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FORTBILDUNG
Angststörungen: Klassifikation, Diagnostik und Therapie
Angststörungen stellen ein Erkrankungsspektrum dar, dessen Therapie einen substanziellen Anteil der allgemeinärztlichen und psychiatrischen Behandlungstätigkeit ausmacht und dem bis in die jüngere Vergangenheit sowohl in der Forschung wie auch in der Praxis nicht die entsprechende Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Dies scheint sich jetzt zu ändern. Umso wichtiger ist die Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen Physiologie und Pathologie dieser – ihrer Natur nach mit grossem Leiden verbundenen – Emotion.
Heider Lindner
Jiri Modestin
Josef Hättenschwiler
5/2011
von Heider Lindner, Jiri Modestin, Josef Hättenschwiler
Definition der Grundbegriffe
A ngst: Der Begriff der Angst geht aus dem althochdeutschen Begriff angust (seinerseits verwandt mit dem lateinischen angustus für «Enge, Bedrängnis») hervor, welcher wiederum seine etymologische Wurzel im indogermanischen anghu, «beengend», besitzt (1). Im medizinischen Sprachgebrauch herrscht weitgehender Konsens darüber, dass die Angst eine primär nicht gerichtete (das heisst nicht unmittelbar situations- oder objektgebundene) Empfindung unlustbetonter Erregung ist. Sie ist ein Grundgefühl (Emotion) und damit primär physiologisch (2, 3).
Furcht: Im medizinischen Sprachgebrauch bezeichnet die Furcht im Gegensatz zur Angst eine primär gerichtete (das heisst unmittelbar situations- oder objektgebundene) Reaktion des Organismus auf eine gegenwärtige oder vorausgeahnte Gefahr. Angst und Furcht sind also primär gesunde, lebensnotwendige Emotionen, die eine Wahrnehmung von Bedrohung begleiten sowie davon ausgehend die Überprüfung und gegebenenfalls die Anpassung eigenen Verhaltens ermöglichen beziehungsweise optimieren.
Merksätze: ● Im medizinischen Sprachgebrauch umfasst jedes Er-
leben von Furcht das Empfinden von Angst, jedoch ist nicht jedes Gefühl von Angst eine Furcht. ● Angst und Furcht sind primär gesunde Anteile des menschlichen Erlebens. Sie erfüllen eine essenzielle, im Hinblick auf die Evolution biologische, nun aber auch soziale und psychohygienische Funktion. ● Die ärztliche Tätigkeit beginnt bei der kritischen Unterscheidung zwischen der gesunden, ihre Funk-
tion erfüllenden Angst und dem krankhaften Zustand, bei welchem Angst und Furcht nicht Reaktion auf eine Bedrohung sind, sondern selbst zu einer Bedrohung für die Gesundheit des Menschen werden. Angsterkrankungen können somit als dysfunktionale Ausprägungen funktionaler Mechanismen verstanden werden.
Klassifikation von Angsstörungen Obwohl Angst ein Affekt ist, werden Angstsyndrome nach dem internationalen Klassifikationssystem der Krankheiten ICD-10 nicht der Rubrik F3, den affektiven Störungen, sondern der Rubrik F4, den neurotischen, Belastungs- und somatoformen Störungen, zugeordnet (Kasten 1). Weiter wird in der Terminologie des ICD10 unterschieden zwischen phobischen und anderen Angststörungen.
Definition der Angststörungen und ihre Lebenszeitprävalenzen
Phobische Störungen Agoraphobie: Eine Angst vor weiten Plätzen, aber auch vor allen Situationen ausserhalb der gewohnten Umgebung des Patienten mit beschränkten Möglichkeiten zu Flucht oder Inanspruchnahme von Hilfe. Spezifisch angstauslösend ist hierbei die Vorstellung des Patienten, die Kontrolle über sich oder die Situation zu verlieren und kardiovaskuläre (Schwindel, Ohnmacht, Palpitationen, Herzinfarkt), dissoziative oder gastroenterologische (Übelkeit, Erbrechen etc.) und andere Beschwerden zu erleiden, die sich bis zu Todesangst steigern können. Typische Situationen sind Märkte, Volksfeste, Kaufhäuser, Aufzüge, Demonstrationen, Versammlungen. Wie ersichtlich, fasst die ICD-10 den Begriff der Agoraphobie so weit, dass er auch klaustrophobische Situationen umfasst. Konsekutiv kommt es
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häufig über die Meidung angstauslösender Situationen zu teilweise schweren Beeinträchtigungen im Alltag. Die Lebenszeitprävalenz der Agoraphobie beträgt 5 Prozent (4), 1,4 Prozent entfallen auf die Agoraphobie ohne Panikstörung (15). Soziale Phobie: Die Furcht, in sozialer Interaktion mit anderen Menschen von diesen als inkompetent,
Kasten 1:
Die wichtigsten Angststörungen nach ICD-10 und ihre Lebenszeitprävalenzen
F40 F40.0 F40.00 F40.01 F40.1 F40.2 F41 F41.0 F41.1 F41.2
Phobische Störungen Agoraphobie
ohne Panikstörung mit Panikstörung soziale Phobien spezifische Phobien Andere Angststörungen Panikstörung generalisierte Angststörung Angst und depressive Störung, gemischt
5% 1,4% 3,6% 6–13% 10%
2–3% 8%
schwach oder anderweitig unzulänglich wahrgenommen und bewertet zu werden und sich dadurch gedemütigt oder beschämt zu fühlen. Die Symptomatologie ist vielfältig und umfasst nahezu das gesamte Spektrum psychovegetativer Beschwerden. Das dadurch hervorgerufene Vermeidungsverhalten kann bis zur völligen sozialen Isolation mit der Unfähigkeit, das Haus zu verlassen, führen. Man unterscheidet die generalisierte, auf die meisten zwischenmenschlichen Interaktionen bezogene von der nicht generalisierten Form, welche sich auf mehr oder weniger eng begrenzte Facetten sozialer Kontakte beschränkt (z.B. essen mit anderen, telefonieren, tanzen, flirten etc.). Die Lebenszeitprävalenz der sozialen Phobie beträgt je nach (Meta-)Analyse und untersuchtem Kulturkreis 6 bis 13 Prozent (5). Spezifische Phobien: Dazu gehören sämtliche weitere objekt- oder situationsbezogene Ängste. Informell (das heisst nicht nach ICD-10 oder DSM-IV kodierbar) ist eine Unterteilung in Tiertypus, Umwelttypus, Verletzungstypus (z.B. Blut, offene Wunden etc.) und situativen Typus (z.B. durch einen Tunnel mit dem Auto fahren) gängig. Die Lebenszeitprävalenz beträgt zirka 10 Prozent (14).
Andere Angststörungen Panikstörung: Panikattacke und Panikstörung werden fälschlicherweise oft synonym verwendet: Die Panikattacke entspricht einem akuten, extrem intensiven, zeitlich begrenzten Angsterleben. Sie kann situationsgebunden, situationsbegünstigt oder situationsunabhängig auftreten. Nur wiederkehrende, unerwartet auftretende, situationsunabhängige Panikattacken gelten als Panikstörung. Die Attacken können hierbei in der Dauer von wenigen Sekunden bis mehrere Stunden variieren, typisch ist eine Dauer von zirka 10 bis 30 Mi-
nuten mit einem Angstgipfel nach zirka 1 bis 3 Minuten. Typisch ist darüber hinaus ein plötzlicher Beginn der Panik mit vegetativen Symptomen, Depersonalisation, Derealisation und Angst vor dem Verrücktwerden und/oder Sterben. Insbesondere für Hausärzte bedeutsam ist ein Subtyp der Panikstörung, bei dem Betroffene zwar ausgeprägte psychovegetative Symptome erleben, aber kein Gefühl von Angst an sich. Entsprechend häufig suchen diese Patienten medizinische Notdienste auf, und entsprechend schwierig ist die korrekte Diagnosestellung. Die Panikstörung prädisponiert zur Entwicklung antizipatorischer Angst (sog. «Angst vor der Angst») sowie einer Agoraphobie. Diese Kombination ist derart häufig, dass sie im ICD-10 als eigenständige Entität kodiert werden kann. Die Lebenszeitprävalenz der Panikstörung liegt bei 2 bis 3 Prozent (13). Generalisierte Angststörung: Pathognomonisch für diese Erkrankung ist eine andauernde Angstsymptomatik über mindestens mehrere Wochen (nach ICD-10) beziehungsweise mindestens sechs Monate (DSM-IV). Das Angsterleben ist «frei flottierend», das heisst, es ist nicht primär objekt- oder situationsgebunden, und es ist quälend, ohne die Intensität einer Panik zu erreichen. Meistens leben die Patienten in ständigen Sorgen. Das Übertriebene und Unangebrachte dieses prolongierten Angsterlebens ist ihnen dabei bewusst. Der lange Zeitraum nervöser Übererregung führt typischerweise zu Konzentrationsstörungen, Reizbarkeit, Schlafstörungen und Muskelschmerzen, unbehandelt entwickelt sich auf der Grundlage einer generalisierten Angststörung nahezu regelhaft eine komorbide Depression. Die generalisierte Angststörung ist somit als chronische Erkrankung zu bezeichnen und hat eine Lebenszeitprävalenz von bis zu 8 Prozent (6).
Merksätze: ● Mit einer Lebenszeitprävalenz von bis zu 28 Prozent
(15) sind Angststörungen die häufigsten psychischen Erkrankungen überhaupt. ● Auch wenn der Patient beim Aufsuchen der hausärztlichen Praxis keine oder nur geringe Gefühle von Angst schildert, ist eine Angststörung keinesfalls ausgeschlossen.
Die Diagnostik und Differenzialdiagnostik der Angststörungen Aufgrund der aufgeführten Überlegungen wird nachvollziehbar, warum ein blosses Vorhandensein von Angst an sich weder zur Diagnostik einer Störung im Allgemeinen noch zur Differenzialdiagnostik unterschiedlicher Angststörungen oder deren Abgrenzung von anderen psychischen Leiden ausreichend ist. Zu vielfältig ist die physiologische Bandbreite des Angsterlebens, und zu häufig ist sie Begleitsymptom bei anderen psychischen und somatischen Erkrankungen. In der Abklärung ist es daher notwendig, zu überprüfen. Ist die Angst: ● eine physiologische Stressreaktion ● eine spezifische Angststörung ● Begleitsymptom einer anderen psychischen Erkran-
kung ● Begleitsymptom einer somatischen Erkrankung ● pharmakologisch-toxisch bedingt.
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Kasten 2 und 3 geben einen orientierenden Überblick darüber, welche somatischen Erkrankungen häufig mit Angsterleben assoziiert sind, sowie über einige Pharmaka und Drogen, die angstauslösend sein können (modifiziert nach [7]). Kasten 4 schildert typische Charakteristika pathologischer Angst, die bei der Unterscheidung von physiologischer Angst nützlich sein können. Weiter kompliziert wird die Diagnostik durch eine hohe Komorbidität von Angststörungen mit anderen psychischen Erkrankungen, welche ihrerseits ebenfalls Angst als Symptom aufweisen können. Exemplarisch hierfür sind Depressionen und die Schizophrenie, letztere insbesondere in ihrem Prodromalstadium.
Kasten 2:
Angst als Begleitsymptom somatischer Erkrankungen
Kardiovaskulär: Arrhythmie, koronare Herzkrankheit, Myokardinfarkt, orthostatische
Dysregulation
Pulmonal:
Asthma, COPD, Pneumothorax
Endokrinologisch: Hypothyreose, Hyperthyreose, Hypoglykämie
Immunologisch: Anaphylaxie, Arteriitis temporalis
Neurologisch: Epilepsie, zerebrale Malignome, Multiple Sklerose
Kasten 3:
Pharmakologisch-toxische Ursachen von Angst
Sympathomimetika, Anticholinergika, Schilddrüsenhormone, Kortikosteroide, Alkohol, Nikotin, Cannabis, Amphetamine, Kokain, LSD, Koffein
Kasten 4:
Charakteristika pathologischer Angst
● Auftreten ohne Vorhandensein einer realen Bedrohung ● Auftreten in einem Ausmass, welches die Beseitigung von Bedrohung erschwert oder verhin-
dert ● Angst, die nach Beseitigung einer Bedrohung persistiert ● antizipatorische Angst ● Vermeidungsverhalten
Ausgehend von diesen Sachverhalten wurde folgender Algorithmus als Leitlinie für die (Differenzial-)Diagnostik in der Praxis erstellt (Kasten 5). Psychometrische Tests wie die PAS (Panik- und Agoraphobieskala) oder die HAMA (Hamilton-Angst-Skala) können nützlich sein, um bei der Schweregradeinteilung der entsprechenden Krankheitsbilder sowie zur Verlaufsbeurteilung Hilfestellung zu bieten. Sie sind jedoch zur Erstdiagnostik nicht notwendig. Gleiches gilt für Fragebögen oder Checklisten etc. (z.B. Ängste-Sorgen-Zwänge-Fragebogen [7]). Somatische Abklärungen sollten massvoll angewendet werden – eine 100-prozentige Sicherheit ist erkenntnisund wissenschaftstheoretisch nicht möglich (8). Ausufernde, wiederholte somatische Diagnostik führt häufig zu hohen Kosten, Frustrationen aufseiten von Arzt und Patient sowie schlimmstenfalls zu iatrogener Fixierung und Chronifizierung der Beschwerden. Auch deshalb ist die sorgfältige Prüfung von bestehenden Behandlungsund Untersuchungsbefunden ein wesentlicher Schritt des diagnostischen Algorithmus. Er hilft, Redundanz zu vermeiden und Ressourcen zu schonen.
Merksatz: ● Angststörungen sind keine «Ausschlussdiagnosen».
Ein sorgfältiger diagnostischer Algorithmus ermöglicht eine frühzeitige, kosteneffiziente Diagnostik.
Die Therapie der Angststörungen Die im Folgenden dargestellte Therapie der Angststörungen basiert auf den Behandlungsempfehlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Angst und Depression (SGAD), der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP) und der Schweizerischen Gesellschaft für biologische Psychiatrie (SGBP) (10), welche sich ihrerseits an der internationalen Leitlinie der World Federation of Societies of Biological Psychiatry (WFSBP [11]) orientieren. Wann immer verfügbar werden Erkenntnisse der evidenzbasierten Medizin berücksichtigt und explizit als solche benannt.
Therapiemodalitäten «Unspezifische» Massnahmen: Aufklärung des Patienten, Psychoedukation, Informationsbroschüren, Selbsthilfeliteratur, Umstellung der Lebensweise (Ernährung, Freizeitverhalten etc.), Vermittlung der Kontaktdaten von Selbsthilfegruppen und Ähnliches sind Massnahmen, die in leichten Fällen bereits eine Besserung oder gar Heilung bewirken können (9). Sie sind ein essenzieller Bestandteil jeder Angsttherapie. Psychotherapieverfahren: Zur Behandlung der Angststörungen ist die kognitive Verhaltenstherapie die einzige Psychotherapie, für die ausreichende Wirksamkeitsnachweise gemäss den Kriterien für evidenzbasierte Medizin vorliegen (10). Dennoch können auch psychodynamische und andere Therapieverfahren in Einzelfällen sinnvoll sein, insbesondere wenn sie vom Patienten bevorzugt oder verlangt werden. Bei der Panikstörung ist die alleinige evidenzbasierte Psychotherapie die Behandlung erster Wahl, die Kombinationstherapie mit Psychopharmaka ist im Behandlungserfolg gleichwertig, aber nebenwirkungsreicher. Rein medikamentöse Therapieansätze sind der Psychotherapie vor allem langfristig möglicherweise unterlegen. Bei der generalisierten Angststörung ist die Datenlage weniger solide als bei anderen Angststörungen; momentan gibt es keine ausreichende Evidenz, dass eine kombinierte oder alleinige Pharmakotherapie der evidenzbasierten Psychotherapie überlegen ist. Bei der sozialen Phobie ist ebenfalls die alleinige evidenzbasierte Psychotherapie Mittel der Wahl, da eine Kombinationstherapie mit Psychopharmaka ihr gegenüber keine Vorteile aufweist (10). Bei spezifischen Phobien ist die evidenzbasierte Psychotherapie Mittel der ersten Wahl. Pharmakologische Therapie: Psychopharmaka sind trotz der oben dargestellten Datenlage oftmals ein unerlässlicher Bestandteil einer Therapie und sollten als Ergänzung und nicht als Konkurrenz zur Psychotherapie wahrgenommen werden. Indiziert sind sie immer dann, wenn eine alleinige Psychotherapie in nützlicher Frist von 4 bis 6 Wochen keinen Erfolg bringt, vom Patienten nicht gewünscht wird oder nicht durchführbar scheint und eine mindestens mittelschwere bis schwere Beeinträchtigung der Lebensqualität durch die Erkrankung vorliegt (12).
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Die unterschiedlichen zur Verfügung stehenden Pharmaka sind in Kasten 6 (modifiziert nach [10]) nach absteigender Evidenz (gemäss Einteilung der WFSBP [11]) sowie nach Diagnose katalogisiert. Da aber neben der Evidenzstärke auch Überlegungen zu potenziellen Nebenwirkungen und Akzeptanz oder Ablehnung seitens des Patienten in der Therapieplanung eine entscheidende Rolle einnehmen, folgt zu jeder Medikamentenklasse eine kurze Zusammenfassung der Nebenwirkungen und sonstigen Besonderheiten, die ihr eigen sind.
Medikamentöse Behandlung der Angststörungen
Antidepressiva Selektive Serotoninwiederaufnahme-Hemmer (SSRI): Zu ihnen liegen die umfangreichsten Daten vor, sie sind bei allen Angststörungen gut wirksam. Nebenwirkungen sind typischerweise Unruhe, Übelkeit, Anspannung, Diarrhö, Schlaflosigkeit und eine initiale Verstärkung der Angstsymptomatik. Diese beruhen auf einer serotonergen Überstimulation und sind durch einschleichende Aufdosierung zu minimieren. In seltenen Fällen können gastrointestinale Blutungen auftreten, selten ist das Syndrom der inadäquaten ADH-Sekretion. Bei Langzeitbehandlung kann es bei beiden Geschlechtern zu sexuellen Funktionsstörungen kommen. Absetzphänomene sind möglich, aber durch ein ausschleichendes Absetzen der Medikation vermeidbar oder minimierbar. Selektive Serotonin- und NoradrenalinwiederaufnahmeHemmer (SSNRI): Typische Nebenwirkungen sind Nervosität, Übelkeit, Unruhe, Nachtschweiss und Mundtrockenheit. Eine anhaltende, meist mässige Blutdruckerhöhung ist möglich. Selektive Noradrenalinwiederaufnahme-Hemmer (SNRI): Sie spielen bei der Behandlung der Angststörungen in der Schweiz mangels entsprechender Zulassung und Wirksamkeitsnachweise eine untergeordnete Rolle. Selektiver Serotonin-Antagonist und -wiederaufnahmeHemmer (SARI): Trazodon hat den Vorteil, nur sehr selten eine Gewichtszunahme zu induzieren. Aufgrund häufiger Müdigkeit sollte es, insbesondere bei Anwendung der unretardierten Form, abends eingenommen werden. Trizyklische Antidepressiva: Sie sind gut untersucht und gut wirksam, sollten jedoch wegen der im Vergleich zu den SS(N)RI häufigeren und subjektiv oft als unangenehmer empfundenen Nebenwirkungen, insbesondere solcher anticholinerger Natur, nur zweitrangig zur Anwendung kommen. Reversible Hemmer der Monoaminoxidase A (RIMA): Die Studienlage ist, was den Vertreter dieser Wirkstoffklasse, Moclobemid, angeht, inkonsistent. Moclobemid verursachte in den meisten Studien kaum sexuelle Funktionsstörungen. Die gleichzeitige Gabe mit einem SS(N)RI/SARI ist wegen der Gefahr eines Serotoninsyndroms kontraindiziert.
Sonstige Substanzen Benzodiazepine: Aufgrund der unmittelbar einsetzenden anxiolytischen Wirkung eignen sie sich gut zur Therapie von Panikattacken sowie in Kombination mit
Antidepressiva, da sie deren Wirklatenz überbrücken helfen und etwaig auftretende Nebenwirkungen wie Nervosität und Unruhe abschwächen. Die Abhängig-
Kasten 5: Algorithmus zur Diagnostik von Angsterkrankungen
0 Verdacht auf Angststörung
1 1. Erhebung der Anamnese
2 2. Analyse früherer Untersuchungs- und Behandlungsbefunde
Organische Behandlung 4a
ja
Angstsymptomatik gebessert?
4b nein ja
4c Ende
3 3. Somatische Diagnostik
4 4. Organische Ursache wahrscheinlich?
nein
5
5. Erhebung psychosozialer Belastungen, gegebenenfalls Unterstützung durch psychosoziale Hilfsangebote vermitteln
6 6. Differenzierung der Angstsymptomatik
7 7. Gegebenenfalls Einbezug des sozialen Umfeldes
8 8. Behandlung
Zu 3: Umfasst Somatostatus, Neurostatus, EKG, Labor inkl. TSH, fT3, fT4, Kalzium. Bildgebende Verfahren sollten nur bei entsprechendem Verdacht durchgeführt werden. Zu 6: U.a. durch Exploration von Verlaufsform, Dauer, Auslöser der Beschwerden sowie der Frage nach Objekt-/ Situationsbezogenheit (vgl. Kasten 4 zur ausführlicheren Darstellung).
keitsgefahr kann durch eine Gabe von nicht länger als vier Wochen minimiert werden, sie erfordert dennoch eine sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung unter besonderer Berücksichtigung der Substanzanamnese des Patienten. Antihistaminika: Zwar ist Hydroxyzin bei generalisierter Angststörung wirksam, jedoch sind die stark sedierenden und anticholinergen UAW (unerwünschte Arzneimittelwirkung) meist therapielimitierend. Antipsychotika: Aufgrund von bis anhin fehlender Evidenz sollten typische Antipsychotika nicht verwendet werden. Atypische Antipsychotika kommen im Einzelfall zur Augmentation sowie zur Therapie der generalisierten Angststörung in Betracht. Betablocker: Sie können im Einzelfall bei der nicht generalisierten sozialen Phobie eingesetzt werden, um das Auftreten vegetativer Herz- und Kreislaufsymptome in angstbesetzten Situationen zu unterdrücken. Phytopharmaka: Es existieren für Phytopharmaka keine Zulassungen zur Therapie von Angsterkrankungen im Sinne des ICD-10, jedoch kann Johanniskraut bei «Ängstlichkeit, innerer Unruhe und Spannungszuständen» gegeben werden. Seine hauptsächliche Bedeutung liegt in der Behandlung leicht- und mittelgradiger Depressionen mit Ängstlichkeit. Es ist für diese Indikationen ebenso wirksam wie das TZA Imipramin. Pestwurz/Baldrian/Melisse/Passionsblumen-Extrakte können bei «Nervosität, Spannungs- und Unruhezuständen sowie Prüfungsangst» eingesetzt werden.
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Kasten 6:
Pharmakotherapie der Angststörungen, geordnet nach Evidenz und Indikation
Diagnose
Wirkstoffklasse
Beispielsubstanz
Panikstörung und Agoraphobie – akute Panikattacke Panikstörung und Agoraphobie – Erhaltungstherapie
Generalisierte Angststörung
Soziale Phobie
Benzodiazepine
SSRI SSNRI TZA Benzodiazepine SSNRI RIMA
SSNRI Benzodiazepine SSRI TZA SARI Antihistaminika
SSRI
SSNRI
Benzodiazepine
SSRI
SSRI: Selektive Serotoninwiederaufnahme-Hemmer SSNRI: Selektive Serotonin- und Noradrenalinwiederaufnahme-Hemmer TZA: Trizyklische Antidepressiva SARI: Selektiver Serotonin-Antagonist und -wiederaufnahme-Hemmer (SARI) RIMA: Reversibler Hemmer der Monoaminoxidase A
Alprazolam
Citalopram Venlafaxin Imipramin Lorazepam Duloxetin Moclobemid
Duloxetin Lorazepam Escitalopram Imipramin Trazodon Hydroxyzin
Sertralin Paroxetin Venlafaxin Lorazepam Citalopram
Evidenzkategorie
A
Empfohlene Dosierung bei Erwachsenen
0,5–2 mg
A 20–60 mg A 75–375 mg A 75–250 mg A 2–8 mg B2 60–120 mg C 300–600 mg
A 60–120 mg A 2–8 mg A 10–20 mg A 75–250 mg B1 100–300 mg B1 27,5–75 mg
A 50–150 mg A 20–50 mg A 75–375 mg B1 2–8 mg B2 20–60 mg
Therapieresistenz Es gibt keine allgemein akzeptierte Definition der Therapieresistenz. Daher muss zunächst genau differenziert werden, welche Problematik mit dem Begriff angesprochen werden soll, um diese im nächsten Schritt gezielt anzugehen. Bevor eine «echte Therapieresistenz» angenommen wird, müssen folgende mögliche Ursachen für einen ausbleibenden Therapieerfolg überprüft werden: 1. Ist die Diagnose korrekt? 2. Ist der Patient compliant? 3. Wird die Psychotherapie lege artis durchgeführt? 4. Ist die Medikation korrekt gewählt? 5. Ist die Dosis im therapeutischen Bereich? 6. Ist die Gesamtbehandlungsdauer ausreichend? Insbesondere Punkt 5 verdient besondere Beachtung, da die Einnahme multipler Pharmaka über Enzyminduktionen (insbesondere im System der Zytochrom-P450-Oxidasen) zu einer Senkung des Blutspiegels der aktiven Metabolite des Psychopharmakons führen kann, auch wenn dieses im empfohlenen Bereich dosiert wird. Einen gleichartigen Effekt kann ein Nikotinabusus hervorrufen, insbesondere bei Duloxetin, was zu berücksichtigen ist. Auch psychosoziale Belastungsfaktoren und psychische Komorbiditäten aller Art können den Therapieerfolg beeinträchtigen und bedürfen bei Feststellung ihrerseits einer adäquaten Behandlung, die simultan zur Angsttherapie erfolgen sollte.
Durch sorgfältiges Abklären all dieser Variablen kann häufig eine initial unwirksame Therapie doch noch in einen zufriedenstellenden Erfolg münden. Sollte dieser jedoch weiterhin ausbleiben, empfiehlt sich die Hinzuziehung eines Experten, da ab diesem Punkt kontrollierte Studien zum geeigneten weiteren Vorgehen fehlen. Überwiegender Expertenkonsensus ist, dass bei fehlender Therapieresponse nach 4 bis 6 Wochen Behandlung in adäquater Dosis bei adäquatem Wirkstoffspiegel ein Wechsel der Medikation indiziert ist. Sollte nach dieser Zeit eine zumindest partielle Therapieresponse vorliegen, sollte die Therapie zunächst unverändert oder unter höherer Medikationsdosis fortgeführt werden. Die Prüfung einer Umstellung der Psychotherapie auf ein nicht evidenzbasiertes Verfahren sowie das Einleiten einer psychopharmakologischen Kombinationstherapie bedürfen grosser Erfahrung und sollten ebenfalls von einem Experten durchgeführt werden beziehungsweise unter dessen Konsultation erfolgen (10).
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Merksätze:
● «Unspezifische» Massnahmen wie Aufklärung und
Psychoedukation sind Bestandteil jeder Angstbe-
handlung. In leichten Fällen können sie bereits eine
Besserung bewirken. Die Behandlung mittel- und
schwergradiger Angsterkrankungen ist in diesem
Sinne immer eine Kombinationstherapie.
● Goldstandard in der Psychotherapie der Angststö-
rungen ist die kognitive Verhaltenstherapie.
● Indikationsstellung und Art einer Pharmakothera-
pie hängen vom Schweregrad der Erkrankung, der
Evidenzstärke des Präparats und der Akzeptanz des
Patienten ab.
● Die Feststellung einer Therapieresistenz ist das Er-
gebnis einer gründlichen Evaluation und Optimie-
rung der bereits eingeleiteten Therapiemassnah-
men. Bei der Behandlung dieser Fälle ist mangels
Studiendaten die Hinzuziehung eines Experten zu
empfehlen.
●
Korrespondenzadresse:
Dr. med. Josef Hättenschwiler
Zentrum für Angst- und Depressionsbehandlung Zürich
ZADZ
Dufourstrasse 161
8008 Zürich
E-Mail: info@zadz.ch
Internet: www.zadz.ch
Literaturverzeichnis:
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