskrankheiten bildeten in der Ära der Bakteriologie das Krankheitsparadigma schlechthin. Dieses lieferte die Vorbilder dafür, wie eine Krankheit zu konzeptualisieren, zu erforschen und auch zu bekämpfen war. Die Praktiken der Bakteriologie konstituierte Wahrnehmungsgewohnheiten, die in den Körper gelangende Mikroeinheiten als Fremdkörper identifizierten. So wurde auch das Jod lange Zeit einerseits als Gift und andererseits als Medikament gedeutet, während es gerade zu den Voraussetzungen der Jodmangeltheorie gehörte, Jod als einen notwendigen Bestandteil unseres Körpers und unserer Nahrung anzuerkennen. Auch die Ernährungswissenschaft stützte die Vorstellung von Mangelkrankheiten lange Zeit nicht. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die Ernährung nämlich insbesondere unter einem energetischen Gesichtspunkt betrachtet. Nicht zuletzt aufgrund der Erfordernisse der industriellen Fabrikarbeit stand dementsprechend die Frage im Zentrum, wie dem Körper durch Ernährung genügend Energie zugeführt werden könne. Mithin fokussierte die Ernährungswissenschaft auf die quantitativen Aspekte der Ernährung und auf die drei grossen organischen Nährstoffgruppen (Proteine, Fette, Kohlenhydrate) (14). Dabei blieben die qualitative Wirkung und die stoffliche Ebene der Ernährung tendenziell ausgeblendet. Dieses Primat des Energetischen und Quantitativen in der Ernährungswissenschaft stellte neben der Bakteriologie ein weiteres Hindernis für die Akzeptanz der Jodmangeltheorie dar.
Das Konzept der «deficiency diseases»
In der Ernährungslehre kam es indessen um 1910 zu einem Paradigmenwechsel. Dieser Wendepunkt
beschrieb insbesondere eine neue Hinwendung zu qualitativen und stofflichen Aspekten der Ernährung. Vor allem aufgrund von Forschungen über die ab 1912 sogenannten Vitamine rückten Mikronährstoffe, welchen man nun eine lebenswichtige Funktion zuschrieb, ins Zentrum des Interesses (14: S. 81–83). In diesem Zusammenhang reifte in der Medizin die experimentell gestützte Vorstellung, dass eine Unterversorgung an spezifischen Nährstoffen bestimmte Krankheiten hervorrufen kann, obgleich eine ausreichende Energiezuführung gewährleistet bleibt. Daraus bildete sich das Konzept der «deficiency diseases», das sich schliesslich als eigenständige Krankheitskategorie etablierte. Erst in diesem Kontext entstand die moderne Jodmangeltheorie. Im Jahr 1914 gelang dem US-amerikanischen Forscher Edward C. Kendall die Isolierung des jodhaltigen Schilddrüsenhormons Thyroxin. Damit klärte sich ein wesentlicher Zusammenhang zwischen Schilddrüsenfunktion und Jod. Zur gleichen Zeit plädierte der Schilddrüsenforscher David Marine nach erfolgreichen Tierversuchen für eine Jodierung des Kochsalzes, um dem Kropf vorzubeugen. Seine Forderungen führten schliesslich im Bundesstaat Ohio erstmals zur Einführung einer Jodsalzprophylaxe (4: S. 51 f.). Die «Wiederentdeckung» beziehungsweise «Neuerfindung» der Jodmangeltheorie ging aber insbesondere auf Arbeiten von Schweizer Medizinern zurück, sodass sie in der medizinischen Literatur oft als «Schweizer Theorie» verhandelt wurde (15: S. 1). 1915 veröffentlichte Heinrich Hunziker, ein Hausarzt aus dem Dorf Adliswil, einen Artikel, in welchem er die These aufstellte, der Kropf sei eine Anpassung des Körpers an jodarme Nahrung. Der Kropf erhielt dabei gegenüber der Infektionstheorie, die Hunziker zurückwies, eine positive Umdeutung: Je gesunder eine Schilddrüse, «desto kropffähiger» müsse sie sein. «Ihre Anpassungsfähigkeit sichert dem Körper das Jodgleichgewicht auch unter ungünstigen äusseren Verhältnissen» (16: S. 17). Wenn nun eine Frau mit einer «negativen Jodbilanz» schwanger und die Schilddrüse aus verschiedenen Gründen «nicht mehr tüchtig zur Strumabildung» sei, leide der Fötus bereits intrauterin an Jodmangel. Diese Unterversorgung an Jod in den Fötalmonaten führe schliesslich zu Kretinismus (16: S. 21 f.). Der Adliswiler Hausarzt formulierte damit wesentliche theoretische Grundlagen für die moderne Jodprophylaxe. Ein weiterer Allgemeinpraktiker, der Walliser Arzt Otto Bayard, schloss sich sofort der neu formulierten Jodmangeltheorie an. Er subsumierte nun Kropf und Kretinismus unter das neue Krankheitskonzept der «deficiency diseases» (17). Der in Zermatt tätige Arzt führte seit 1918 in verschiedenen Walliser Gemeinden Versuche mit unterschiedlich dosiertem Jodsalz durch und trug damit massgeblich zur empirischen Fundierung der Jodmangeltheorie bei. Der dritte bedeutende Protagonist der Jodsalzprophylaxe war der Chirurg Hans Eggenberger, der im Spital Herisau im Kanton Appenzell Ausserrhoden arbeitete. Er führte in seinem Kanton ähnliche empirische Versuche durch wie
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Bayard, trug in einer Serie von Artikeln die bisherigen Forschungsresultate zur Jodprophylaxe zusammen und lancierte eine breite, öffentliche Kampagne für die Jodierung des Kochsalzes (18). Es ist bemerkenswert, dass die drei wichtigsten Pioniere der Jodsalzprophylaxe weder an einer Universität noch einem der grossen Spitäler tätig waren. Zum einen liess ihre Ferne zu den wissenschaftlichen Zentren eine stärkere Offenheit zu, da die universitäre Kropfforschung stark bakteriologisch geprägt war. Zum anderen verfügten Hausärzte über ein breites Patientenwissen: Dazu gehörten auch Informationen über den Wohnort und die soziale Lage, die wichtige epidemiologische Hinweise liefern konnten.
Eine vergessene Präventionsgeschichte
Obwohl nicht wenige Kritiker weiterhin vor Jodvergiftungen warnten und an der Infektionstheorie festhielten, vermochten sich die Verfechter der Jodsalzprophylaxe schliesslich durchzusetzen. Den Anfang machte der Kanton Appenzell Ausserrhoden: Im Jahr 1922 führte der Kanton – erstmals in Europa – eine staatlich verordnete Jodsalzprophylaxe ein. In den folgenden Jahren zogen zahlreiche Kantone nach, bis schliesslich um 1930 in allen Kantonen jodiertes Salz gekauft werden konnte. Diese staatliche Präventionsmassnahme trug massgeblich zum rapiden Rückgang von Kropf und Kretinismus in der Schweiz bei. Nach 1930 wurde bei Neugeborenen kein einziger Fall von Kretinismus mehr festgestellt, und die Kropfrate bei Schulkindern ist heute unter 5 Prozent gesunken (19, 20). Angesichts der Erfolge galt die Schweizer Jodsalzprophylaxe bald als vorbildlich. Das Präventionsmodell setzte sich zunehmend weltweit durch. Erfolge der Medizin werden gewöhnlich ausgiebig gefeiert und – beispielsweise mittels Jubiläen oder Namensgebungen – in Erinnerung behalten. Nicht so im Fall der Jodsalzprophylaxe: Ihre Geschichte ist kaum bekannt, und die damals beteiligten Mediziner wurden weder mit Preisen ausgezeichnet noch mit bedeutenden öffentlichen Ehrungen bedacht. Die Namen Hunziker, Eggenberger und Bayard sind heute kaum noch bekannt. Zu Letzterem findet sich nicht einmal ein Eintrag im Historischen Lexikon der Schweiz. Es kann vermutet werden, aus welchen Gründen ein öffentliches Erinnern weitgehend ausblieb. Erstens werden Erfolge der Medizin vor allem gefeiert und öffentlich erinnert, wenn sie von einflussreichen und finanzkräftigen Institutionen als Marketinginstrument genutzt werden. Die Protagonisten der Jodprophylaxe hatten jedoch – wie gezeigt – keine mächtigen Spitäler oder Universitäten hinter sich. Ein zweiter Grund liegt darin, dass die Geschichte der Jodsalzprophylaxe sich nur schwer in eine Fortschrittserzählung der modernen Medizin einfügen lässt, zumal die seit den 1880er-Jahren einsetzende Hinwendung zur modernen Labormedizin zunächst die «Wiederentdeckung» der Jodmangeltheorie hemmte. Drittens passt der Erfolg der staatlichen Jodsalzprophylaxe nicht zu gegenwärtigen, neoliberal geprägten Gesundheitsdiskursen,
welche die Selbstverantwortung von gesundheitsbewussten Individuen betonen. Die zunehmend zentrale Rolle, die der Staat bei der Verbesserung der Gesundheit im 20. Jahrhundert spielte, findet wenig Beachtung (21). Mit der Einführung der Jodprophylaxe in der Schweiz erhielt der Staat aber eine neue gesundheits- und ernährungspolitische Aufgabe, die seinen bisherigen Tätigkeitsbereich ausweitete: Erstmals zielte eine breit eingeführte staatliche Massnahme darauf ab, die Gesamtbevölkerung mit einem lebensnotwendigen Nährstoff zu versorgen. Der Eingriff erwies sich als so effektiv, dass er nie mehr grundsätzlich infrage gestellt werden konnte.
Korrespondenzadresse: Dr. Pascal Germann Institut für Medizingeschichte der Universität Bern Bühlstrasse 2 3000 Bern 9 E-Mail: pascal.germann@img.unibe.ch
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