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FORTBILDUNG
Weisskittelhypertonie: Mehr als ein harmloser psychologischer Effekt
Risikofaktoren beachten und rechtzeitig therapeutisch eingreifen
Dass bei Patienten in der Praxis höhere Blutdruckwerte gemessen werden, als wenn sie diese Messungen selbst zu Hause durchführen, ist ein in der ärztlichen Routine häufig auftretendes Phänomen. Diese sogenannte Weisskittelhypertonie sollte allerdings nicht auf die leichte Schulter genommen werden, denn sie kann mit metabolischen Veränderungen und kardiovaskulären Zielorganschäden assoziiert sein.
ESC E-Journal of Cardiology Practice
Der Begriff «Weisskittelhypertonie» wurde vor vielen Jahren geprägt, um eine Subgruppe unbehandelter Patienten zu beschreiben, deren Blutdruck bei Messungen in der Arztpraxis dauerhaft erhöht ist, bei Messungen zu Hause dagegen normale Werte aufweist. Verglichen mit Personen, deren Blutdruck sowohl bei Messungen in der Klinik als auch während eines 24-h-Monitorings zu hoch ist, sind diejenigen mit Weisskittelhypertonie häufiger weiblich sowie jünger und schlanker, und die Hypertoniediagnose liegt bei ihnen kürzer zurück. Je nach demografischen und klinischen Charakteristika der Patienten wie auch nach den angewandten Messmethoden (Heim- oder Praxismessung) und den einen normalen ausserhalb der Praxis gemessenen Blutdruck definierenden Grenzwerten wird die auch als isolierte klinische Hypertonie
MERKSÄTZE
O Eine Weisskittelhypertonie sollte stets klinisch erkannt und sorgfältig nachbeobachtet werden.
O Die Abschätzung des kardiovaskulären Risikoprofils sowie möglicher Zielorganschäden ist essenziell, da eine Weisskittelhypertonie mit metabolischen Veränderungen, asymptomatischen Organschädigungen und dem Risiko kardiovaskulärer Ereignisse assoziiert sein kann.
O Gemäss den ESH/ESC-Leitlinien 2013 sollte eine medikamentöse blutdrucksenkende Therapie der Weisskittelhypertonie auf Patienten mit hohem bis sehr hohem Risiko beschränkt bleiben.
bezeichnete Weisskittelhypertonie im ärztlichen Alltag sehr häufig diagnostiziert: Die meisten klinischen Studien berichten, dass sie bei etwa 25 bis 30 Prozent aller Individuen, welche ambulante Hypertoniezentren aufsuchen, anzutreffen ist.
Stoffwechsel aus dem Ruder
Die Ergebnisse langjähriger Forschung haben gezeigt, dass die Weisskittelhypertonie kein harmloses klinisches Phänomen, sondern vielmehr einen durch ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko gekennzeichneten Zustand darstellt. Zunehmende Evidenz unterstützt die Annahme, dass im Vergleich zu Normotensiven für Personen mit Weisskittelhypertonie ein etwa 2,5- bis 3-fach höheres Risiko besteht, im Laufe der Zeit eine tatsächliche, anhaltende Hypertonie zu entwickeln. Darüber hinaus konnte nachgewiesen werden, dass Weisskittelhypertonie mit einer Reihe von Faktoren assoziiert ist, welche das kardiovaskuläre Risikoprofil eines Individuums bestimmen. So weisen Weisskittelhypertoniker im Vergleich mit normotensiven Personen höhere Serumcholesterin-, Triglyzerid-, Harnsäure- und Glukosewerte sowie einen grösseren Taillenumfang und Body-Mass-Index und eine höhere Prävalenz eines metabolischen Syndroms auf. Diese metabolischen Veränderungen können in Kombination mit den Blutdruckanomalien zur Entstehung von Zielorganschäden auf kardialer (erhöhter linksventrikulärer Massenindex, verringertes E/A-Verhältnis [frühe/späte Mitralflussgschwindigkeit], grösserer linksatrialer Durchmesser), vaskulärer (subklinische Karotisschäden, Arteriensteifigkeit) und renaler Ebene (frühe Nierenschädigung) wie auch zu Netzhautveränderungen beitragen. Auch die Gefahr einer fortschreitenden Beeinträchtigung des Glukosemetabolismus (neu auftretende Glukoseintoleranz und Diabetes mellitus) scheint bei von Weisskittelhypertonie betroffenen Personen gegenüber solchen mit normalen Blutdruckwerten signifikant erhöht und auf einem ähnlichen Niveau zu liegen, wie es bei tatsächlich hypertensiven Patienten zu beobachten ist.
Sterblichkeitsrisiko
auch bei Weisskittelhypertonikern erhöht
Was die Inzidenz kardiovaskulärer Ereignisse anbelangt, zeigen kürzlich veröffentlichte Metaanalysen, dass das Risiko schwerer oder tödlicher Herz-Kreislauf-Erkrankungen von Personen mit Weisskittelhypertonie nicht, wie ursprünglich angenommen, demjenigen von normotensiven Individuen entspricht, sondern eher zwischen dem kardiovaskulären Risiko Letzterer und demjenigen von echten Hochdruckpatienten liegt. Diese Ergebnisse bestätigen die Daten des Registers
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IDHOCO (International Database of Home Blood Pressure in Relation to Cardiovascular Outcomes), welches insgesamt 6458 Patienten aus 5 Populationen prospektiv über mehr als 8 Jahre nachbeobachtet und ebenfalls ein höheres kardiovaskuläres Risiko bei Weisskittelhypertonikern gegenüber normotensiven Personen verzeichnet hatte. Die PAMELA-Studie konnte jüngst neue Erkenntnisse zum allgemeinen sowie zum kardiovaskulären Mortalitätsrisiko von Personen mit stabiler respektive instabiler Weisskittelhypertonie (normale Blutdruckwerte bei Heimmessung in Verbindung mit einer persistierenden bzw. nicht persistierenden Erhöhung des bei zwei konsekutiven Besuchen in der Praxis gemessenen Blutdrucks) beisteuern. Beim Vergleich der während eines 16-Jahres-Follow-ups (des längsten im Zusammenhang mit Weisskittelhypertonie je untersuchten Nachbeobachtungszeitraums) erhobenen Daten mit jenen von Normotonikern ergab sich zwar nicht für Personen mit instabiler, jedoch für solche mit stabiler Weisskittelhypertonie ein erhöhtes allgemeines sowie kardiovaskuläres Sterblichkeitsrisiko. Daraus lässt sich schliessen, dass eine Weisskittelhypertonie nur bei anhaltend erhöhten Praxismessungen mit einer erhöhten Langzeitmortalität assoziiert ist.
Hochrisikopatienten
auch medikamentös antihypertensiv behandeln
Es existieren bis anhin keinerlei Daten aus randomisierten Studien zu der Frage, ob beziehungsweise inwieweit eine antihypertensive Therapie bei Weisskittelhypertonie einen günstigen Effekt auf die kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität bewirken könnte. Allerdings stellen die Leitlinien
der European Society of Hypertension (ESH) und der Euro-
pean Society of Cardiology (ESC) aus dem Jahr 2013 heraus,
dass die Bewertung des kardiovaskulären Gesamtrisikos
(gleichzeitig bestehende Risikofaktoren, Zielorganschäden,
Komorbiditäten) die Grundlage für die Therapieentschei-
dung bilden sollte. Bei Weisskittelhypertonikern ohne zu-
sätzliche kardiovaskuläre Risikofaktoren können demnach
bereits Lebensstiländerungen (regelmässige körperliche Akti-
vität, Gewichtsabnahme, Salzrestriktion, Rauchstopp) in
Verbindung mit einer engmaschigen Kontrolle von klinischen
und Laborparametern inklusive regelmässiger Heim- und
periodischer ambulanter Blutdruckmessungen zielführend sein.
Bei Patienten dagegen, die zusätzlich zur Weisskittelhyperto-
nie aufgrund des Vorliegens von diversen Risikofaktoren,
von Typ-2-Diabetes, Nierendysfunktion, Anzeichen prognos-
tisch relevanter Zielorganschäden oder von Herz-Kreislauf-
Erkrankungen ein hohes kardiovaskuläres Risiko aufweisen,
kann zusätzlich zur Lebensstilmodifikation auch eine medi-
kamentöse antihypertensive Therapie in Betracht gezogen
werden. Wegen des wesentlich geringeren Risikos gilt dies
allerdings bei instabiler Weisskittelhypertonie genauso wenig
wie bei stabiler Weisskittelhypertonie ohne zusätzliche
Risikofaktoren.
O
Ralf Behrens
Quelle: Grassi G: White-coat hypertension: not so innocent. ESC E-Journal of Cardiology Practice 2016, 21 Oct, Vol. 14, No. 26.
Interessenlage: Der Autor der referierten Originalpublikation hat keinerlei Interessenkonflikte deklariert.
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