Transkript
Aktualisierte ESC-Leitlinie zum Vorhofflimmern
NOAK weiter auf dem Vormarsch
BERICHT
In den neuen europäischen Leitlinien zur Behandlung des Vorhofflimmerns wird die Bedeutung der neuen oralen Antikoagulanzien gestärkt. Auch nach der Kardioversion ist ihr Einsatz effektiv und sicher, wie die Studie ENSURE-AF zeigte.
Susanne Kammerer
In der beim ESC-Kongress 2016 in Rom präsentierten Neufassung der ESC-Leitlinie zur Behandlung des Vorhofflimmerns waren erstmals Vertreter von drei Fachgesellschaften – nämlich ESC (European Society of Cardiology), EACTS (European Association of Cardio-Thoracic Surgeons) und ESO (European Stroke Organization) – gemeinsam involviert (1). Nicht nur Kardiologen, sondern auch Herzchirurgen und auf Schlaganfälle spezialisierte Neurologen wurden beteiligt, um dieser komplexen und vielschichtigen Erkrankung Herr zu werden, was am besten mit einer interdisziplinären Behandlung gelingt. Im Vergleich zur vorherigen Leitlinie wird die Bedeutung einer frühen Diagnose stärker betont. Die Leitlinien empfehlen hierzu ein gelegentliches EKG-Screening auf Vorhofflimmern bei Patienten im Alter von über 65 Jahren. Bei Patienten mit ischämischem Schlaganfall oder transitorischer ischämischer Attacke (TIA) in der Anamnese wird zu einem Ruhe-EKG und danach zu einem EKG-Monitoring über mindestens 72 Stunden geraten. Eine Therapie soll gemäss der Leitlinie nur eingeleitet werden, wenn das Vorhofflimmern im EKG dokumentiert wurde. Die Therapie selbst wird in der Leitlinie in folgende fünf Bereiche (domains) unterteilt: O Akuttherapie mit möglicher Kardio-
version und Frequenzkontrolle
O Management von Risikofaktoren (z.B. Hypertonie oder Herzklappenerkrankungen)
O Abschätzung des Schlaganfallrisikos und eventuell orale Antikoagulation zur Schlaganfallprophylaxe
O langfristige Frequenzkontrolle zur Symptomverbesserung
O Rhythmuskontrolle durch Kardioversion, Antiarrhythmika, Katheterablation oder chirurgische Ablation.
Ergebnisse des CHA2DS2-Vasc-Scores entscheiden über Antikoagulation
Wie in der vorherigen Fassung wird der CHA2DS2-Vasc-Score zur Bestimmung des Schlaganfallrisikos als Basis für die Entscheidung für eine orale Antikoagulation eingesetzt, wobei in der neuen Leitlinie empfohlen wird, selbst bei Patienten mit nur einem Risikofaktor (CHA2DS2-Vasc-Score = 2 bei Frauen und 1 bei Männern) je nach individuellen Gegebenheiten bereits eine orale Antikoagulation in Betracht zu ziehen. Thrombozytenaggregationshemmer werden aufgrund ihrer unzureichenden Wirksamkeit nicht mehr für die Schlaganfallprophylaxe bei Vorhofflimmern empfohlen.
NOAK erhalten eine First-line-Empfehlung
Der Stellenwert der NOAK (Apixaban, Dabigatran, Edoxaban und Rivaroxaban) wurde weiter gestärkt: Sie werden in den Leitlinien als First-line-Therapie
für die Schlaganfallprophylaxe empfohlen. Die Antikoagulation mit Vitamin-K-Antagonisten (VKA) bleibt weiterhin eine valide Option und ist nach wie vor die einzige Wahl bei Patienten mit mechanischen Herzklappenprothesen. Auch der Stellenwert der Katheterablation wurde weiter gefestigt. Sie ist inzwischen Therapie der Wahl bei Patienten mit symptomatischen Rezidiven unter einer Therapie mit Antiarrhythmika. Gemäss der neuen Leitlinie kann die Katheterablation sogar bei ausgewählten Patienten mit symptomatischem paroxysmalem Vorhofflimmern alternativ zu Antiarrhythmika als First-line-Therapie in Betracht gezogen werden.
Effektiv und sicher
nach Kardioversion
Die Studie ENSURE-AF (EdoxabaN vs. warfarin in subjectS UndeRgoing cardiovErsion of Atrial Fibrillation) sollte die Frage beantworten, ob eine Antikoagulation mit dem Faktor-Xa-Hemmer Edoxaban auch vor der Kardioversion wirksam und sicher ist. Die Ergebnisse dieser grössten Studie zur Kardioversion wurden in Rom vorgestellt und gleichzeitig publiziert (2). «Eine Kardioversion ist immer mit einem Risiko für ein thromboembolisches Ereignis, sprich Schlaganfall, assoziiert, sodass eine effektive Antikoagulation zwingend erforderlich ist», erklärte Prof. Andreas Götte aus Paderborn (Deutschland). Derzeit wird zum Thromboseschutz vor Kardioversion ein niedermolekulares Heparin (NMH) überlappend mit einem Vitamin-K-Antagonisten verabreicht, bis der INR-Zielwert > 2 erreicht ist. In der Studie ENSURE-AF erhielten 2199 Patienten randomisiert entweder 60 mg Edoxaban einmal täglich oder Enoxaparin überlappend mit Warfarin. Die Rate für den primären
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Kombinierter Endpunkt aus Schlaganfall, SEE, Myokardinfarkt und CV-Tod, %
2,0 Edoxaban
Enoxaparin + Warfarin (Zeit im therapeutischen Bereich = 70,8%)
1,5 OR (95%-KI):
0,46 (0,12–1,43)
1,0% 1,0
OR (95%-KI): 0,40 (0,04–2,47)
0,8%
OR (95%-KI): 0,50 (0,08–2,36)
1,2%
0,5 0,5%
0,3%
0,6%
5/1095 11/1104 0,0
2/589 5/599
Gesamt nach Behandlung TEE-Stratum
3/506 6/510 Non-TEE-Stratum
Abbildung: Primärer Studienendpunkt der ENSURE-AF-Studie: Edoxaban ist Enoxaparin mindestens ebenbürtig, unabhängig von der gewählten Kardioversionsstrategie (SEE = systemisches embolisches Ereignis; TEE-Stratum = frühe Kardioversion; Non-TEE- Stratum = konventionelles Vorgehen, CV = kardiovaskulär, OR = Odds Ratio, KI = Konfidenzintervall).
kombinierten Endpunkt (Schlaganfall, systemische Embolie, Myokardinfarkt und kardiovaskulärer Tod) lag unter Edoxaban bei 0,5 Prozent, unter NMH/Warfarin bei 1,0 Prozent; dieser Unterschied war nicht signifikant. Laut aktuellen Leitlinien gibt es zwei Strategien für die Kardioversion bei Vorhofflimmern: die konventionelle nach einer dreiwöchigen Antikoagulation oder die frühe nach Ausschluss eines Thrombus mittels transösophagealer Echokardiografie (TEE). Dieses Ergebnis war unabhängig davon, welche Strategie gewählt wurde (Abbildung).
Gute Verträglichkeit
Insgesamt ereigneten sich sehr wenige Blutungen, wobei es auch hier keine signifikanten Unterschiede zwischen den beiden Strategien gab. Die Rate stärkerer Blutungen lag unter Edoxaban bei 1,5 Prozent, bei NMH/Warfarin bei 1,0 Prozent, die Gesamtblutungsrate bei 3,0 versus 3,2 Prozent. «Die Ergebnisse sprechen eindeutig dafür, dass Edoxaban auch bei der Kardioversion eine wirksame und sichere Option darstellt, die der bisherigen Strategie keinesfalls unterlegen ist», so Götte. Insgesamt ergab sich ein Nettonutzen für die Edoxabangruppe, und dieser war auch unabhängig von der Nierenfunktion und der gewählten Dosis. Das
Ergebnis ist besonders angesichts der Tatsache bemerkenswert, dass die Gerinnungswerte in der mit VKA/NMH behandelten Gruppe sehr gut kontrolliert waren: Sie befanden sich während 70,8 Prozent der Zeit im therapeutischen Zielbereich.
Universales Faktor-Xa-Hemmer-
Antidot wirksam bei Patienten
mit schweren Blutungen
Als Nachteil des Einsatzes der NOAK gilt derzeit, dass deren Wirkung im Gegensatz zu VKA nicht antagonisierbar ist. Diesem Argument könnte bald der Boden entzogen werden, wie erste Ergebnisse der noch laufenden ANNEXA-4Studie zeigen: Hier wird Andexanet alfa als spezifisches Antidot gegen direkte und indirekte Faktor-Xa-Hemmer bei Patienten mit schweren akuten Blutungen auf Wirksamkeit und Sicherheit geprüft (3). Die Studienteilnehmer im Alter von 77 Jahren hatten aufgrund häufiger kardiovaskulärer Begleiterkrankungen alle ein hohes Blutungsrisiko. Dr. Stuart Connolly aus Hamilton (Kanada) stellte beim ESC-Kongress in Rom jetzt die Ergebnisse einer vorläufigen Analyse von Daten der ersten 67 Patienten vor: Nach einer Bolusgabe des Antidots nahm die Anti-Faktor-XaAktivität im Blut der Patienten nach kurzer Zeit deutlich ab: Bei mit Rivaroxaban oder Apixaban behandelten Pa-
tienten war eine rasche Reduktion die-
ser Aktivität um 89 beziehungsweise
93 Prozent in Relation zu den Aus-
gangswerten zu verzeichnen. Im An-
schluss an die Bolusgabe wurde eine
Infusion mit Andexanet alfa für die
Dauer von 2 Stunden durchgeführt. Bei
79 Prozent der Patienten beurteilten die
Prüfärzte die klinische Hämostase in
den ersten 12 Stunden als «sehr gut bis
gut».
Von den Studienteilnehmern waren
32 mit Rivaroxaban, 31 mit Apixaban
und 4 mit dem niedermolekularen
Heparin Enoxaparin behandelt wor-
den. Grund für die Behandlung mit An-
dexanet alfa waren vorwiegend gast-
rointestinale (49%) und intrakranielle
Blutungen (42%).
In einem Nachbeobachtungszeitraum
von 30 Tagen wurden bei 12 der
67 Studienteilnehmer (18%) thrombo-
tische Ereignisse registriert. Nach Ein-
schätzung von Connolly ist die hohe
Thromboserate angesichts der ausge-
prägten Komorbidität der Studienteil-
nehmer nicht verwunderlich.
Andexanet alfa ähnelt dem menschli-
chen Faktor Xa (FXa) und bindet mit
hoher Affinität und kompetitiv zu
humanem FXa im Blut vorhandene
Faktor-Xa-Hemmer. Es wirkt sowohl
gegen direkte Faktor-Xa-Hemmer (Api-
xaban, Edoxaban, Rivaroxaban) als
auch gegen indirekte Faktor-Xa-Hem-
mer wie Enoxaparin aus der Gruppe
der niedermolekularen Heparine und
wird daher auch als «Universalantidot»
bezeichnet.
Die europäische Arzneimittelbehörde
(EMA) hat den eingereichten Zulas-
sungsantrag für Andexanet alfa jüngst
zur Prüfung akzeptiert.
O
Susanne Kammerer
Quellen: Vorträge beim Kongress der European Society of Cardiology (ESC), 27. bis 31. August 2016 in Rom.
Literatur: 1. 2016 ESC Guidelines for the management of atrial
fibrillation developed in collaboration with EACTS. Eur Heart J 2016, doi: 10.1093/eurheartj/ ehw210. 2. Hot Line «New preventive Strategies» sowie zeitgleich publiziert Götte A et al.: Edoxaban versus enoxaparin – warfarin in patients undergoing cardioversion of atrial fibrillation (ENSURE-AF): a randomised, open-label, phase 3b trial. Lancet 2016, doi: 10.1016/S01406736(16)31474-X. 3. Hot Line «Preventive Strategies 2» sowie publiziert Connolly SJ et al.: Andexanet alfa for acute major bleeding associated with factor Xa inhibitors. N Engl J Med 2016, online 30. August; DOI: 10.1056/ NEJMoa1607887.
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