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Ernährung zur Primärprävention
Studienkonzepte für evidenzbasierte Ernährungsempfehlungen – was ist zu beachten?
WERNER SEEBAUER
Zusammenfassung
Die medizinischen Wissenschaften bezweifelten oftmals zu Recht die Evidenzlage so mancher Ernährungsempfehlung. Doch die Ergebnisse gewisser gross angelegter, internationaler Studien aus den Neunzigerjahren, mit neuer Methodik und einer Standardisierung der Evaluationsprozesse, erlauben heute durchaus signifikante evidenzbasierte Ernährungsempfehlungen. Die nachfolgende Arbeit beschreibt die Ausgangslage und zeigt, wie Datenerhebung und Systematik der EPIC-Studie aus 10 europäischen Ländern mit über 520 000
Teilnehmern sowie die Daten des zweiten WCRF-Reports mit 7000 Studien die Evidenzlage valide machen. Daten aus der Grundlagenforschung, aus epidemiologischen Auswertungen adäquater Metaanalysen sowie von gepoolten Analysen aus Interventionsstudien wurden nach strengen Bewertungsstrategien systematisiert; alle Studienergebnisse oder Experimente mussten am Menschen bestätigt werden.
Schlüsselworte: Studienkonzeption für evidenzbasierte Ernährungsempfehlungen; EPIC-Studie; WCRF-Report; Primärprävention; Sozioökonomischer Benefit; volkswirtschaftlicher Schaden.
Summary:
The medical sciences are right often, to query the evidence of nutritional advices. But the results of huge international studies, which started in the nineties of the last century with new methods and evaluation standards, showed now significant evidences, which can be applied in nutritional suggestions. This article shows the methods to get correct evidence based recommendations, like on the EPIC-Study with 520 000 participants and the WCRF-Report with a Meta analysis of 7000 studies. The application of strict standards must be the requirement for all the data of fundamental research; epidemiological evaluation of Meta analysis, as well as analysis of interventional studies. The results have to be based on human research and systematic standards.
Key words: Study concept for evidence based nutritional advices; WCRF-Report; EPIC-Study; primary prevention; socioeconomic benefit; national economy damage.
Einleitung
Bereits Hippokrates (460–370 v.Chr.) fordert in seiner Lehre die evidenzbasierte Medizin. Der Arzt habe sich auf eine sorgfältige Beobachtung, Befragung und Untersuchung zu stützen und seine Diagnose und Therapie systematisch zu erarbeiten. Die Evaluierung der Lebensstilfaktoren hat dabei eine ebenso wichtige Rolle zu spielen wie die übrige Befunderhebung. Der Eid des Hippokrates gilt in unserer Schulmedizin als grundlegende Formulierung der ärztlichen Ethik. Doch die Berücksichtigung der Ernährung, der Hippokrates einen hohen Stellenwert einräumte («Unsere Nahrungsmittel sol-
len unsere Heilmittel und unsere Heilmittel unsere Nahrungsmittel sein»), wurde in der westlichen Schulmedizin des letzten Jahrhunderts zunehmend vernachlässigt.
Expertenmeinungen zum Potenzial der Ernährung in der Prävention
Der Medizin-Nobelpreisträger 2008, Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Harald zur Hausen, kommentierte bereits 1997 den ersten Report des World Cancer Research Fund (WCRF) und des American Institute for Cancer Research (AICR) zur Krebsprävention mit folgenden Worten: «Der Report des WCRF ist mehr als eine kritische Auflistung biome-
dizinischer oder epidemiologischer Forschungsergebnisse, er strebt das praktische Ziel einer weltweiten Krebsvorbeugung an. Er (der Bericht) unterscheidet dabei klar überzeugende, wahrscheinliche und mögliche Zusammenhänge zwischen Krebsrisiko und Ernährung und schätzt, dass seine Ernährungsempfehlungen, verbunden mit körperlicher Bewegung und der Vermeidung von Übergewicht, die Zahl der Krebsfälle um 30 bis 40 Prozent vermindern können. Das sind weltweit jährlich 3 bis 4 Millionen weniger Krebserkrankungen …» (1). Die Krebsliga Schweiz, die Schweizerische Gesellschaft für Ernährung SGE sowie die deutschen und österreichischen Krebs- und Ernährungsgesellschaften betonen ebenfalls die bedeutenden krebsrisikosenkenden Potenziale einer gesunden Ernährung. Prof. Dr. I. Elmadfa, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Ernährung (ÖGE): «Krebs ist eine vermeidbare Krankheit! Diese Aussage ist hochaktuell und bedeutet, dass jeder täglich dazu beitragen kann, sein persönliches Krebsrisiko zu senken. Damit soll allerdings nicht gesagt werden, dass jede Form von Krebs
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Markthalle in Dresden.
vermeidbar ist, denn manche Krebsarten haben auch genetische Ursachen. Die Zahl der erblich bedingten Krebsfälle liegt aber lediglich bei etwa 5 Prozent.» (1). Prof. Dr. rer. nat. Claus Leitzmann, Leiter des wissenschaftlichen Beirats der Unabhängigen Gesundheitsberatung UGB: «Das Risiko, an Krebs zu erkranken, kann besonders durch das Meiden von Tabakrauch und durch eine entsprechende Ernährungsweise deutlich gesenkt werden.» (1). Viele weitere renommierte Wissenschaftler betonen gleiches.
Das präventive Potenzial reicht weit über die Krebsproblematik hinaus
Da Krebs nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen weltweit die zweithäufigste Todesursache nicht infektiöser Krankheiten darstellt, betonen viele Wissenschaftler den
Zusammenhang zwischen Ernährung und Krebsprävention. Allerdings ist die Datenlage im Bereich der Prävention von Herz-Kreislauf- und Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes deutlich signifikanter, was die entsprechenden Fachgesellschaften auch betonen. So hat die DGE Studien zum Obst- und Gemüseverzehr zur Prävention chronischer Krankheiten mit einem evidenzbasierten Ansatz bewertet. Überzeugend ist die Datenlage demnach für die Risikoreduktion von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Schlaganfall und Hypertonie. In Abhängigkeit von der Tumorlokalisation ist auch eine inverse Beziehung zwischen Obst- und Gemüseverzehr und dem Krebsrisiko wahrscheinlich oder möglich. Durch eine vermehrte Zufuhr von Obst und Gemüse wird ferner eine mögliche Evidenz für die
Prävention von Augenerkrankungen (Makuladegeneration, Katarakt), Osteoporose, Asthma, COPD, rheumatoide Arthritis, Demenz und Adipositas deklariert (2). Neben der epidemiologischen Datenlage zeigen auch zahlreiche neuere biochemische Forschungsergebnisse den engen Zusammenhang zwischen Ernährung, Zellstoffwechsel und den durch Fehlernährung mitbedingten Krankheiten auf.
Grosse sozioökonomische Schäden
In den Industrie- und Schwellenländern steigen die durch Fehlernährung bedingten chronischen Erkrankungen mit allen entsprechenden sozioökonomischen Folgen dramatisch an. Im Jahr 2007 litten in Europa 14 Millionen Kinder an Übergewicht. Die Kosten für die Behandlung von
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Krankheiten, die durch Fehlernährung und Übergewicht mitbedingt sind, werden allein in Deutschland mit 70 Milliarden Euro berechnet, der Anteil für die Diabetesbehandlung liegt bei 30 Milliarden Euro. Es gibt jährlich 6000 Kinder, die in Deutschland neu an Altersdiabetes erkranken (3). Da Fehlernährung und Bewegungsmangel die Hauptursachen sind, werden dringend konsequente Beratungen mit den daraus folgenden Massnahmen benötigt. Um die Verunsicherung zu beseitigen, welche Ernährungsempfehlungen nun der wissenschaftlich harten Überprüfung entsprechen, müssen verschiedene Kriterien erfüllt sein.
Ernährungsstudien in der Kritik
Viele Studien des Ernährungsbereichs haben kein valides Studiendesign. Häufig werden Hochrisikokollektive (Herz-Kreislauf-Erkrankte, Diabetiker, Raucher, Asbestarbeiter) mit unterschiedlich fortgeschrittenen Erkrankungsstadien untersucht. Selbst in Kollektiven mit geringerem Risiko sind die Ausgangsuntersuchungen oft nicht ausreichend, um bereits vorhandene Erkrankungen oder deren Vorstufen (z.B. Präkanzerosen) adäquat diagnostizieren zu können. Meist werden keine oder nur wenige Ansätze zur Evaluierung des Potenzials einer Primärprävention gemacht. Oft handelt es sich um notwendige Therapie zur Tertiärprävention. Teilweise werden diverse Nahrungsergänzungen supplementiert, die häufig isolierte Bestandteile in unphysiologisch hohen Dosierungen enthalten. So kann sich der Synergieeffekt aus der komplexen Matrix der Ernährung nicht entfalten, und häufig wird keine ausreichende Dosis-Wirkungs-Beziehung für effektive Schutzeffekte erreicht. Darüber hinaus ist die Interventionsdauer meist viel zu kurz. Für Teilbereiche der Supplementation von Nahrungsergänzungen fehlen doppelblinde kontrollierte Interventionsstudien – selbst wenn dies möglich und ethisch vertretbar wäre. Bei manchen Metaanalysen werden Studien unterschiedlichster Kohorten, unterschiedlicher Erhebungsmethoden und unterschiedlichster Interventionsaspekte verglichen, obwohl solche Abweichun-
gen in den Studiendesigns einen Vergleich nicht zulassen.
Die absolute Mehrheit der Bevölkerung erreicht nicht die erforderliche Dosis-Wirkungs-Beziehung
In den Industrieländern sind für bestimmte Bereiche wie Krebserkrankungen vermutlich kaum signifikante Zusammenhänge zwischen Nährstoffkomponenten und möglichen Schutzeffekten feststellbar, da die absolute Mehrheit der Bevölkerung die dafür erforderliche Dosis-Wirkungs-Beziehung nicht mehr erreicht. Sehr konkret sieht man dies an den Empfehlungen einer täglichen Zufuhr von mindestens 5 Portionen Obst und Gemüse. Die grosse Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland, Österreich und der Schweiz (DACH-Referenzwerte 2000) konsumiert nur etwa die Hälfte der empfohlenen Menge. Quantitativ stehen dagegen überwiegend verarbeitete Lebensmittel tierischer Herkunft sowie Kartoffeln, Reis und Cerealien auf dem Speiseplan, wie auch aus den Daten der neuesten Nationalen Verzehrsstudie II des Bundesministeriums für Ernährung 2008 hervorgeht (4). Nach dem Gesundheits-Survey des Robert-Koch-Institutes ist die Ernährungssituation 2007 bei den Kindern und Jugendlichen ebenso schlecht (4a, 4b). Mehrere Portionen Gemüse und Obst täglich essen zusammengerechnet nicht einmal 5 Prozent: Knaben: Obst 17,8 Prozent, Gemüse gegart 0,4 Prozent, roh 3,7 Prozent; Mädchen: Obst 24,1 Prozent, Gemüse gegart 0,3 Prozent, roh 5,9 Prozent. So erreichen viele Menschen selbst bei einer Verdopplung der Zufuhr von Obst und Gemüse noch immer nicht die empfohlene Mindestmenge, und es lässt sich vermuten, dass die Dosis für ausreichende Schutzeffekte gegenüber bestimmten Erkrankungen somit nicht erreicht wird. Hingegen zeigt ein erhöhter Konsum von Obst und Gemüse bereits mit jeder einzelnen zusätzlichen Portion eine klare Dosis-Wirkungs-Beziehung zu einem reduzierten Herzinfarkt- oder Schlaganfallrisiko (5). In der Nurses Health Studie sowie der Health-Professionals-Followup-Studie (6) konnte gezeigt werden, dass die relative Risikoreduktion eines er-
sten Schlaganfallereignisses zwischen Personen in der höchsten und der niedrigsten Quintile des Obst- und Gemüsekonsums 0,69 betrug (95%-KI: 0,52–0,92). Das heisst, das relative Schlaganfallrisiko konnte pro täglich verzehrter Obst- oder Gemüseportion um etwa 6 Prozent (pro zusätzliche Portion!) gesenkt werden (6). Die Interheart-Studie mit 15 152 Teilnehmern aus 52 Ländern zeigt, dass sich der Schutzeffekt sogar drastisch erhöht, wenn mehrere Lebensstilfaktoren gleichzeitig verbessert werden. Während der regelmässige Verzehr von Obst und Gemüse das relative Herzinfarktrisiko um 30 Prozent reduzierte, ging das relative Infarktrisiko bei zusätzlicher körperlicher Aktivität (Odds-Ratio von 0,60 [99%-KI: 0,51–0,71]) und dem Verzicht auf das Rauchen (Odds-Ratio 0,21 [0,17–0,25]) sogar um etwa 80 Prozent zurück (7).
Beispiele für Evidenz bei Ernährungsstudien: WCRF-Report I und II
Seit den Neunzigerjahren wurden gross angelegte Interventionsstudien unter Standardisierung der Evaluationsprozesse begonnen. Ernährungsanamnesen (Ernährungsprotokolle und Verhaltensanalyse) wurden mit der Bestimmung diverser Biomarker im Labor kombiniert, sodass aufgrund anerkannter Surrogatparameter und Endpunktergebnisse die Signifikanz und Evidenzlage der Ernährungsempfehlungen heute als gut eingestuft werden kann. Zudem beteiligte man Kollektive von mehreren Tausend Studienteilnehmern. Im Falle der EPICStudie sind aus 10 europäischen Ländern über 520 000 Teilnehmer involviert. Auch die Selektion einer grossen Zahl relevanter Studien erlaubt aus Metaanalysen eine hohe Evidenz, wenn die Qualität und Systematik der Studien bei der Auswahl kontrolliert werden. Beim ersten WCRF-Report 1997 wurden über 4000 Studien ausgewertet. Beim zweiten WCRF-Report im November 2007 wurde, nach Auswahl von über 22 100 relevanten sowie adäquat durchgeführten Studien, nochmals nach strengeren Kriterien systematischer Methodik von 21 unabhängigen renommierten Experten verschiedenster Disziplinen selektioniert, sodass
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7000 Studien zu sehr aussagekräftigen Ergebnissen führten. Der Report dient als wissenschaftliche weltweite Grundlage und ist eine gemeinsame Informationsquelle für Entscheidungsträger, Gesundheitsexperten sowie die Allgemeinheit. Die Erfassung des wissenschaftlichen Datenmaterials und dessen Bewertung erfolgte in getrennten Prozessen, damit eine maximale Objektivität gewährleistet ist. Zunächst wertete eine Expertengruppe die umfangreiche wissenschaftliche Literatur dieses Bereichs mit neuen technischen Möglichkeiten systematisch aus (insgesamt 497 350 wissenschaftliche Veröffentlichungen bis zu diesem Zeitpunkt), dann bewerteten einzelne Forschergruppen die Studien nochmals nach Relevanz und korrektem Design. Schliesslich führte ein Expertenausschuss eine Endbewertung sowie Extraktion zu evidenzbasierten Daten durch, die in einem Konsens der Empfehlungen des WCRF mündeten. In den Bewertungen wurden nur Humanstudien und keine Daten aus Tierexperimenten berücksichtigt. Einzelstudien wurden ausgewertet und nur im Kontext mit anderen Studien zu Empfehlungen einbezogen. Neben der Auswertung epidemiologischer Daten diverser Risiko- und Lifestyleparameter fand eine Bestimmung des Ernährungsverhaltens (Nahrungszusammenstellung), der körperlichen Aktivität sowie vorhandener Massnahmen effektiver Interventionen statt. Zudem wurden umfangreiche Ergebnisse aus Zusammenhängen von Stoffwechselparametern sowie DosisWirkungs-Beziehungen berücksichtigt. Prämisse war dabei stets, dass bereits signifikante Beweise der Mechanismen und eine biologische Plausibilität vorlagen. Die Ausprägung und Signifikanz der Effekte wurde nach Anzahl und Art der Studien, deren Qualität sowie der Erfassung der Exposition und den Endpunkten bewertet. Statistische Zufallsereignisse sowie Verzerrungen wurden so weit wie möglich ausgeschlossen. Aufgrund der weit über die Ernährung und Bewegung hinausreichenden pathogenetischen Risikofaktoren von Krebs kann oft nur eine Beurteilung im Sinne von «überzeugend» oder «wahrschein-
lich» erfolgen. Um diese immanenten Schwächen bestmöglich zu reduzieren, erfolgte beim EPIC-Studiendesign eine Erstellung und Analyse der Hierarchie von Schwächen und Störfaktoren (9). Zunehmend gibt es im Übrigen schon Ergebnisse der Genforschung im Bereich der Einflüsse von Lebensstilfaktoren auf die Epigenetik (8).
Lässt sich die Evidenz vielfältigster Verhaltensmuster erfassen?
Da die Primärprävention massgeblich von konsequenten Verhaltensmustern respektive von nachhaltigen Verhaltensänderungen abhängt, ist es ebenso notwendig, für den Bereich der Verhaltenspsychologie eine solide empirische Datenbasis zu evaluieren. Für die adäquate Auswertung von Metaanalysen und gepoolten Daten muss man sowohl die signifikanten Unterschiede der Mechanismen aufzeigen als auch die Bewertungsstrategien systematisieren können. Hier ist eine einheitliche Bewertung allerdings nur näherungsweise möglich, da grosse inter- und intraindividuelle Varianzen von Verhaltensmustern bestehen. Um diese verlässlicher beurteilen zu können, benötigt man eine prospektive Evaluierung mit engmaschiger Kontrolle und Überwachung. Der doppelt blinde Untersuchungsansatz ist nicht möglich; engmaschige Kontrollen von Laborparametern oder die Abfrage von Ernährungsprotokollen und anderen Lebensstilverhalten haben bereits zwangsläufig gewisse Einflüsse auf das Verhalten des einzelnen Teilnehmers. Die Ergebnisse können somit nicht ohne Weiteres analog auf die allgemeine Bevölkerung übertragen werden. Es ist jedoch möglich, solche Störfaktoren bei systematischer Intervention herauszurechnen.
Die Synthese von Evidenz hängt vom evidenzbasierten Vorgehen ab
Um die Zusammenhänge zwischen Ernährungsverhalten und dem Erkrankungsrisiko evidenzbasiert klären zu können, bedarf es zunächst Kalibrierungsverfahren und bei den Analysen der epidemiologischen Daten strenger systematischer und kontrollierter Auswahlkriterien sowie
experimenteller Studien in klinischen Versuchen beziehungsweise Interventionsverfahren. (9, 12–16).
Evidenzbasierte Forschung am Beispiel der EPIC-Studie
Vom europäischen Forschungsprogramm «Europa gegen den Krebs» wurde 1992 die EPIC-Studie als prospektive Multizenterstudie initiiert (European Prospective Investigation into Cancer and Nutrition) (9, 12–16). Für die 521 000 Teilnehmer aus 10 europäischen Ländern wurde das Studiendesign mit adäquaten Evaluierungsinstrumenten sowohl für epidemiologische Daten als auch für aussagekräftige laborexperimentelle Verfahren entsprechend angepasst. Man hat, wie bei der Datenlage des WCRF-Reports, zur Prämisse gemacht, dass alle Empfehlungen durch Studienergebnisse oder Experimente am Menschen bestätigt werden müssen. Ein solches Konzept einer prospektiven Studie mit einer definierten Bevölkerungsgruppe, im biografisch gleichen Rahmen, bedarf als Kohortenstudie einer wesentlich höheren Teilnehmerzahl sowie einer längeren Studiendauer als eine Fallkontrollstudie. Zudem muss man mehrfach dieselben Variablen bei denselben Teilnehmern über mehrere Jahre zu mehreren Zeitpunkten evaluieren. Bei der EPIC-Studie wurden die Teilnehmer per Zufallsverfahren aus den Einwohnermelderegistern ausgewählt. Es sind erwachsene Europäer – Frauen im Alter von 35 bis 64 Jahren und Männer von 40 bis 64 Jahren. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich über 20 Jahre. Bei einer so grossen Teilnehmerzahl in einer Kohortenstudie und der Evaluierung physiologischer oder biochemischer Parameter können Daten aus Querschnittsanalysen gut genutzt werden, um bestimmte Hypothesen zu überprüfen oder neue zu erstellen. So lassen sich Störfaktoren durch verfälschte Informationserhebungen reduzieren, aufgrund der vielfältigen Ursache-Wirkungs-Beziehungen und der langen Zeitfolge bleiben allerdings immer Schwächen erhalten. Trotz langer Nachbeobachtungszeiten können diverse Faktoren nicht immer ausreichend erfasst werden, obwohl sie
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am Endpunkt einer gewissen Erkrankung ursächlich mitbeteiligt sein können. Um diese immanenten Schwächen bestmöglich zu reduzieren, wurde beim EPIC-Studiendesign eine Hierarchie der Schwächen und Störfaktoren erstellt und analysiert (9). Die Beurteilung einer Metaanalyse, die mehrere Studien enthält, besitzt immer gewisse Störgrössen, die man über eine lineare Regressionskalibrierung auszugleichen versucht. Dieses Verfahren hat jedoch den Nachteil, dass die Varianz in der Interventionsgruppe reduziert wird und die Vorteile einer breit angelegten Studie teilweise geschwächt werden können. Daher wurde in der EPIC-Studie ein nicht lineares Kalibrierungsverfahren verwendet, das eine Annäherung an die Verteilung des üblichen Ernährungsverhaltens in der Kohorte ermöglicht und nicht nur eine Mittelwertschätzung der linearen Kalibrierung erlaubt. Für ein solches Verfahren benötigt man valide Referenzmessungen zur Schätzung der intraindividuellen Varianz. Bei einem solchen Studienkonzept ist es nicht von Bedeutung, eine repräsentative Stichprobe in der Bevölkerung zu erhalten, da keine Aussagen über die Prävalenz von Erkrankungen oder Risikofaktoren gemacht werden sollen. Hier werden interne Vergleiche zwischen Exponierten und Nichtexponierten hinsichtlich ihres zukünftigen Erkrankungsrisikos evaluiert. Bei solchen Fragestellungen ist es sogar von Vorteil, wenn statt eines repräsentativen Bevölkerungsquerschnitts eine Kohorte teilnimmt, die entweder ein höheres Risiko oder eine bessere Compliance aufweist. Bei der EPIC-Studie waren bei den ersten zwei Nachfolgebeobachtungen (in 2 Jahresabständen) jeweils noch 96 Prozent der Teilnehmer beteiligt (Information des DIfE – Deutsches Institut für Ernährungsforschung). Somit ist davon auszugehen, dass bei der hohen Teilnehmerzahl und guten Compliance keine Verzerrung der Ergebnisse bei der Datenanalyse stattfindet. Zuverlässiger wird die Validität der Daten durch zusätzliche diagnostische Bestimmungen verschiedener biologischer Marker. Bei den Ernährungsbefragungen
müssen zusätzlich Energieadjustierungen durchgeführt werden, bevor die Ernährungsdaten ausgewertet werden können. Die Teilnehmer unterschätzen ihre Nahrungs- und somit Energieaufnahme häufig. Die aus dem Ernährungsprotokoll zu bestimmende Proteinaufnahme lässt sich mit der Proteinausscheidung im 24-Stunden-Urin vergleichen, und so kann der Fehlerquotient einer ungenauen Protokollierung berechnet werden. Hinsichtlich der berichteten Aufnahme von Alkohol wurden validierte Kontrollmarker im Urin bestimmt. Die Ausscheidung von 5Hydroxytryptophol (5-HTOL) und 5-Hydroxy-Indol-Essigsäure (5HIAA) ermöglicht die Berechnung des Alkoholkonsums. Da die relative Häufigkeit durch Korrelation zwischen einem Ernährungsverhalten und der Entstehung bestimmter Erkrankungen (das relative Erkrankungsrisiko) festgestellt werden soll, ist es wichtig, nicht nur die absolute Aufnahme an Nährstoffen im Gruppendurchschnitt zu bestimmen, sondern vor allem die relative Nährstoffaufnahme jedes einzelnen Teilnehmers im Vergleich zum anderen, sodass Dosis-Wirkungs-Beziehungen für Lebensmittelgruppen und die Odds Ratio für verminderte Risiken in diesem Zusammenhang eingeschätzt werden können. Bei vielen Studien im Bereich der Ernährung wurde bisher das Evaluierungskonzept nicht valide genug konzipiert; oft wurde lediglich versucht, die Effekte einzelner Nährstoffbestandteile (z.B. Mikronährstoffe und Spurenelemente) zu bestimmen. Solche Studien lassen sehr häufig keine relevanten Aussagen zu, da bereits die Grundvoraussetzungen nicht ausreichend valide sind.
Erfordernisse gesellschaftlicher und kultureller Anpassungen
Für die alltagstaugliche Krankheitsprävention ist die Evaluierung nachhaltiger Lebensstilveränderungen von entscheidender Bedeutung, die wiederum dem Lebensstil unterschiedlicher Kulturkreise respektive kultureller Hintergründe anzupassen sind. Damit die evaluierten Erkenntnisse erfolgreich zu umsetzbaren Ergebnissen führen, braucht es sozialund kulturwissenschaftliche Analysen
und eine entsprechende Anpassung der jeweiligen Empfehlungen. In diesem Zusammenhang sollte man ebenso evaluieren, inwieweit für Teilbereiche auch verarbeitete Lebensmittel und/oder Supplemente bestmögliche Ergänzungen sein könnten. Ein evidenzbasierter Zusammenhang lässt sich nur feststellen, wenn man die entsprechenden Faktoren (Art und Bioverfügbarkeit der Supplemente, Qualität und Verarbeitung der aufgenommenen Lebensmittel, Qualität und Form der körperlichen Aktivität, etc.) untersucht und mit erfasst. Neben der epidemiologischen Datenerfassung sollte die prospektive Intervention über Verhaltensschulungen sowie auch Ergänzungen der Nahrung untersucht und auf Evidenz basiert werden.
Nutzen versus Risiko
Selbst wenn die Evidenzlage nicht so deutlich wäre, wie sie es mittlerweile unzweifelhaft ist, käme man nicht umhin, den Ernährungsempfehlungen, wie sie die Ernährungsfachgesellschaften nahelegen, einen weit grösseren Nutzen gegenüber möglichen Risiken zuzusprechen. Die vereinfachte Botschaft, täglich mindestens 5 Portionen Obst und Gemüse guter Qualität und abwechslungsreicher Vielfalt zu konsumieren, ist bereits einer der wichtigsten Faktoren. Weitere Empfehlungen, wie weniger tierische Produkte und weniger Zucker zu essen, Alkohol und Fette zu reduzieren und mehr Wasser statt kalorienhaltiger Getränke zu trinken, stellen bereits leicht verständliche wichtige Botschaften dar. Warum von verschiedenen Seiten einseitige und unsachliche Berichte veröffentlicht werden, dass beispielsweise Obst und Gemüse doch nicht so wichtig wären, lässt Unwissen oder unangemessene Absicht vermuten. Selbst bei konventionellem Anbau mit Pestizidanwendung (10) liegt der gesundheitliche Nutzen eines nachhaltigen Obst- und Gemüsekonsums immer noch weit über den möglichen Risiken.
Zusammenfassung
Die Fülle widersprüchlicher Ergebnisse einzelner Studien führt zu Recht zu erheblichen Irritationen in der Öffentlich-
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keit wie auch in Fachkreisen, deren Tätigkeitsschwerpunkt in der Therapie und nicht in der Ernährungswissenschaft liegt (11). Mit den Forschungsergebnissen der EPIC-Studie, des WCRF-Reports und ähnlicher Studien adäquaten Designs hat man heute jedoch Klarheit für viele Bereiche und kann eindeutig signifikant evidenzbasierte Zusammenhänge zwischen Ernährungsfaktoren und Krankheiten bestimmen. Die systematische Erhebung ernährungsepidemiologischer Daten, in Kombination mit experimenteller Grundlagenforschung sowie der prospektiv angelegten Verlaufsbeobachtung unter Kontrolle von Biomarkern und der Endpunkte, hat die Evidenzlage auf ein hohes wissenschaftliches Niveau gebracht. Alle entsprechenden Fachgesellschaften erkennen dies an. Wenn es dennoch, nach wie vor, viele kontroverse Studienergebnisse gibt, liegt dies in der Natur der Sache, dass die multifaktoriellen Bedingungen der Erkrankungen nicht allein durch Evaluierung von Ernährungsfaktoren erfasst werden und Interventionen oft ungenügend bleiben. Viele Studien entsprechen zudem nicht den erforderlichen Kriterien zur korrekten Datenerhebung und Analyse. Um aus den resultierenden Empfehlungen evidenzbasierter Daten entsprechende Effekte auf breiter Ebene in grossen Bevölkerungsschichten zu erreichen, bedarf es vielerorts wirksamer Änderungen von Rahmenbedingungen und Strukturen – zum Teil auch über Verordnungen oder gesetzliche Regelungen. Sowohl die Berücksichtigung verschiedener Lebensstilfaktoren als auch die der Umweltqualität (sozioökonomisch wie ökologisch) ist sehr wichtig. Bei den Lebensmitteln sind Produktions-, Vermarktungs- und Verarbeitungskriterien mit entscheidend. Die Lebensmittel- sowie Umweltqualität kann nicht vom Lebensstil abgekoppelt betrachtet werden. Letztlich entscheidend ist die Selbstverantwortung des Einzelnen zur Krankheitsprävention. Um hier Einsicht, Motivation und konsequente Umsetzung zu fördern, könnten Belohnungsmassnahmen (z.B. niedrigere Krankenkassenbeiträge gekoppelt mit Beteiligung an Prä-
ventionsprogrammen) empfehlenswert sein. Manch ein bereits zur Primärprävention motivierter Mensch wird durch die verwirrende Vielfalt kontroverser Meinungen jedoch davon abgehalten, weil er sich kein Urteil zutraut. Von daher ist es unser Bestreben, die wissenschaftlichen Erkenntnisse in diesem Bereich in sachliche Informationen für die Allgemeinheit zu transferieren und in multimodale Interventionen umzusetzen, die Familie, Schule, Gemeinde und Gesellschaft einbinden. Verschiedene Programme mit professioneller Unterstützung (Beteiligung von Eltern, Ärzten, Hebammen, Sozialarbeitern, Psychologen, Politikern, etc.) sind erforderlich. Dies liefert einen effizienten Beitrag zur Reduktion von Erkrankungsrisiken und hat einen grossen sozioökonomischen Benefit.
Korrespondenzadresse:
Dr. med. Werner Seebauer
Institut für transkulturelle Gesundheits-
wissenschaften
Leiter der Präventionsmedizin
Europa-Universität Viadrina
E-Mail: drseebauer@intrag.info
Literatur: 1. WCRF-Report Zusammenfassung Auflage 2007, World Cancer Research Fund International, London, UK (Übersetzung Leitzmann) Vorwort I. Elmadfa und C. Leitzmann. 2. Deutsche Gesellschaft für Ernährung e.V. (Hrsg.) (2007) Stellungnahme – Obst und Gemüse in der Prävention chronischer Krankheiten. Bonn: Deutsche Gesellschaft für Ernährung. 3. Bulletin der Bundesregierung Nr. 52–1 vom 10. Mai 2007. Regierungserklärung des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Horst Seehofer, zum Thema: «Gesunde Ernährung und Bewegung – Schlüssel für mehr Lebensqualität» vor dem Deutschen Bundestag am 10. Mai 2007 in Berlin. 4. Nationale Verzehrstudie 2008: Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Herausgeber BMELV und Max Rubner-Institut. Bundesforschungsinstitut für Ernährung und Lebensmittel 2008. 4a. Mensink GBM, Kleiser C, Richter A et al. «Was essen Kinder und Jugendliche in Deutschland?» Ernährung – Wissenschaft und Praxis 2007; 1 (5): 204–212. 4b. Richter A, Vohmann C, Stahl A, Heseker H, Mensink GBM. Der aktuelle Lebensmittelverzehr von Kindern und Jugendlichen in Deutschland; Teil 2: Ergebnisse aus EsKiMo. Ernährungs-Umschau 2008; 55: 28–36. 5. Steffen LM, Jacobs DR, Stevens J et al. Associations of whole-grain, refined-grain, and fruit and vegetable consumption with risks of all-cause mortality and incident coronary artery disease and ischemic stroke: the Atherosclerosis Risk in Communities (ARIC) Study. Am J Clin Nutr 2003; 78: 383–390. 6. Joshipura KJ, Ascherio A, Manson JE et al. Fruit
Experten gesucht
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and vegetable intake in relation to risk of ischemic stroke. JAMA 1999: 282: 1233–1239. 7. Yusuf S, Hawken S, Ounpuu S, et al. INTERHEART Study Investigators. Obesity and the risk of myocardial infarction in 27 000 participants from 52 countries: a case-control study. Lancet 2005 Nov 5; 366 (9497): 1640–9. Comment in: Lancet 2005 Nov 5; 366 (9497): 1589–1591. 8. Ornish D, Magbanua MJ, Weidner G et. al. Changes in prostate gene expression in men undergoing an intensive nutrition and lifestyle intervention. Proc Natl Acad Sci USA 2008 Jun 17; 105 (24): 8369–8374. Epub 2008 Jun. 9. Sackett DL, Rosenberg WM, Gray JA, Haynes RB, Richardson WS. Evidence based medicine: what it is and what it isn’t. British Medical Journal 1996; 312: 71–72. 10. Deutsche Gesellschaft für Ernährung e.V. (Hrsg.): Objektive Darstellung der Rückstandbelastung von Obst und Gemüse. September 2007. 11. Byers T. Food frequency dietary assessment: How bad is good enough? American Journal of Epidemiology 2001; 154: 1087–1088. 12. Schulenberg D, Neitzke G, Stöckel S. Die Entwicklung von Stufe-3-Leitlinien in der Deutschen KrebsGesellschaft. Forum DKG 3/04 12–13 u. 33–35. 13. Boeing H, Brönstrup A, Ellinger S et al. Evidenzbasierte Leitlinie: Fettkonsum und Prävention ausgewählter ernährungsbedingter Krankheiten. DGE 2006. 14. Slimani N, Kaaks R, Ferrari P et al. European Prospective Investigation into Cancer and Nutrition (EPIC) calibration study: rationale, design and population characteristics. Public Health Nutr. 2002 Dec; 5 (6B): 1125–1145. 15. Riboli E, Hunt KJ, Slimani N, et al. European Prospective Investigation into Cancer and Nutrition (EPIC): study populations and data collection. Public Health Nutr. 2002 Dec; 5 (6B): 1113–1124. 16. Kaaks R, Ferrari P, Ciampi A et al. Uses and limitations of statistical accounting for random error correlations, in the validation of dietary questionnaire assessments. Public Health Nutr. 2002 Dec; 5 (6A): 969–976.
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