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FORTBILDUNG
Depression – eine potenziell chronische und systemische Erkrankung
Depression und Burn-out als psychosomatische Erkrankungen
Fortschritte in der neurobiologischen Grundlagenforschung verändern grundlegend unser Verständnis der Ätiologie und Pathogenese psychischer Erkrankungen. Es wird deutlich, dass die Depression als chronische Stressfolgeerkrankung ein Risikofaktor für das Auftreten somatischer Erkrankungen ist. Die Erkenntnisse beschleunigen die Abkehr von einer einstmals postulierten «Psychogenese» hin zu hirnorganisch fassbaren Krankheitsursachen, die «psychische» und «somatische» Prozesse integrieren.
Martin E. Keck
Martin E. Keck
Psychosomatik als Krankheitskonzept – jenseits der Ideologien
D er sinnvolle Begriff «Psychosomatik» hat oftmals zu wilden Spekulationen und fantasievoller Hypothesenbildung verführt. In obsoleten Definitionen bezeichnete Psychosomatik eine Monokausalität von primär seelischen Ursachen zu sekundär körperlichen Störungen. Die bizarrerweise als «Holy seven» bezeichneten klassischen «Psychosomatosen» Asthma bronchiale, Colitis ulcerosa, Ulcus pepticum, Neurodermitis, arterielle Hypertonie, Migräne und rheumatoide Arthritis beruhten auf der Annahme, dass ein spezifischer unbewusster Konflikt oder ein Persönlichkeitsprofil zu bestimmten, eng umschriebenen Krankheiten führt. Eine Theorie, die spätestens seit der Entdeckung des Helicobacter pylori als widerlegt gelten darf. Unter Psychosomatik im engeren Sinne können heute jedoch unverändert alle körperlichen Beschwerden mit oder ohne derzeit fassbaren organischen Befund verstanden werden, bei denen ein auslösender psychischer oder sozialer Konflikthintergrund eine wesentliche Rolle bei der Verursachung und Aufrechterhaltung spielt. Dass stete Wechselwirkungen zwischen Psyche und Körper bestehen, ist unbestritten und wird durch die moderne neurobiologische Forschung bestätigt. So ist mittlerweile klar, dass psychosoziale Bedingungen neuronale Konnektivitäten, die
Merksätze:
● Depressionen sind häufig und verlaufen oftmals chronisch. ● Die Depression wird heute als systemische Erkrankung betrachtet, da sie
andere Organe in Mitleidenschaft ziehen kann. ● Depressive Patienten zeigen ausser erhöhten Kortisolwerten eine Erhö-
hung der Sympathikusaktivität. ● Aus psychosomatischer Sicht erfordert die evidenzbasierte Behandlung
ein integriertes ganzheitliches Konzept.
Neurogenese sowie die Genexpression nachhaltig beeinflussen und verändern können. Ebenso ist beispielsweise klar, dass die wirksame Psychotherapie zu Veränderungen neuronaler Verbindungen führt. Die psychiatrische Theorie und Praxis beruht daher in der Schweiz seit Langem auf einem bio-psycho-sozialen Ansatz in der Diagnostik und Behandlung psychischer Störungen (vgl. Weiterbildungsprogramm und Leitbild der SGPP). Es ist klar, dass es keine rein körperlich-biologische Erkrankung gibt, bei deren Entstehung, Therapie oder Verlauf nicht auch psychische oder soziale Faktoren eine wichtige kausale und/oder verlaufsbestimmende Rolle spielen: Jede Krankheit ist somit psychosomatisch, die Unterscheidung in psychische und physische Krankheiten ist wenig zielführend. Die Depression kann hierfür als Paradebeispiel gelten.
Stressdepression – eine potenziell chronische und systemische Erkrankung Depressive Erkrankungen und ihre Vorstufe Burn-outSyndrom sind häufig: Die Lebenszeitprävalenz liegt bei zirka 15 Prozent (Männer: 10%, Frauen: 20% [1]). Die Erkrankung verläuft oftmals chronisch: In zirka 15 bis 20 Prozent der Fälle entwickelt sich ein chronisch-kontinuierlicher Verlauf, und in 50 bis 80 Prozent folgt eine zweite Episode. Mit steigender Episodenzahl wächst zudem das Risiko des Auftretens einer weiteren Krankheitsepisode (2). Nicht selten endet die Erkrankung tödlich: Bei Menschen bis zu einem Lebensalter von 40 Jahren stellt der Tod durch depressionsbedingten Suizid nach dem Unfalltod die zweithäufigste Todesursache dar – 15 Prozent aller Patienten mit schweren depressiven Episoden begehen Suizid. Entsprechend den Untersuchungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist davon auszugehen, dass die Depression weltweit zu einer der drei häufigsten Krankheiten zählt, die sowohl mit einer erhöhten Sterblichkeit als auch mit einem hohen Grad an Behinderung und chronischer psychosozialer Beeinträchtigung (von der WHO zusammengefasst als sog. DALYS – Disability-Adjusted Life-Years) durch die Erkrankung behaftet sind. Der WHO zufolge wird die Depression bis zum Jahr 2020
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nach ischämischen Herzerkrankungen diejenige Erkrankung sein, für welche die grössten Ressourcen verbraucht werden müssen (3). Gleichzeitig ist in den vergangenen Jahren klar geworden, dass eine Depression sehr wahrscheinlich ein unabhängiger Risikofaktor für die Entstehung von Gefässerkrankungen (z.B. koronare Herzerkrankungen, Schlaganfall) ist (4). Ihr kommt somit vermutlich dieselbe Bedeutung zu wie den klassischen Risikofaktoren Rauchen, Übergewicht und Bewegungsmangel. Gleichzeitig begünstigt eine depressive Erkrankung das Auftreten von Osteoporose und Diabetes mellitus Typ II. Die Depression wird heute daher als systemische Erkrankung betrachtet, da sie neben dem Gehirn viele andere Organe in Mitleidenschaft ziehen kann. All dies unterstreicht die grosse Bedeutung einer frühzeitigen, interdisziplinären und nachhaltigen Therapie.
Depression als psychosomatische Stressfolgeerkrankung Jeder Angriff auf die Integrität eines Individuums – unerheblich, ob real oder imaginär, ob physischer oder psychischer Natur – löst eine Stressreaktion aus. Im Rahmen dieser Stressreaktion wird eine Vielzahl von Mechanismen aktiviert, deren gemeinsames Ziel es ist, die Homöostase wiederherzustellen und eine adäquate und stabilisierende Anpassung des Organismus an die sich stetig ändernden Umweltbedingungen zu ermöglichen. Solange eine stressvolle Episode nur von kurzer Dauer ist, kann sie aufgrund ihrer generellen Aktivierung und Mobilisation endogener Ressourcen als durchaus gewinnbringend und stimulierend empfunden werden. Über eine negative Rückkopplung mit Mineralo- und Glukokortikoidrezeptoren wird die physiologische Stressreaktion normalerweise zügig beendet. Bei chronischem Stress hingegen und auf dem Boden einer entsprechenden individuellen Prädisposition, die sehr wahrscheinlich zu einer Minderfunktion der Mineralo- und Glukokortikoidrezeptoren führt (5), wird diese Regulation ausser Kraft gesetzt: Es kommt zu erhöhten CRH (Corticotropin-Freisetzungshormon) und AVP(Vasopressin)-Konzentrationen im Gehirn, welche die Entwicklung einer Depression beziehungsweise ihrer Vorstufe Burn-out begünstigen (6). Diese Prädisposition kann sowohl genetisch festgelegt sein (5) als auch beispielsweise epigenetisch durch frühkindlichen Stress – wie Missbrauch oder Vernachlässigung – entstehen (7). Chronischer Stress wird nicht selten von einem zunehmenden Gefühl des Kontrollverlustes über die Situation begleitet – im limbischen System kommt es hierbei zu einer Überaktivität der für die Emotionsregulation wichtigen Amygdala und in der Folge auf der hormonellen Ebene zusätzlich zu einer pathologischen, dauerhaften Aktivierung des HypothalamusHypophysen-Nebennierenrinden-Systems (HPA-System) (Abbildung 1 [8]). Bei der Depression sind von allen möglichen endokrinen Veränderungen diese Verschiebungen in der Regulation des Stresshormonsystems mittlerweile am besten dokumentiert. Die Mehrzahl der depressiven Patienten zeigt eine erhöhte Plasmakonzentration der Stresshormone ACTH und Kortisol, und die Ergebnisse hormoneller Funktionstests (z.B. der Dexamethason-
Abbildung 1: Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-(HPA)Achse
Hypothalamisches Corticotropin-Freisetzungshormon (CRH) und Vasopressin (AVP), welche in das Pfortadersystem der Hypophyse sezerniert werden, sind die wichtigsten Stimuli für die hypophysäre ACTH-Freisetzung. ACTH bewirkt seinerseits eine Freisetzung von Glukokortikoiden aus der Zona fasciculata der Nebennierenrinde (Kortisol, Kortikosteron). Durch eine negative Rückkopplung hemmen Glukokortikoide über Glukokortikoid-(GR)- und Mineralokortikoid-(MR)-Rezeptoren die CRH- und AVP-synthetisierenden Neurone auf der Ebene des Hypothalamus und der Hypophyse, um ein unkontrolliertes Aufschaukeln der Stresshormonaktivierung zu verhindern. Dieser Mechanismus kann bei Dauerstress ausser Kraft gesetzt werden, es resultiert eine pathologische Überaktivität der Stresshormonachse. Diese wird zudem über physiologische positive Rückkopplungsmechanismen in der Amygdala, einer für die Emotionsregulation wichtigen limbischen Hirnstruktur, die im Rahmen einer Depression hyperaktiv ist, verstärkt. Oxytocin wirkt auf die Stresshormonachse sowie auf die Amygdala dämpfend.
Suppressions-/CRH-Stimulationstest) beweisen die gestörte Regulation des HPA-Systems bei depressiven Patienten (7, 9). Diese andauernde Überaktivität des HPA-Systems ist vor allem durch die vermehrte zentralnervale Bildung und Freisetzung der HypothalamusHormone CRH und AVP erklärbar. Dies stimmt mit Befunden einer erhöhten CRH-Konzentration im Liquor depressiver Patienten überein. Ebenfalls wurde in solchen Patientenkollektiven in verschiedenen Hirnregionen eine bis zu vierfach erhöhte Zahl CRH- und AVP-bildender Nervenzellen nachgewiesen. Antidepressive Therapieverfahren, wie zum Beispiel die Pharmakotherapie mit Serotonin-Wiederaufnahmehemmern, aber auch psychotherapeutische Verfahren, führen zu einer Normalisierung der krankheitsbedingten Überaktivität des Stresshormonsystems und damit der klinischen Symptomatik (10, 11). Da dieser Effekt jedoch erst mit einer grossen Verzögerung eintritt, wurde vorgeschlagen, im Sinne kausaler pharmakologischer Therapiestrategien das fehlregulierte CRH- beziehungsweise AVP-System direkt pharmakologisch zu bekämpfen (12–14). Interessant ist, dass dieses Konzept teilweise auf alten Erfahrungen beruht, welche zu dieser Zeit noch nicht mit dem Begriff Psychosomatik belegt wurden: In Zürich verfasste Manfred Bleuler 1954 in seiner Monografie «Psychiatrische Endokrinologie» eine erste umfassende Darstellung des damaligen Kenntnisstandes
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über die verschiedenen hormonellen Regulationssysteme, ihre Störungen sowie ihre mögliche Bedeutung für die Entstehung psychiatrischer Erkrankungen. Mitte der Sechzigerjahre wurde erstmals beobachtet, dass signifikant erhöhte Kortisol-Blutkonzentrationen während der Erkrankungsphase einer schweren Depression auftreten – ein Befund, der sich in engem zeitlichem Zusammenhang mit der klinischen Besserung wieder normalisiert. Seitdem sind zahlreiche, differenzierte Untersuchungen zu Veränderungen der hormonellen Regulation bei Patienten mit Depression durchgeführt
Depression/Burn-out/chronischer Stress
Hypothalamus
Sympathikus↑
CRH + Vasopressin (AVP)↑ ACTH↑
Mobilisierung
Blutdruck
freier Fettsäuren↑ Herzfrequenz↑
Cortisol↑
Viszerale Fettakkumulation↑
Wachstumshormon Sexualhormone↓
Insulinresistenz
Hyperinsulinämie
NIDDM, CVD, Schlaganfall, Osteoporose
Depression ist ein unabhängiger Risikofaktor für Diabetes Typ II, Schlaganfall, Myokardinfarkt
{ Dyslipidämie Thrombogenetische Veränderungen
Abbildung 2: Psychosomatischer Zusammenhang von Depression, Burn-out und chronischem Stress
Auswahl von Krankheiten, welche mit einem erhöhten Depressionsrisiko assoziiert sind
Erkrankung
Alzheimer Demenz Parkinson Schlaganfall Andere neurologische Störungen
Risk association depression (RR)
3,2 3,6 4,6 2,9
Kardiovaskuläre Erkrankungen
2,5
Neoplasmen
Muskuloskeletale Erkrankungen
1,9 2,1
RR for Depression
Das Depressionsrisiko steigt mit der Anzahl der Risikoerkrankungen
Abbildung 3: Somatopsychischer Zusammenhang: Das Risiko, an einer Depression zu erkranken, steigt bei bestimmten Erkrankungen deutlich an.
worden, die bestätigen konnten, dass Veränderungen in der Regulation des HPA-Systems zu den konsistentesten neurobiologischen Merkmalen affektiver Störungen zählen (11, 15). Neben dem HPA-System ist ein weiteres Stresssystem betroffen: Depressive Patienten zeigen ausser erhöhten Kortisolwerten eine Erhöhung der Sympathikusaktivität, welche zu einer verstärkten Ausschüttung von Adrenalin führt (16). Die dauerhafte Überaktivierung
der Stresshormonsysteme kann schliesslich zu weiteren Veränderungen der Stoffwechselregulation führen, die in den oben erwähnten Erkrankungen Herzinfarkt, Schlaganfall, Osteoporose und Diabetes münden können (Abbildung 2). Die Depression wird daher heute als Zustand chronischen Stresses beziehungsweise als Stressfolgeerkankung verstanden – daher auch die Bezeichnung Stressdepression. Zahlreiche epidemiologische Studien haben den psychosomatischen Aspekt der Depression in den vergangenen Jahren eindrücklich untermauert. Die englischen Whitehall-I- und -II-Studien (17), die französische GAZEL-Studie sowie die finnische Gesundheits-Kohortenstudie belegen eindrücklich den Zusammenhang zwischen chronischem Stress beziehungsweise Depression und einer bis zu 3,5-fach (HR) erhöhten Mortalität, zum Beispiel an kardio- und zerebrovaskulären Erkrankungen oder Karzinomen (z.B. 18, 19, 20). Umgekehrt sind beispielsweise Erkrankungen wie M. Parkinson, Alzheimer-Demenz oder Schlaganfall mit einem bis 4,6-fach erhöhten Depressionsrisiko assoziiert (21) (Abbildung 3).
Therapeutische Konzepte – die Behandlung der Stressdepression Patienten mit Restsymptomen erleiden zu 80 Prozent einen Rückfall (2) – die verbleibende depressive Symptomatik wird selber zum Stressor und löst neue depressive Episoden aus. Wichtig ist daher die nachhaltige Therapie der Depression, die zur Komplettheilung führt. Diese beinhaltet auch die mindestens sechsmonatige Begleitung des Patienten nach Remission. In dieser wichtigen Phase der Erhaltungstherapie dürfen die Antidepressiva keinesfalls abgesetzt oder reduziert werden, auch kann die Fortführung der Psychotherapie, gegebenenfalls im Sinne sogenannter BoosterSessions, sehr sinnvoll sein. Je häufiger depressive Phasen in der Anamnese aufgetreten sind und je schwerer sie waren, desto zwingender ist eine Langzeittherapie, das heisst, die therapeutische Begleitung des Patienten über die Zeit der Erhaltungstherapie hinaus (2).
Integriertes ganzheitliches Konzept: Aus psychosomatischer Sicht erfordert die evidenzbasierte Behandlung ein integriertes ganzheitliches Konzept, das sowohl multimodal als auch multimethodal und interdisziplinär ist. Es gilt, im Therapeutenteam ein individuelles Problem im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplans gemeinsam mit dem Patienten koordiniert lösungsorientiert anzugehen. Multimethodal bedeutet in diesem Behandlungskonzept, unterschiedliche Psychotherapieansätze, wie kognitive Verhaltenstherapie, psychodynamische Therapie und Gesprächstherapie, den Bedürfnissen des einzelnen Patienten entsprechend zu kombinieren. Multimodal beschreibt die Tatsache, dass neben Einzel- und Gruppentherapien je nach Indikation zusätzlich körperzentrierte beziehungsweise kreativtherapeutische Verfahren und Entspannungsverfahren (z.B. progressive Muskelrelaxation, Yoga, Qi Gong, Tai-Chi, Biofeedback, Neurofeedback) in unterschiedlicher Zusammensetzung angewendet werden. Interdisziplinär bedeutet, dass idealerweise ein Fachärzteteam aus Psychiatern und Psychotherapeuten, Neurologen und Internisten mit psychologischen
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Psychotherapeuten im besten «psychosomatischen» Sinne eng zusammenarbeitet.
Medikamentöse Therapie: Während bei leichtergradigen Erkrankungsformen mit alleiniger Psychotherapie in der Regel sehr gute Behandlungserfolge erzielt werden können, erfolgt die Behandlung der mittelgradigen bis schweren Depression zusätzlich medikamentös mit Antidepressiva unterschiedlicher Klassen. Dazu zählen zum Beispiel trizyklische Antidepressiva, Monoamin-Oxidase-Hemmer (MAO-Hemmer), SerotoninWiederaufnahmehemmer (SSRI), Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI) und andere. Diese Substanzen beruhen alle auf dem vor über 50 Jahren von Roland Kuhn in der Schweiz entdeckten Wirkprinzip der Verstärkung der monoaminergen Neurotransmission (Serotonin, Noradrenalin, Dopamin). Pharmakologisch neu ist die Verwendung von Agomelatin, einer mit Melatonin strukturell verwandten Substanz. Agomelatin wirkt als Melatoninrezeptor-Agonist (an MT1 und MT2) sowie als kompetetiver 5HT2C-Antagonist mit einer konsekutiven Verstärkung der dopaminergen und noradrenergen Neurotransmission. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass der Unterschied bezüglich des Erreichens einer Remission zwischen einem Antidepressivum und Plazebo typischerweise bei
10 bis 20 Prozent liegt (22, 23). Dies bedeutet, dass fünf bis zehn Patienten antidepressiv behandelt werden müssen, damit eine Remission erzielt wird (Number Needed to Treat NNT = 10). Im Vergleich zu anderen medizinischen Interventionen ist dies nicht schlecht aber weit davon entfernt, befriedigend zu sein. Gleichzeitig unterstreicht diese Erkenntnis, dass die adäquate Behandlung stets die Psychotherapie einschliessen sollte. Diese führt idealerweise letztlich zu einem veränderten Umgang mit Stress und zur Korrektur der negativen individuellen Bewertung und Verarbeitung der Stressoren. In der Zukunft könnte hierbei dem Neuropeptid Oxytocin eine wichtige unterstützende Rolle zukommen: Oxytocin, welches über einen Nasenspray problemlos appliziert werden kann, dämpft die stressinduzierte Aktivität der HPA-Achse, vermindert die bei der Depression erhöhte Amygdalaaktivität und fördert die soziale Interaktion, was wiederum positive Effekte auf die besonders bei ausgeprägter Depression erschwerte psychotherapeutische Interaktion haben könnte (24). Mit der Schlafentzugsbehandlung (Wachtherapie) sowie der Lichttherapie liegen weitere bewährte Behandlungsmöglichkeiten in sinnvoller Ergänzung oder bei leichterer Verlaufsform alternativ zur pharmakologischen Therapie vor.
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Komplementärmedizinische Ansätze: Ergänzt wer-
den kann die Behandlung durch evidenzbasierte kom-
plementärmedizinische Ansätze, beispielsweise natur-
heilkundliche salutogenetische Konzepte wie Phyto-
therapie und Hydrotherapie, Elemente der traditionel-
len chinesischen Medizin (Akupunktur), Hypnotherapie,
Massagen und Aromatherapie. Die moderne psychoso-
matische Therapie der Depression birgt somit viele
Möglichkeiten und wird daher als Inbegriff einer inno-
vativen, ganzheitlichen und evidenzbasierten Psychia-
trie verstanden.
●
Korrespondenzadresse:
Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Martin E. Keck
Ärztlicher Direktor und Chefarzt Privatstationen
Facharzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie
Facharzt FMH für Neurologie
Facharzt für Psychosomatik und Psychotherapie (Bayern)
Clienia Privatklinik Schlössli
8618 Oetwil am See/Zürich
und Zentrum für Neurowissenschaften Zürich
der Universität und ETH (ZNZ)
E-Mail: martin.keck@clienia.ch
Internet: www.clienia.ch
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