Transkript
EDITORIAL
Mit «inneren Rhythmen» zum Nobelpreis
A m 2. Oktober 2017 wurde der Nobelpreis für Medizin oder Physiologie an Jeffrey C. Hall, Michael Rosbash und Michael W. Young verliehen. Die drei Wissenschaftler wurden geehrt «für ihre Entdeckungen über molekulare Mechanismen, die den zirkadianen Rhythmus kontrollieren». Bereits vor der Entstehung der modernen Genetik hatten Forscher durch die reine Beobachtung der Natur verstanden, dass eine Reihe von physiologischen Rhythmen und Verhaltensrhythmen im ungefähren 24-Stunden-Takt (zirkadiane Rhythmen genannt) stattfinden, und dass dies an einer inneren biologischen Uhr liegen muss. Aber erst vor wenigen Jahrzehnten erkannten Forscher auch den wissenschaftlichen Zusammenhang: Bei Säugetieren befindet sich eine zirkadiane «Uhr» im Bereich des vorderen Hypothalamus, dem suprachiasmatischen Kern (SCN). Da auch einzellige Organismen solche Rhythmen generieren und die Untersuchung von Mutationen in der DNA von Fliegen, Pilzen oder Pflanzen ergab, dass einzelne Gene die Periode der Uhr regulieren, wurde deutlich, dass zirkadiane Rhythmen durch intrazelluläre Ereignisse erzeugt werden. Die grundlegenden Mechanismen, mit denen Gene, Proteine und zelluläre Prozesse präzise zirkadiane Oszillationen generieren, waren dadurch aber noch immer nicht bekannt, und in höheren Organismen wurden keine zirkadianen «Uhr-Gene» identifiziert. 1984 konnten Jeffrey Hall und Michael Rosbash dann das erste involvierte Gen (period) isolieren. Sie entdeckten auch, dass PER, das Protein, das von diesem Gen codiert wird, die Aktivität des Gens selbst durch eine hemmende Rückkopplungsschaltung blockiert. Auf diese Weise verhindert das PER-Protein seine Synthese und reguliert sein Niveau in einem kontinuierlichen 24-Stunden-Zyklus, in dem es sich über Nacht akkumuliert und während des Tages abbaut. 1994 entdeckte Michael Young ein weiteres, an der Regulation der biologischen Uhr beteiligtes Gen (timeless), für das TIM-Protein codiert. TIM bindet an PER und ermöglicht es so dem Proteinkomplex, vom Zytoplasma in den Zellkern einzudringen, in dem sich die DNA befindet. Heute sind Dutzende von zirkadianen Uhr-Genen bekannt, welche die zyklische Produktion von Messenger-RNA und Proteinen durch transkriptionelle und translationale Rückkopplungsschleifen regulieren.
Es ist nun auch bekannt, dass Uhr-Gene in fast allen Zellen des Körpers exprimiert werden, nicht nur im SCN, und dass die molekulare Uhr die Expression von Hunderten von «Uhr-gesteuerten Genen» reguliert. Daher ist die zirkadiane Synchronisation innerhalb der Zelle und zwischen Organsystemen des gesamten Körpers entscheidend für Gesundheit und Wohlbefinden. Ein Zusammenbruch dieser 24-stündigen zeitlichen Ordnung hingegen kann zu pathologischen Zuständen führen. Obwohl gestörte zirkadiane Rhythmen, einschliesslich eines gestörten Schlaf-Wach-Rhythmus, oft nur als Krankheitssymptome angesehen werden, gibt es zunehmend wissenschaftliche Evidenz, dass diese Störungen zur Entstehung, Entwicklung und Schwere von Krankheitszuständen beitragen können. Dazu zählen unter anderem psychiatrische und neurologische Störungen, Obesitas und Diabetes, kardiovaskuläre und gastrointestinale Erkrankungen. Der psychiatrische Schwerpunkt dieser Ausgabe befasst sich mit Schlafstörungen. Im Beitrag von Corrado Garbazza und Christian Cajochen (Seite 4) wird der Frage nachgegangen, wie die Desynchronisation der inneren Rhythmen zur Krankheitsentstehung, zum Krankheitsverlauf und zur Chronifizierung der Krankheit beitragen kann. Im Beitrag von Thorsten Mikoteit wird dargelegt, wie Schlafstörungen psychische Funktionen beeinträchtigen, und Christian Imboden zeigt auf, wie wichtig es ist, Schlaf in den Behandlungsplan miteinzubeziehen (Seite 10 und 13).
Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre!
Korrespondenzadresse: Dr. Corrado Garbazza, MD E-Mail: corrado.garbazza@upkbs.ch
5/2017
PSYCHIATRIE & NEUROLOGIE
1