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FORTBILDUNG
Angststörungen: Erkennen und behandeln
«Angststörungen werden immer noch zu wenig wahrgenommen»
Dr. Josef Hättenschwiler ist Psychiater und Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Angst und Depression (SGAD). Er hat das Zentrum für Angst- und Depressionsbehandlung Zürich (ZADZ) gegründet. Dem Psychiater ist es ein Anliegen, dass möglichst viele Ärzte sensibilisiert werden, erste Krankheitszeichen einer Angststörung zu erkennen, zu behandeln und wo nötig Betroffene an eine Fachperson zu überweisen.
Josef Hättenschwiler
5/2011
Psychiatrie & Neurologie: Werden Angststörungen als Krankheitsbilder unterschätzt? Dr. med. Josef Hättenschwiler: Ja, und zwar gleichsam von Hausärzten wie auch von Spezialisten. Die Lebenszeitprävalenz von Angststörungen ist deutlich höher als bei den affektiven Erkrankungen, das heisst, den Depressionen und bipolaren Störungen, was sich in der Beachtung der wissenschaftlichen Öffentlichkeit aber kaum niederschlägt. Es wird zwar heute sehr oft von den Depressionen gesprochen, was an sich schon ein grosser Fortschritt ist, aber Angststörungen werden immer noch zu wenig wahrgenommen. Oft auch nicht von den Betroffenen, da sich Angststörungen unter anderem durch starke körperliche Symptome manifestieren. Viele nehmen selbst nur diese Beschwerden wahr, aber dass diese Ausdruck einer Angststörung sind, wird nicht erkannt. Wenn der Arzt dies auch nicht wahrnimmt, braucht es manchmal Jahre, bis eine Angststörung diagnostiziert wird. In unserem Zentrum für Angstund Depressionsbehandlung Zürich (ZADZ) therapieren wir viele Patienten, die seit Jahren an einer bisher unerkannten Angststörung leiden. Oftmals haben diese Menschen eine jahrelange Odyssee bei Ärzten und Psychologen hinter sich, ohne dass ihre Symptome als Teil einer Angststörung erkannt worden wären.
Warum ist es so schwierig, eine Angststörung zu erkennen? Josef Hättenschwiler: Angst hat immer psychische und somatische Anteile. Die Palette der körperlichen Symptome kann riesig sein. Dazu gehören Schwindel, Schwächegefühl, Übelkeit oder Herzklopfen und Atemnot, wobei die zuletzt genannten Symptome häufig mit kardialen Erkrankungen in Verbindung gebracht werden, aber nicht mit Angst. Ausserdem gibt es eine hohe Komorbidität: Angststörungen kommen selten isoliert, sondern gemeinsam mit Depressionen, Suchterkrankungen oder einzelnen Phobien vor. Meist sind mehrere Formen von Angststörungen vorhanden. Vom zeitlichen Ablauf her treten Angststörungen in ei-
nem hohen Prozentsatz primär auf und depressive Störungen eher in der Folge. Unbehandelte Angststörungen sind demnach die grössten Risikofaktoren für eine Depression.
Nimmt das Problem der Angststörungen zu? Josef Hättenschwiler: Insgesamt nimmt die Prävalenz sicher leicht zu, wobei soziale Entwicklungen diese Zunahme begünstigen. Der Zusammenhalt in Familie und Gesellschaft ist immer öfter infrage gestellt. Vielen Menschen fehlt ein Rückhalt, wie er zum Beispiel früher durch eine religiöse Verankerung gewährleistet war. Die fortschreitende Individualisierung hat ihren Preis. Nicht alle Menschen können damit umgehen. Auch die Arbeitswelt ist stressiger geworden. Heute schlafen die Menschen im Durchschnitt rund eine Stunde weniger als noch vor 50 Jahren, was das vegetative Nervensystem belastet. Zudem braucht es mehr sensorische und kognitive Fähigkeiten, um sich im Alltag zurechtzufinden. Nehmen wir beispielswiese das Reaktorunglück im japanischen Fukushima: Die Nachrichten und Ereignisse sind für unseren Alltag hier in Europa nicht im engeren Sinne relevant, aber sie belasten uns trotzdem. Und heutzutage haben wir fast stündlich «Bad News», die wir verarbeiten müssen, zu deren Bewältigung wir aber nicht direkt beitragen können. Das erzeugt ein Gefühl von Ohnmacht und oft auch von diffuser Angst.
Wie eng korreliert sind Angststörungen mit verschiedenen Persönlichkeitsstörungen wie beispielsweise Borderline- und schizotypischen Persönlichkeitsstörungen? Josef Hättenschwiler: Bei einem Teil von Angsterkrankungen diagnostizieren wir auch akzentuierte Persönlichkeitszüge bis hin zu Persönlichkeitsstörungen. Oft handelt es sich um die dependente oder ängstlich-vermeidende Form. Angststörungen können im Laufe der Zeit die Persönlichkeit massgebend prägen, aber die Persönlichkeitsstruktur prägt auch das Auftreten, den
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Verlauf und die Therapie von Angststörungen. Panikstörungen, soziale Phobien, posttraumatische Belastungsstörungen, Zwangsstörungen und Impulskontrollstörungen treten häufig zusätzlich bei bipolaren Störungen auf. Die Manuale ICD-10 und DSM-IV haben in der Diagnostik Vorteile, aber nicht immer sind die Symptome so genau zu quantifizieren. Patient A macht sich nach einer Panikattacke im Zug vielleicht kaum weitere Sorgen, wohingegen Patient B traumatisiert und verunsichert wird und als Folge eine Angststörung entwickelt. Diese Dimension zu diagnostizieren, ist für den Hausarzt extrem schwierig. Für die Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen braucht es den Spezialisten. Für die Erkennung von alleinigen Angststörungen ist hingegen der Hausarzt geradezu prädestiniert.
Wie können denn Hausärzte Angststörungen in der Praxis abklären? Josef Hättenschwiler: Ärzte sollten Patienten in der Praxis direkt ansprechen, insbesondere dann, wenn sich für körperliche Symptome kein somatisches Korrelat finden lässt. Es ist aber unerlässlich, und das sei hier nochmals mit Nachdruck erwähnt, dass eine sorgfältige Abklärung somatischer Beschwerden stattfindet. Hinter Angststörungen können sich mannigfaltige körperliche Erkrankungen verstecken, zum Beispiel eine koronare Herzkrankheit, eine Hypophysenüberfunktion, eine Schilddrüsendysfunktion, in seltenen Fällen auch Tumore. Oft sind es Medikamente, Alkohol oder Drogen, die Angst auslösen können.
Im August 2011 wurden durch die Schweizerische Gesellschaft für Angst und Depression (SGAD) in Zusammenarbeit mit der SGBP und der SGPP neue Empfehlungen publiziert. Warum braucht es diese? Josef Hättenschwiler: Die Behandlungsempfehlungen sind Meilensteine in der Diagnostik und Behandlung von Angststörungen. Erstmals wurden evidenzbasierte Massnahmen zu Diagnostik und Therapie dieser Störungen erarbeitet. Es zeigt sich, dass eine allein auf Erfahrung basierende Behandlung einer evidenzbasierten Behandlung in aller Regel unterlegen ist. Dieser Punkt wurde zu Beginn nicht von allen Psychiatern gleich positiv aufgenommen, ist aber heute nach zahlreichen Untersuchungen akzeptiert.
Wie sieht es bei speziellen Problemen aus, beispielsweise Angst bei Schwangeren oder Kindern und Jugendlichen oder bei geriatrischen Patienten? Wird es dort eventuell auch einmal Empfehlungen geben? Josef Hättenschwiler: Insbesondere bei den geriatrischen Patienten gibt es grosse Lücken in der Behandlung, deshalb sind Empfehlungen in diesem Bereich geplant. Bei älteren Patienten existieren beispielsweise nur wenige Studien zur Behandlung von Angsterkrankungen. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie werden zurzeit sehr grosse Anstrengungen in dieser Richtung unternommen. Das aktive Engagement von Prof. Dr. med. Susanne Walitza vom Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Zürich im Vorstand der SGAD ist hoch erfreulich. Sie wird unsere Bemühungen für Kinder und Jugendliche sehr unterstützen, sodass in naher Zukunft auch entsprechende Schweizer Empfehlungen veröffentlicht werden können.
Werden jetzt viele Workshops aufgrund der Empfehlungen durchgeführt? Josef Hättenschwiler: Die SGAD sieht es als ihre Aufgabe, Ärzte so weit aus- und weiterzubilden, dass sie in der Lage sind, Angst- und Depressionsbetroffene fachgerecht und nach neuesten Erkenntnissen zu behandeln und zu begleiten. Angstbetroffene werden von der heutigen Gesellschaft vielfach falsch verstanden und stigmatisiert. Die Erkrankungen werden sehr oft nicht erkannt und damit auch nicht therapiert. Hinzu kommt, dass oftmals Behandlungen durchgeführt werden, die nicht dem neuesten Wissensstand entsprechen. Studien zeigen, dass nur jeder fünfte Angst- respektive Depressionsbetroffene eine angemessene Behandlung bekommt. Umso wichtiger ist es, dass möglichst viele Ärzte sensibilisiert werden, erste Krankheitszeichen zu erkennen, zu behandeln und, wo nötig, Betroffene an eine Fachperson zu überweisen. Die bereits erwähnten Behandlungsempfehlungen für Angststörungen wurden am 2. Swiss Forum on Mood and Anxiety Disorders (SFMAD) vorgestellt. Die SGAD plant weitere Workshops. Es werden aber, basierend auf der Initiative von SGAD-Vorstandsmitgliedern, Veranstaltungen in verschiedenen Regionen der Schweiz angeboten.
Wie kam es überhaupt zur Gründung der SGAD? Josef Hättenschwiler: Die SGAD ist aus der Vorgängerorganisation, der Schweizerischen Gesellschaft für Angststörungen, entstanden. Aufgrund der Tatsache, dass die Störungsbilder von Angst und Depression oft zusammen vorkommen, aber sowohl in der Öffentlichkeit wie auch im klinischen Alltag unzureichend erkannt und behandelt werden, hat sich eine Gruppe von Fachleuten aus der ganzen Schweiz zusammengetan und die SGAD gegründet.
Waren die bisherigen Veranstaltungen ein Erfolg? Josef Hättenschwiler: Die ersten beiden SFMAD waren grosse Erfolge. Das erste Mal hatten wir 320 und das zweite Mal über 400 Teilnehmer. Die Teilnehmer gaben uns ein durchwegs positives Feedback. Insofern können wir von einem wirklich erfolgreichen Start sprechen.
Was ist für die Zukunft geplant? Josef Hättenschwiler: Die SGAD plant weitere Veranstaltungen wie das 3. SFMAD am 12. April 2012 in Zürich und eine weitere Veranstaltung im Herbst 2012 in der Westschweiz.
Dr. Josef Hättenschwiler, wir danken Ihnen für das Ge-
spräch.
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Das Interview führte Annegret Czernotta.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Josef Hättenschwiler Zentrum für Angst- und Depressionsbehandlung Zürich
ZADZ Dufourstrasse 161
8008 Zürich E-Mail: jhaettenschwiler@zadz.ch
Internet: www.zadz.ch
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