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Die neuen Irrtümer der Medizin …
... und was man aus ihnen lernen kann
Irren kann man sich in einer Sache nur einmal. Erst die Macht der Gewohnheit macht aus Irrtümern (wiederholte) Fehler. Der Glaube an die kleine allabendliche chemische Schlafhilfe beispielsweise ist ein Irrtum, Patienten über Jahre hinweg ungeprüft Schlafmittelrezepte auszustellen ein Therapiefehler. Gegen Irrtümer hilft Erkenntnis, gegen Fehler Verhaltensänderung. Der Beitrag greift sechs Dynamiken auf, die verschiedenste Irrtümer miteinander teilen: Häufigkeiten werden unterschätzt, Qualitäten falsch verstanden, Prioritäten falsch gewichtet, Objektivität und Subjektivität verwechselt sowie Massnahmen falsch verortet. Von diesem «kleinsten gemeinsamen Nenner» lassen sich Anti-Irrtum-Schutzfaktoren ableiten.
Christian Larsen
1. Irrtum: Medizinische Irrtümer werden seltener
Amerika: Im teuersten Gesundheitswesen der Welt sterben gemäss Institut of Medicine IOM (Benjamin GC, 2000) jedes Jahr 44 000 bis 98 000 Menschen in Amerikas Spitälern, was einem JumboCrash pro Tag entspricht und medizinische Therapiefehler statistisch zur achthäufigsten Todesursache avancieren lässt. Diese Zahlen sind heftig umstritten, da beispielsweise nur ein relativ geringer Prozentsatz dieser meist schwerkranken Patienten die nächsten drei Monate überlebt hätte. Dennoch: Bis zu 100 000 Tote lassen ein Vielfaches an nicht tödlichen Komplikationen durch Medikamente, Dekubitus, Infekte, Mangelernährung, unnötige Prozeduren und Kunstfehler vermuten. Schweiz: Der «Sonntags-Blick» vom 27. 10. 2007 titelte in reisserischer Aufmachung: «Pfusch in Schweizer Spitälern, jeden Tag drei Tote». Das macht 1000 Tote pro Jahr bei hochgerechnet 50 000
kritischen Zwischenfällen. Die «SonntagsZeitung» hatte die unerkannten Killer schon Jahre zuvor gegeisselt (21. 9. 2003) und vor mindestens 600 Toten pro Jahr allein durch ungewollte Arzneimittelnebenwirkungen gewarnt. Die offiziellen Schätzungen für Schweizer Spitäler reichen von 1 Promille bis zu 1 Prozent iatrogener Todesfälle pro Jahr. Soweit Zahlen verfügbar sind, werden für das angrenzende Europa Kennzahlen gleicher Grössenordnung postuliert. Erkenntnis: Therapieerfolge und Therapiefehler liegen systembedingt eng beieinander — das war schon immer so. Neu ist das Ausmass! Spitäler — und vielleicht bald auch Arztpraxen — sind dabei, zu gefährlichen Orten zu mutieren.
2. Irrtum: Unsicherheit ist der Vorläufer des Irrtums
Kortison: Während Jahrzehnten wurde hoch dosiertes Kortison routinemässig beim Schädelhirntrauma zur Hirnödemprophylaxe eingesetzt. 1997 lässt eine erste Metaanalyse Zweifel aufkommen. Es folgt eine gross angelegte Studie
Steckbrief Dr. med. Christian Larsen ist ärztlicher Leiter des Spiraldynamik Med Center in Zürich, Bestsellerautor und Mitbegründer der Spiraldynamik — eines anatomisch-funktionellen Bewegungs- und Therapiekonzepts.
(Sauerland S, 2004): 10 000 Schädelhirnverletzte wurden im Zeitraum 1999 bis 2004 untersucht. Die eine Gruppe erhielt Steroide, die andere Plazebo. Die Sterblichkeit zwei Wochen nach dem Unfall war in der Kortisongruppe signifikant höher. Das bedeutet möglicherweise Tausende unnötiger Toter. Die Interpretation der Studienergebnisse sorgt für anhaltende Verwirrung. Defibrillator: Dank implantierbarem Defibrillator nach Herzinfarkt konnte die durch Herzrhythmusstörungen bedingte Anzahl Todesfälle signifikant gesenkt werden. Die Kehrseite der Medaille: Die Gesamtmortalität nahm um 8 Prozent zu (Hohnloser DH, 2004).
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Hysterektomie: Jede zweite Hysterektomie bei über 40-Jährigen zieht in den USA eine prophylaktische Eierstockentfernung mit sich, immerhin 300 000 Eingriffe pro Jahr. Wissenschaftliche Evidenz für den gesundheitlichen Nutzen dieser Art von Ovarialkarzinomprävention gibt es nicht. Im Gegenteil (Parker WH, 2007): Frauen unter 65 Jahren scheinen davon zu profitieren, wenn die Eierstöcke drinbleiben. Auf jeden verhinderten Tod durch Eierstockkrebs kommen 18 zusätzliche Todesfälle durch Herzinfarkt und 3 weitere durch Schenkelhalsfrakturen. Erkenntnis: Die drei Beispiele zeigen, wie scheinbar stabile medizinische Wahrheiten durch Endpunktstudien über Nacht infrage gestellt werden können. Der retrospektiven Einsicht «Das war ein Irrtum» steht die Schwierigkeit gegenüber, gewohntes Wissen infrage zu stellen. Insbesondere wenn ein «Infragestellen» kontra-intuitiv erscheint, sind Vorbehalte angebracht.
3. Irrtum: Das Gesundheitswesen ist der Hauptakteur für die Volksgesundheit
Das Ringen der Gesellschaft um die individuelle und die kollektive Gesundheit ist vielschichtig. Einkommen, Bildung, Lifestyle, genetische Faktoren, demografische Entwicklung, Unterschiede zwischen Stadt und Land, Angebotsstruktur, Anreizsysteme, sozioökonomische wie politische Rahmenbedingungen haben oft mehr Einfluss auf die Gesundheit als das Gesundheitswesen selbst. Die aktuelle gesundheitspolitische Merkformel der persönlichen Gesundheitserhaltung lautet (Sax A, 2008): ■ Status und Lifestyle liegen mit knapp
50 Prozent an der Spitze ■ es folgen Umwelt und Genetik mit je 20
Prozent Einfluss ■ das Gesundheitswesen selbst trägt
magere 10 bis 15 Prozent zur Gesundheitserhaltung bei! Erkenntnis: Prävention ist der verlängerte Arm der Therapie. Möglicherweise ist das präventive Engagement vieler
Ärzte bereits heute wichtiger als ihre klassisch kurative Tätigkeit.
4. Irrtum: Befindlichkeiten sind Nebensache
Schulmedizin: Diese fokussiert primär auf Krankheiten und ihre Risiken, die Befindlichkeit spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Die Spezialisierung des Arztes entpuppt sich als wichtiger Einflussfaktor bei der Festlegung des diagnostischtherapeutischen Vorgehens (Fullen BM, 2008). Gehen Sie mit Rückenschmerzen wahlweise zum Grundversorger, zum Wirbelsäulenchirurgen, Psychologen oder zum Chiropraktor? «Who you see is what you get!» Auf Deutsch: «Sag mir, zu wem du gehst, und ich sage dir, was du bekommst!» Die Häufigkeiten von Bandscheibenoperationen beispielsweise sind erwiesenermassen regional unterschiedlich: Wo operiert werden kann, wird auch mehr operiert. Komplementärmedizin: Hier steht die Befindlichkeit des Patienten im Zentrum von Gespräch, Untersuchung, Diagnostik und Therapie. Akupunktur und Homöopathie beispielsweise sind eine Art funktioneller und befindlichkeitsorientierter Syndromdiagnostik. Kein Wunder, fühlen sich Patienten hier gut aufgehoben! Eine Studie hat die Beweggründe von Patienten in ländlichen Gebieten der Schweiz unter die Lupe genommen (van der Weg F, 2003): 83 Prozent wollen selber einen Beitrag zu ihrer Genesung leisten und fühlen sich damit besser. Für 50 Prozent war die Tatsache ausschlaggebend, dass komplementär-medizinische Methoden wenige bis keine Nebenwirkungen zeitigen. Und nur 10 Prozent waren von der Schulmedizin enttäuscht. Erkenntnis: Eine patientenzentrierte Medizin muss subjektive Befindlichkeiten strategisch berücksichtigen, um auf dieser Grundlage die individuelle Bereitschaft «selber etwas aktiv beitragen zu können» systematisch fördern und einfordern zu können.
5. Irrtum: Plazeboeffekte gilt es zu minimieren
Plazebo mit Plazebo: Plazeboeffekte gibt es heute mit und ohne Plazebo! Die klassische Variante – mit Plazebo: Patienten bekommen wiederholt ein Schmerzmittel verabreicht, bereits nach kurzer Zeit entstehen Erwartungshaltung und Konditionierung. Beim dritten oder vierten Mal wird das Schmerzmittel durch ein Plazebo ersetzt und mit der Wirkung des Verums verglichen. Das Resultat: Das Plazebo wirkt schwächer als das Verum, aber es wirkt. Durch den Glauben an die Wirkung werden Endorphine freigesetzt, diese können durch Opioidantagonisten unterbrochen werden. Plazebo ohne Plazebo: Seit ein paar Jahren rücken Kontextfaktoren in den Brennpunkt der Plazeboforschung (Colloca L, 2004). Dabei werden offene und versteckte Infusionen von Schmerzmitteln miteinander verglichen. Bei der offenen Applikation wird das Schmerzmittel von der Krankenschwester für den Patienten erlebbar im üblichen Ritual gespritzt. Bei der versteckten Applikation wird das Schmerzmittel durch den Computer versteckt und irgendwann appliziert – der Patient bekommt das Verum, aber ohne es zu wissen! Die versteckte Applikation geht mit einem massiven Wirkungsverlust des Schmerzmittels einher. Anatomie des Plazeboeffekts: Eine noch ofenwarme Studie der Harvard Medical School in Boston (Kaptchuck TJ, 2008), publiziert im «British Medical Journal», verdeutlicht das differenzierte Innenleben des Plazeboeffekts: 1 Gruppe nahm ohne Behandlung an der Studie teil, Gruppe 2 erhielt Scheinakupunktur und Gruppe 3 zusätzlich starke empathische Zuwendung vonseiten des Therapeuten. Keine der drei Gruppen erhielt eine «echte Therapie», alle drei Gruppen erhielten Plazebos — aber in unterschiedlicher Intensität, Zusammensetzung und Ausrichtung. Die beeindruckenden Erfolgsraten: Gruppe 1: 28 Prozent; Gruppe 2: 44 Prozent; Gruppe 3: 62 Prozent.
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Erkenntnis: Eine positive Erwartungshaltung generiert Wirkung trotz fehlendem Wirkstoff. Und umgekehrt: Die fehlende positive Erwartungshaltung raubt selbst echten Wirkstoffen einen Teil ihrer Wirkung. Fazit: Die gezielte Nutzung des Plazeboeffekts als potenter und nebenwirkungsfreier Therapieverstärker gehört möglicherweise schon bald ins Pflichtenheft des Arztes.
6. Irrtum: Prozessoptimierung ist die wichtigste Massnahme zur Fehlervermeidung
Die konkreten Massnahmen gegen die neuen Irrtümer lassen sich in zwei Kategorien unterteilen. Die taktischen Massnahmen konzentrieren sich auf die sorgfältige Überprüfung und Optimierung aller Indikationen, Interaktionen und Prozessabläufe — heute schon fast eine Selbstverständlichkeit. Die strategischen Massnahmen suchen eine bewusste Neuausrichtung von Werten und Prioritäten. Zukunftsfähige Eckpfeiler der Medizin sind beispielsweise: ■ Eine patientenzentrierte Medizin muss
die subjektive Befindlichkeit und den Wunsch, selber etwas aktiv beitragen zu können, systematisch berücksichtigen. Eigenverantwortung wird so konkret gefordert und gefördert. ■ Prävention ist der verlängerte Arm der Therapie mit den besten Chancen
auf Nachhaltigkeit. Gelebtes Patienten-
Empowerment stellt die uralte Allianz
zwischen Patient und Arzt wieder her.
■ Das Primat Primum nihil nocere be-
darf einer Revitalisierung. Ärzte und
Spitäler sind zu Risikofaktoren für
Gesundheit und Leben mutiert. An-
gemessene Zurückhaltung bei risiko-
behafteten diagnostischen und thera-
peutischen Verfahren ist angesagt.
■ Die gezielte Nutzung des Plazebo-
effekts als potenter und nebenwir-
kungsfreier Therapieverstärker in der
klinischen Praxis gilt es, wertfrei und
vertieft zu erforschen.
Erkenntnis: Mit den Qualitätsmerkmalen
patientenzentriert, präventiv, risikobe-
wusst und plazebostark kann sich die
Schulmedizin neu positionieren und ge-
genüber komplementär-medizinischen
Berufsgruppen an Attraktivität gewin-
nen, um das Vertrauen der Patienten als
wichtigsten Verbündeten neu zurückzu-
gewinnen.
■
Anschrift des Autors: Dr. med. Christian Larsen FMH Allgemeine Medizin Spiraldynamik Med Center Restelbergstrasse 27, 8044 Zürich E-Mail: christian.larsen@spiraldynamik.com
Interessenkonflikte: keine deklariert
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