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BERICHT
Tumortherapie im Alter
Probleme der Polymedikation
Durch die demografische Entwicklung der letzten Jahre nimmt die Zahl der älteren Patienten stetig zu. Ältere Patienten sind häufig polymorbid und benötigen deshalb mehr Medikamente. Ist zusätzlich eine Tumortherapie notwendig, kann dies zu einer problematischen Polymedikation führen. Die Pharmazeutin Dr. Dorothee Dartsch stellte in ihrem Referat Hilfsmittel vor, um unnötige Arzneimittelverschreibungen im Alter zu vermeiden.
Marianne I. Knecht
Polymedikation
beeinflusst Tumortherapie
Ab einem Alter von 65 Jahren steigt die Zahl der verordneten Medikamente deutlich an, und ab 70 Jahren nimmt rund ein Drittel der Patienten 8 oder mehr Medikamente täglich ein. Eine schottische Studie von Guthrie et al. aus dem Jahr 2015 zeigt die altersabhängige Zunahme der Menge verordneter Medikamente deutlich auf (Abbildung) (1).
Bei Tumorpatienten verschärft sich das Problem der Polymedikation durch die medikamentöse Krebstherapie zusätzlich. Die Menge der verordneten Medikamente beziehungsweise Medikamentengruppen korreliert dabei mit der Prävalenz der am häufigsten auftretenden Komorbiditäten von Krebspatienten. Kardiovaskuläre, rheumatologische und endokrine Erkrankungen liegen an erster Stelle der Zusatzdiagnosen. Entsprechend oft werden Antihyperten-
Prozentsatz an Patienten Anzahl verordneter Medikamente
100%
90%
80%
70%
60%
50%
40%
30%
20%
10%
0% 20–24
25–29 30–34
35–39 40–44
45–49 50–54 55–59 60–64 Altersgruppen
65–69 70–74
75–79
80+
Abbildung: Die Menge verordneter Medikamente steigt mit zunehmendem Alter (Stand 2010) (nach [1]).
0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15+
siva, Diuretika, Lipidsenker und Endokrinologika, aber auch Medikamente gegen gastrointestinale Beschwerden und Schmerzen verordnet. Wie Dartsch in ihrem Referat darlegte, beeinflusst die Polymedikation auch den Verlauf der onkologischen Therapie selber. So konnte eine Studie von Sharma aus dem Jahr 2016 zeigen, dass unter Polymedikation mehr OP-Komplikationen auftreten und längere Spitalaufenthalte notwendig sind, die Toxizität der Chemotherapie verstärkt oder die Gesamtüberlebensrate verringert wird. Delirien sowie «Frailty» (Altersgebrechlichkeit) kommen ebenfalls häufiger vor (2).
Folgen der Polymedikation
Zu den Folgen der Polymedikation gehören Wechselwirkungen zwischen einzelnen oder mehreren Medikamenten untereinander. Die Kurve mit theoretisch möglichen Interaktionen steigt mit der Zunahme der Anzahl eingenommener Medikamente exponentiell an. Bei der Entstehung von Wechselwirkungen spielen sowohl die Pharmakokinetik als auch die Pharmakodynamik eines Medikamentes eine wichtige Rolle. Dabei kommt es zwar häufig zu negativen Wechselwirkungen, aber auch positive Effekte sind möglich. Statine beispielsweise erhöhen die Überlebensrate bei multiplem Myelom (3). Es kann aber bei einer langen Medikamentenliste auch zu Doubletten kommen: Arzneimittel mit identischem oder ähnlichem Wirkspektrum werden gleichzeitig verordnet, ohne dass dies vom verordnenden Arzt erkannt wird. Insbesondere wenn mehrere Ärzte in eine Behandlung involviert sind, kann es zu unbemerkten Doppelverschreibungen kommen. Häufig sind auch sogenannte Verordnungskaskaden: Zur Behandlung einer Nebenwirkung des einen Medikamentes wird die Ver-
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Tabelle 1:
Medication Appropriateness Index (MAI)
Kriterium
Frage
1 Indikation
Gibt es eine Indikation für das Medikament?
2 Evidenz
Ist das Medikament wirksam für die Indikation und die Patientengruppe?
3 Dosierung
Stimmt die Dosierung?
4 Anwendungssicherheit
Sind die Einnahmevorschriften korrekt? (Applikationsmodus, Einnahmefrequenz, Einnahmezeit, Relation zu den Mahlzeiten?)
5 Anwendbarkeit
Sind die Handhabung und die Anwendungsvorschriften praktikabel?
6 Medikamenteninteraktionen Gibt es klinisch relevante Interaktionen mit anderen Medikamenten?
7 Krankheitsinteraktion, Nebenwirkung
Gibt es klinisch relevante Interaktionen mit anderen Krankheiten/Zuständen?
8 Doppelverordnung
Wurden unnötige Doppelverschreibungen vermieden?
9 Therapiedauer
Ist die Dauer der medikamentösen Therapie (seit wann verordnet?) adäquat?
10 Wirtschaftlichkeit
Wurde die kostengünstigste Alternative vergleichbarer Präparate ausgewählt?
Zusatzfragen 11 Unterversorgung 12 Einnahmeplan 13 Vermeidung von UAW 14 Adhärenz/Compliance
Wird jede behandlungsbedürftige Indikation therapiert? Liegt ein aktueller und schriftlicher Einnahmeplan vor? Ist die Nierenfunktion bekannt? Ist die Adhärenz zur Therapie gegeben?
Auswertung: Können alle 10 Fragen mit Ja beantwortet werden, ist eine Verordnung auch im Alter unproblematisch und adäquat. Die Zusatzfragen dienen der Abklärung von Unterversorgung sowie Adhärenzproblemen.
(modifiziert nach «Hausärztliche Leitlinie: Multimedikation» (DEGAM) (6), UAW: unerwünschte Arzneimittelwirkung)
Priscus-Liste
Projektverbund Priscus Deutschland
Negativliste mit 83 Medikamenten aus 18 Arzneistoffklassen. 26 Exper-
ten. Nach Delphi-Methode bezüglich inadäquater Medikation beurteilt.
Klassifikation mittels Likert-Skala. Keine Kontraindikationen-Liste.
Keine Onkologika aufgeführt.
rosenfluh.ch/qr/priscusliste
Forta-Liste
Universitätsklinik Heidelberg
Positiv- und Negativliste. 273 Medikamente und Medikamentenklassen inkl. Onkologie, nach 29 Diagnosen und Indikationen eingeteilt. 20 Experten aus Deutschland und Österreich. Beurteilung nach Delphi-Methode. Klassifikation der Medikamente von A (geeignet) bis D (ungeeignet).
rosenfluh.ch/qr/fortaliste
schreibung eines weiteren Medikamentes notwendig. Dieses generiert wiederum eine Nebenwirkung, die medikamentös behandelt wird. Durch die grosse Menge eingenommener Pharmaka nimmt zudem die Gefahr von Kontraindikationen einzelner Medikamente untereinander zu. Aber auch Adhärenzprobleme und Einnahmefehler aufseiten des Patienten treten vermehrt auf. Die wohl schwerwiegendsten Folgen zeitigen jedoch unterwünschte Nebenwirkungen. Insbesondere durch eine Chemotherapie verursachte Nebenwirkungen werden von Haus- oder anderen behandelnden Ärzten oft nicht als solche erkannt. Wie Dartsch betonte, ist bei einer medikamentösen Tumortherapie deshalb ein zuverlässiger Informationsaustausch zwischen Onkologen und Allgemeininternisten besonders wichtig.
Hilfsmittel zur Vermeidung
unerwünschter Nebenwirkungen
Zur Vermeidung von Interaktionen im Alter stehen verschiedene Hilfsmittel zur Verfügung. In Deutschland sehr beliebt ist gemäss Referentin die sogenannte Priscus-Liste, die im Internet vom Projektverbund Priscus (Forschungsziel «Altern in Würde») frei zum Download angeboten wird. Die Liste umfasst 83 Medikamente, deren Einnahme im Alter häufig zu Nebenwirkungen führen. Die Medikamente beziehungsweise deren potenziell inadäquate Medikation (PIM) wurden mittels einer Likert-Skala bewertet (1 = sicher potenziell inadäquat, 5 = sicher nicht potenziell inadäquat). Falls vorhanden, sind für jedes Medikament sowohl Alternativen als auch Massnahmen zur Vermeidung gravierender Nebenwirkungen aufgelistet, sofern auf die Gabe des Medikamentes nicht verzichtet werden kann. Eine weitere Liste, die auch Medikamente aus der Onkotherapie einschliesst, ist die Forta-Liste (Fit for the aged) der Uniklinik Heidelberg. Die hier beurteilten Medikamente werden von A (geeignet) bis D (ungeeignet) klassifiziert und teilweise durch Expertenkommentare ergänzt. Bei beiden Listen handelt es sich um Expertenmeinungen. Diskrepanzen in der Beurteilung eines Medikamentes können deshalb auftreten. Ein weiteres Hilfsmittel zur Abschätzung einer geeigneten Medikation im
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Alter sind die sogenannten START-/ STOPP-Kriterien, die als einzige auch auf eine Unterversorgung des Patienten aufmerksam machen (4, 5). Mittels der 22 START-Kriterien (Screening Tool to Alert Doctors to Right Treatment) kann der verordnende Arzt die Indikation und Eignung eines Medikamentes bei Patienten > 65 Jahren überprüfen. Entsprechend bieten die 65 STOPPKriterien (Screening Tool of Older Person’s Prescription) die Möglichkeit, die Nutzen-Risiko-Relation eines Medikamentes beziehungsweise seine relative Kontraindikation im Alter einzuschätzen. Einen Teil dieser Kriterien hat die deutsche Gesellschaft für Allgemeinund Familienmedizin (DEGAM) für die hausärztliche Praxis in einer Leitlinie zum Thema «Multimedikation» veröffentlicht (6). Mit dem Medication Appropriateness Index (MAI) (Tabelle) steht zudem eine Checkliste zur Verfügung, die bereits die Indikationsstellung eines Medikamentes differenziert hinterfragt (7, 8). Erst wenn alle 10 Fragen zu den verschiedenen Kriterien mit Ja beantwortet werden können, ist eine Indikation auch im Alter unproblematisch und adäquat. 4 zusätzliche Fragen sollen unter anderem einer möglichen Unter-
versorgung oder Adhärenzproblemen vorbeugen.
Wann ist eine Polymedikation
vertretbar?
Nicht immer lässt sich eine Polymedi-
kation bei älteren Patienten vermeiden.
Polymorbidität im Alter ist ein Faktum.
Wann ergibt aber eine Polymedikation
einen Sinn und ist trotz zahlreicher Arz-
neimittel auf dem Rezept indiziert? Die
Referentin schlägt für den praktischen
Alltag folgende Kriterien als Richt-
schnur vor (modifiziert nach [9, 10]):
O Jedes Medikament ist zur angemes-
senen Behandlung einer Erkrankung
notwendig.
O Verordnungskaskaden und Doppel-
verordnungen werden vermieden.
O Es wurde die niedrigste wirksame
Dosis gewählt.
O Schädliche Interaktionen werden
vermieden.
O Das Medikament mit der besten
geriatrischen Verträglichkeit wurde
gewählt.
O Es treten keine unerwünschten Arz-
neimittelwirkungen (Nebenwirkun-
gen) auf.
O
Marianne I. Knecht
Literatur: 1. Guthrie B et al.: The rising tide of polypharmacy and
drug-drug interactions: population database analysis 1995-2010. BMC Medicine 2015; 13: 74. 2. Sharma M et al.: Polypharmacy and potentially inappropriate medication use in geriatric oncology. J Geriatr Oncol 2016; 7: 346–353. 3. Sanfilippo KM et al.: Statins are associated with reduced mortality in multiple myeloma. J Clin Oncol 2016, Sep 19 (Epub ahead of print) 4. Gallagher P et al.: STOPP (Screening Tool of Older Persons’ Prescriptions) and START (Screening Tool to Alert doctors to Right Treatment). Consensus validation. Int J Clin Pharmacol Ther 2008; 46: 72–83. 5. Gallagher P et al.: STOPP (Screening Tool of Older Persons’ potentially inappropriate Prescriptions): application to acutely ill elderly patients and comparison with Beers’ criteria. Age Ageing 2008; 37: 673–679. 6. Deutsche Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (DEGAM), Hausärztliche Leitlinie: Multimedikation S2e, http://www.degam.de/degam-leitlinien-379.html (letzter Zugriff am 20.1.2017) 7. Hanlon JT et al.: A method for assessing drug therapy appropriateness. J Clin Epidemiol 1992; 45: 1045–1051. 8. Spinewine A et al.: Medication appropriateness index: reliability and recommendations for future use. J Am Geriatr Soc 2006; 54: 720–722. 9. Balducci L et al.: Polypharmacy and the management of the older cancer patient. Ann Oncol 2013; 24 Suppl 7: vii36–vii40. 10. Garfinkel D, Mangin D: Feasibility study of a systematic approach for discontinuation of multiple medications in older adults. Arch Intern Med 2010; 170: 1648–1654.
Quelle: «Orale Tumortherapie im Alter», Referat Dr. rer. nat. Dorothee Dartsch, 3. Fachtag für Onkogeriatrie, 19. November 2016, Zürich.
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