Transkript
FORTBILDUNG
Was bedeutet die Dialyse für Herz und Gefässe?
Unter Nierenersatztherapie altert das kardiovaskuläre System rapide
Wenn die Nierenfunktion nachlässt und eine Dialyse erforderlich wird, kommt es zu erheblichen strukturellen und funktionellen Veränderungen an Herz und Gefässen. Die kardiovaskuläre Mortalität ist bei Dialysepatienten im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung mehrfach erhöht. Was bedeutet das für die Therapie?
Lancet
Niereninsuffizienz verbessert wurden. Dennoch gibt es nach wie vor ungelöste kardiovaskuläre Probleme, die durch die Urämie bedingt sind (nur ein Teil der urämischen Toxine wird durch die Dialyse entfernt), da dialysebezogene Medikamente und weitere Therapien zu einer Hypotonie und einer reaktiven Sympathikusüberaktivität führen. Ein besseres Verständnis der Pathophysiologie von Kardiomyopathie und Kalzifizierung dürfte für die Entwicklung neuer Therapien für Dialysepatienten hilfreich sein, und die Ergebnisse führen möglicherweise auch ganz allgemein zu kardiovaskulären Anti-Ageing-Strategien.
Unabhängig vom Alter des Patienten führt eine Verschlechterung der Nierenfunktion zu einer raschen Alterung von Herz und Kreislauf. Wenn die Nieren nicht mehr in der Lage sind, Wasser und Abfallprodukte (urämische Toxine) auszuscheiden, führen diese Toxine an Herz und Gefässen zu einem beschleunigten Alterungsprozess. Auch die endokrine Insuffizienz (z. B. ein Mangel an Erythropoietin und Vitamin D oder ein Überschuss an Parathormon), die zu Anämie und sekundärem Hyperparathyreoidismus führt, verursacht Veränderungen an Herz und Gefässen. Die Folgen sind unter den Begriffen urämische Kardiomyopathie, Gefässkalzifizierung und Kalziphylaxie oder urämisch-kalzifizierende Arteriolopathie bekannt. Die Entwicklung von Dialysetechnologien hat das Überleben von Patienten mit Urämie beeinflusst, indem viele Aspekte der pathophysiologischen Veränderungen der terminalen
MERKSÄTZE
O Linksventrikuläre Hypertrophie (LVH) und Insuffizienz sind bei Dialysepatienten die häufigsten Probleme.
O Die Hauptursachen für LVH und Insuffizienz sind Überwässerung und (meistens) Hypertonie.
O Das Gefässsystem ist sowohl von einer Arteriosklerose betroffen als auch von einer Atherosklerose mit ausgedehnter Mediakalzifizierung und lipidreichen Plaques.
O Für viele Dialysepatienten sind länger andauernde Dialysesitzungen oder kürzere und häufigere Sitzungen wahrscheinlich eine bessere Option.
O Der Versuch, eine sofortige Euvolämie bei der konventionellen Hämodialysetherapie zu erzielen, schadet mehr, als er nützt.
Kardiovaskuläres Risiko deutlich höher als bei Diabetes
Die grosse Zahl der Patienten mit chronischer dialysepflichtiger Nierenerkrankung ist heute ein erhebliches klinisches Problem, da sie zu einer überproportional hohen Prävalenz von kardiovaskulären Erkrankungen einschliesslich Herzinsuffizienz und Mortalität geführt hat. Bei Dialysepatienten ist die kardiovaskuläre Mortalität im Vergleich zu altersund geschlechtsgematchten Nierengesunden etwa neunfach höher. Kardiovaskuläre Erkrankungen werden bei Dialysepatienten gegenüber anderen kardiovaskulär gefährdeten Patientengruppen wie etwa Diabetikern rund dreimal häufiger beobachtet. Insbesondere die Kalzifizierung der Koronararterien ist bei jungen Dialysepatienten häufig und progredient verlaufend.
Wirksame Therapien gesucht, mehr Studien erwünscht
Hinzu kommt, dass sich kardiale und vaskuläre Erkrankungen bei Patienten mit chronischer Nierenerkrankung in vielerlei Hinsicht von denselben Erkrankungen bei Nierengesunden unterscheiden – daher ist die Behandlung dieser Krankheitsbilder bei Patienten mit chronischen Nierenerkrankungen sehr viel komplexer. Es wird weiterhin nach pharmakologischen Interventionen zur Behandlung der vaskulären Erkrankung und der damit zusammenhängenden Störungen im Mineral- und Knochenstoffwechsel gesucht, wobei es sowohl um die Effektivität als auch um die Therapieadhärenz der Patienten geht. Nur wenige kardioprotektive Dialysestrategien wurden in kleinen Studien untersucht. Daher wird derzeit individuell je nach Toleranz oder verfügbaren Ressourcen entschieden, ob eine Behandlung mit häufigeren oder längeren Dialyse- oder Hämodiafiltrationssitzungen angeboten wird. Randomisierte, multinationale Wirksamkeitsstudien, welche pragmatische Ansätze (z.B. Natriumkonzentrationen im Dialysat; Einsatz von Medikamenten wie Betablockern,
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Aldosteronantagonisten oder Angiotensinrezeptorblockern; Entfernung grösserer urämischer Toxine) untersuchen, um die kardiovaskulären Resultate zu verbessern, wurden bisher nicht im erforderlichen Umfang durchgeführt.
Urämie und Herz
Die charakteristischsten und spezifischsten Veränderungen, die mit chronischer Nierenerkrankung assoziiert sind und die zu pathologischen Veränderungen an Herz und Gefässen führen, sind: O früh einsetzende linksventrikuläre Hypertrophie (LVH) O gestörte Angioadaptation, die eine reduzierte kapilläre
Versorgung nach sich zieht O myokardiale Mikroarteriopathie O ausgeprägte Myokardfibrose.
Alles in allem induzieren diese strukturellen Veränderungen ein Missverhältnis zwischen Myozyten und Kapillaren mit grossen interkapillären Distanzen, was die Versorgung des Myokardgewebes mit Blut und Sauerstoff einschränkt. Die kapilläre Rarefizierung ist nicht auf das Myokard beschränkt, sondern wird auch in anderen Gefässsystemen beobachtet wie etwa in Gefässen der Haut und des Skelettmuskels, wo die Veränderungen allerdings nicht so früh auftreten wie im Myokard. Hinzu kommt, dass Patienten mit chronischen Nierenerkrankungen durch mehr Begleiterkrankungen belastet sind, die auf die Verschlusskrankheiten peripherer Arterien zurückzuführen sind und die sich negativ auf die Gesamtprognose auswirken.
Dialyse und Herz
Ursprünglich nahm man an, dass kardiale Todesfälle, die bei Dialysepatienten auftraten, durch eine beschleunigte Koronararteriensklerose verursacht seien. Studien zeigten jedoch, dass mehr als die Hälfte dieser Patienten Herzrhythmusstörungen oder eine akute Herzinsuffizienz entwickelten und weniger als ein Viertel an einem Myokardinfarkt starben. Von den oben beschriebenen kardialen Auffälligkeiten ist die LVH klinisch am bedeutendsten. Die Entwicklung einer LVH nach Beginn der Hämodialyse ist ein unabhängiger Prädiktor für die Mortalität (Hazard Ratio: 2,1, 95-%-Konfidenzintervall [KI:] 1,1–4,1). Eine Arbeit aus dem Jahr 1996 ergab, dass über 80 Prozent der Patienten beim Eintritt in ein Dialyseprogramm bereits eine LVH aufwiesen; 17 Prozent der jungen Patienten (Durchschnittsalter: 31,5 Jahre) hatten keine signifikanten Komorbiditäten. Die LVH ist bei Patienten mit chronischer Nierenerkrankung und Herzinsuffizienz mit systolischer und insbesondere mit diastolischer Dysfunktion assoziiert.
Urämie und mikrovaskuläres sowie makrovaskuläres System
Bereits seit über 40 Jahren ist bekannt, dass Dialysepatienten eine ausgeprägte Atherosklerose mit spezifischen Kalzifizierungs- und Lipidmustern aufweisen. Darüber hinaus sind chronische Nierenerkrankungen mit einer erheblichen fibrösen und fibroelastischen Verdickung von Arterien vom elastischen und vom muskulären Typ sowie mit einem Verlust an elastischen Fasern assoziiert. Dies führt zu einer erhöhten Gefässsteifigkeit (d.h. zu einer vorzeitigen Gefässalterung bei
Dialyse- und Prädialysepatienten) sowie zu einer ausgeprägten Erkrankung peripherer Arterien. Die Kennzeichen der Gefässveränderungen sind eine vermehrte Verdickung von Media und Intima mit Verlust der Elastinfaserintegrität, markanten Gefässkalzifizierungen sowie Endothelveränderungen.
Weitere pathophysiologische Faktoren
An der komplexen und facettenreichen Pathophysiologie der kardialen und vaskulären Veränderungen bei Patienten mit fortgeschrittenen chronischen Nierenerkrankungen oder bei Dialysepatienten sind weitere Faktoren beteiligt. Die Volumenüberlastung – fast immer eine Folge der exzessiven interdialytischen oder intradialytischen Natriumbelastung (d.h. exzessives extrazelluläres Volumen) – führt zu einer kardialen Dilatation, zu einer Zunahme der linksventrikulären Muskelmasse und zu einer Verschlechterung der systolischen und diastolischen Funktion. Die Sympathikusüberaktivierung mit Noradrenalinüberflutung ist bedeutsam und wurde mit einer konzentrischen LVH assoziiert. Patienten mit Typ-2-Diabetes können während des Nachtschlafs hypoglykämische Episoden entwickeln, die lange unentdeckt bleiben und zu Hypoxie, Vorhofflimmern und komplexeren Arrhythmien führen.
Prävention und Therapie
Kardiovaskuläre Risikofaktoren frühzeitig behandeln Das Risiko kardiovaskulärer Erkrankungen von Patienten, die eine Hämodialyse benötigen, hängt weitgehend von ihrer kardiovaskulären Gesundheit zu Beginn der Dialyse ab. Daher sollten beim Screening und im Rahmen von Interventionen bei chronischen Nierenerkrankungen Risikofaktoren für kardiovaskuläre Erkrankungen in der Prädialyse- und in der Übergangsphase sowie zu Beginn der Dialyse intensiv behandelt werden. Bei Patienten mit gesunden Arterien sollte die Prädialysemanagementstrategie fortgesetzt werden, um neue kardiovaskuläre Läsionen zu verhindern.
Kardioprotektive Hämodialyse: Kürzere und häufigere Sitzungen sind gesünder für das Herz Die Ergebnisse der Hämodialysebehandlung können durch falsch verschriebene hohe Ultrafiltrationsraten schwer beeinträchtigt werden und zu intermittierenden hypotensiven Episoden sowie zu Hypoxämie während der Dialyse führen. Diese hohen Raten werden manchmal im Hinblick auf das Zielgewicht verordnet, anstatt darauf hinzuarbeiten, das Postdialysegewicht nach und nach zu senken – das heisst, es wird in zu wenigen Sitzungen zu viel Flüssigkeit entfernt. Die hämodialyseassoziierte Kardiomyopathie mit fibrotischen Veränderungen kann dazu führen, dass das Herz für ischämische Schädigungen und anschliessende Rhythmusstörungen empfindlicher wird. Spezielle dialysebasierte Interventionen können dazu beitragen, die vaskuläre Stabilität aufrechtzuerhalten, um hypotensive Episoden zu vermeiden und kumulative ischämische Insulte, die durch konventionelle Hämodialysebehandlungen bedingt sind, abzumildern. Dazu zählt beispielsweise die Anpassung der Ultrafiltrationsrate an den Zustand des Patienten in längeren oder häufigeren Sitzungen einer Erhaltungshämodialyse. Der fast unvermeidliche Überschuss an extrazellulärer Flüssigkeit und der hohe Blutdruck werden konventionell mit
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Natriumrestriktion und Ultrafiltration behandelt. Dadurch kann es zu Hypotonie kommen. Eine aggressive Entfernung von Flüssigkeit kann zu zirkulatorischem Stress und zu Multiorganschäden führen. Der Versuch, eine sofortige Euvolämie in der konventionellen Hämodialysetherapie zu erzielen, schadet daher mehr, als er nützt. Eine erhöhte Frequenz oder Dauer der Hämodialysesitzungen, die die extrazelluläre Flüssigkeitslast effektiver reduziert als eine konventionelle Dialyse, führt (zusammen mit einer salzarmen Ernährung und einer niedrigen Natriumkonzentration im Dialysat) über einen Zeitraum von zwölf Monaten nachweislich zu einer effektiven Kontrolle eines hohen Volumenstatus, der linksventrikulären Muskelmasse und des Blutdrucks.
Pharmakologische Interventionen
Studien, in denen pharmakologische Interventionen wie
beispielsweise die Gabe von Statinen bei Dialysepatienten ge-
testet wurden, zeigten Limitationen auf. Statine sind in der
Prävention kardiovaskulärer Ereignisse bei Patienten mit
normaler Nierenfunktion sehr effektiv, scheinen aber bei
Dialysepatienten keine vergleichbare Wirksamkeit zu entfal-
ten. Dennoch konnte in der SHARP (Study of Heart and
Renal Protection)-Studie gezeigt werden, dass eine Kombi-
nation aus Simvastatin plus Ezetimib das Risiko atheroskle-
rotischer Ereignisse reduziert. Andere Interventionsstudien
mit Hämodialysepatienten kamen zu eher enttäuschenden
Ergebnissen. Bisher konnten in Studien keine effektiven
pharmakologischen Strategien identifiziert werden, die kar-
diale und vaskuläre Resultate kontrollieren können, fassen
die Autoren zusammen.
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Andrea Wülker
Quelle: Wanner C et al.: The heart and vascular system in dialysis. Lancet 2016, 388(10041): 276–284.
Interessenskonflikte: Zwei der drei Autoren der referierten Originalpublikation haben von verschiedenen Pharmaunternehmen Honorare bzw. Forschungsstipendien erhalten.