Transkript
EDITORIAL
Fehler im System – die Kontroverse um Methadon zur Krebstherapie
Zunächst hatte sie – so, wie es jedem Wissenschaftler gut zu Gesicht steht – selbst gebührende Zweifel an ihren Ergebnissen: Als Claudia Friesen 2007 in ihrem Labor am Rechtmedizinischen Institut der Uniklinik Ulm erstmals beobachtete, dass Leukämiezellkulturen unter Einfluss von Methadon abstarben, dachte die Chemikerin noch, einem Irrtum aufzusitzen, vermutete einen Fehler in ihrem experimentellen Design. Doch ein solcher bestätigte sich auch nach vielfachen Wiederholungen nicht – anders als die, insbesondere in Kombination mit Chemotherapie eingesetzt, verblüffend effektive und selektive Wirkung des Opioids auf Krebszellen, speziell Glioblastomzellen, welche Friesen später auch im Tierversuch nachweisen konnte. Was folgte, waren zunehmend eskalierende, in den letzten Wochen vermehrt auch in den Medien vorgeführte, inszenierte wissenschaftliche Grabenkämpfe, ausgetragen auf dem Rücken derer, denen sich die Protagonisten eigentlich sämtlich verpflichtet fühlen sollten: den betroffenen Patienten. Während die onkologische Fachwelt auf die vielversprechenden Ulmer Resultate zunächst bestenfalls zurückhaltend reagierte, war die Resonanz bei denjenigen, die sich, bedingt durch ein weit fortgeschrittenes Stadium ihrer Krebserkrankung, an jeden noch so kleinen Strohhalm klammern, sowie bei Palliativmedizinern, die diesen Menschen nurmehr die Schmerzen lindern können, desto grösser. So fand Friesens Arbeit schon früh das Interesse von Hans-Jörg Hilscher, Leiter des Hospizes Mutter Teresa in Iserlohn, der zu den wenigen Ärzten gehört, die Methadon trotz des schlechten Rufs, der dieser Substanz wegen ihrer potenziellen Nebenwirkungen sowie ihrer überwiegenden Verwendung als Ersatzstoff zur Behandlung von Heroinabhängigen vorauseilt, seit längerer Zeit schmerztherapeutisch einsetzen. Doch Hilscher wollte auch festgestellt haben, dass seine Patienten deutlich länger lebten als diejenigen in anderen Hospizen. Er gab ihnen daraufhin Methadon zusätzlich zum Chemotherapeutikum Methotrexat, sah klinische Verbesserungen und tat sich zur Untermauerung dieser Resultate mit Friesen zusammen. Diese wiederum konnte im Laufe der nächsten Jahre rund 350 Fälle von Tumorpatienten mit infauster Prognose dokumentieren, deren Zustand sich unter im Rahmen von sogenannten Heilversuchen abgegebenem Methadon wider Erwarten gebessert hatte. Wer will es Krebspatienten verdenken, ob solcher Nachrichten ihre behandelnden Ärzte in Scharen nach einer solchen Thera-
pie zu fragen? Gewiss handelt es sich bis anhin lediglich um Einzelfälle, aus denen allein sich nach der – vernünftigerweise – etablierten «good clinical practice» noch keinerlei Behandlungsempfehlungen ableiten lassen. Dies hat auch Frau Friesen selbst nie bestritten. Das ändert aber nichts daran, dass diese Fallberichte für Methadon wie für kaum eine andere Substanz in der letzten Dekade das Potenzial vermuten lassen, dass man mit ihr tatsächlich klinische Erfolge erzielen kann, welche sich nicht auf Wochen oder Monate zusätzlicher Überlebenszeit beschränken. Von daher war es (folge)richtig, dass Frau Friesen die mediale Öffentlichkeit sucht und findet und vice versa. Und weitgehend nachvollziehbar, wenn auch sicher unklug, ist es auch, dass sie dort, gefragt nach den Gründen für ihr vergebliches Werben um Gelder für die nötigen klinischen Studien, ihrer Argumentationskette als wesentliches Glied eine vermeintlich ausschliesslich profitorientierte Pharmaindustrie anhängte, für die das inzwischen patentfreie Methadon nicht lukrativ genug sei. Wozu aber den Kampf gegen Windmühlen führen, wenn die Gegner doch im eigenen Lager sitzen? Was reitet beispielsweise die Leitung der Uniklinik Ulm, plötzlich genau diejenigen Informationen zu den Forschungserfolgen mit Methadon auf den Internetseiten von Friesens Institut zu sperren, mit denen sie sich zuvor in zahlreichen Pressemeldungen höchstselbst gebrüstet hat? Ein schier unglaublicher Vorgang, noch dazu in einer öffentlichen Einrichtung, die im Namen der «universitas», also des «Ganzen», handelt. Es drängt sich hier einmal mehr der Eindruck auf, dass, je zahlreicher die Patienten zu Recht die Stimme erheben, die schulmedizinischen Institutionen desto mehr versuchen, sich im Elfenbeinturm hinter Regularien zu verschanzen. Wie, wenn nicht als in höchstem Masse befremdlich, können zudem die Einlassungen so manchen Vertreters der Fachgesellschaften bezeichnet werden? So ist etwa Wolfgang Wick, Sprecher der Neuroonkologischen Arbeitsgemeinschaft in der Deutschen Krebsgesellschaft (DKG) und Ärztlicher Direktor der Neurologischen Klinik und des Nationalen Centrums für Tumorerkrankungen an der Uni Heidelberg, der Ansicht, dass bei der Vielzahl von Therapiekonzepten die Fachgesellschaften keine «Holschuld» trügen. Welch ein perfider Begriff und geradezu eine verbale Backpfeife aus dem Munde eines führenden Vertreters der DKG in Richtung der Grundlagenforschung, welche einen veritablen Anteil der sie finanzierenden Mitglieder stellt . . . Warum wird allenthalben auf Distanz gegangen, wo doch sämtliche verfügbaren Indizien einen raschen Schulterschluss zum Wohle der Patienten gebieten – und zwar einen, der nicht vor nationalen Grenzen oder finanziellen Interessen Halt macht? Kann ein Engagement um der Sache willen am Ende nicht auch für ein Wirtschaftsunternehmen einen Imagegewinn bedeuten, der sogar ökonomisch Früchte trägt? Und kann das Kürzel «EBM», wenn die dahinter liegenden Strukturen nur noch blosser Selbstzweck sind, weil zu träge, um auf aktuelle Entwicklungen zum Wohle der Patienten reagieren zu können, noch für etwas anderes stehen als für «eminenzbasierte Medizin», wie der Hausarzt Hilscher es resignierend deutet? Wenn diese geradezu hanebüchene Geschichte um Frau Friesens Methadonforschung eines zeigt, dann dies: Die wirklichen Fehler stecken bisweilen nicht im Detail des betrachteten Objekts, sondern wohnen bereits denjenigen inne, die vorgeblich nach ihnen suchen.
Ralf Behrens
ARS MEDICI 14+15 I 2017
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