Transkript
STUDIE REFERIERT
Hüftschmerz und Bildgebung stimmen nur selten überein
Fehlende eindeutige Definition der Hüftarthrose erschwert Diagnose und Therapie
In zwei grossen Kohortenstudien wiesen nur wenige Patienten mit Hüftschmerz Zeichen einer Arthrose im Röntgenbild auf. Umgekehrt litten nur wenige Patienten mit radiologisch nachweisbarer Hüftarthrose unter Schmerzen. Wird die Diagnose nur anhand der Bildgebung gestellt, können Patienten mit einer Hüftarthrose somit leicht übersehen werden. Da diese Gelenkveränderung mit erheblicher Morbidität verbunden sein kann, sollten Hüftschmerzpatienten nach Ausschluss anderer Erkrankungen auch bei fehlenden radiologischen Zeichen eine Arthrosebehandlung erhalten.
British Medical Journal
Bei einer Arthrose kommt es zu Gelenkveränderungen, die durch progressive Schädigungen des Knorpels, Bewegungsschmerz und eine zunehmende Versteifung des Gelenks gekennzeichnet sind. Eine Hüftarthrose ist daher bei vielen Patienten mit Schmerzen und eingeschränkter Beweglichkeit verbunden. In den USA werden die meisten Gelenkersatzoperationen aufgrund von Hüftarthrosen vorgenommen. Schmerzen in der Hüfte sind oft das Hauptsymptom einer Arthrose, sie können aber auch viele andere Ursachen haben. Zur Abklärung wird deshalb meist eine Röntgenaufnahme angefertigt. Bei Hüftschmerz und radiologisch nachweisbarer Arthrose kann die
MERKSÄTZE
O Nur wenige Patienten mit Hüftschmerz weisen auch radiologische Anzeichen einer Hüftarthrose auf.
O Viele Patienten mit radiologisch nachweisbarer Hüftarthrose leiden nicht unter Schmerzen.
O Nach Ausschluss anderer Erkrankungen sollten Patienten mit vermuteter Hüftarthrose auch bei fehlenden radiologischen Zeichen eine Arthrosebehandlung erhalten.
sichere Diagnose gestellt werden. Sind bei Hüftschmerzen jedoch keine Anzeichen für eine Arthrose im Röntgenbild erkennbar, erhalten die Betroffenen mitunter weder die richtige Diagnose noch eine geeignete Behandlung. In einer diagnostischen Studie (1) gingen Chan Kim von der Boston School of Medicine (USA) und seine Arbeitsgruppe jetzt der Frage nach, inwieweit bei Patienten mit vermuteter Hüftarthrose eine Übereinstimmung zwischen dem Hüftschmerz und der radiologischen Evidenz einer Hüftarthrose beobachtet werden kann. Dazu werteten sie die Daten von zwei grossen Kohortenstudien aus.
Ergebnisse
An der Framingham Osteoarthritis Study nahmen 946 Bürger aus Framingham (Massachusetts, USA) mit einem durchschnittlichen Alter von 63,5 Jahren (51–92 Jahre) teil. Die Prävalenz der radiologisch nachweisbaren Hüftarthrose betrug bei Frauen 13,6 Prozent und bei Männern 24,7 Prozent. Über Hüftschmerzen klagten 24,7 Prozent der Frauen und 14,7 Prozent der Männer. In dieser Studie waren nur bei 15,6 Prozent der Hüftschmerzpatienten im Röntgenbild Anzeichen einer Arthrose erkennbar. Umgekehrt litten nur 20,7 Prozent der Patienten mit radiologischen Zeichen einer Hüftarthrose auch
unter Schmerzen. Wurde die Röntgenuntersuchung als diagnostischer Test auf klinische Symptome einer Hüftarthrose eingesetzt, lag die Sensitivität einer radiologisch nachweisbaren Hüftarthrose für Schmerzen im Leistenbereich bei 36,7 Prozent und die Spezifität bei 90,5 Prozent. Der positiv-prädiktive Wert betrug 6 Prozent, der negativprädiktive Wert lag bei 98,9 Prozent. Die longitudinale Osteoarthritis Initiative Study wurde mit 4366 Patienten mit einem durchschnittlichen Alter von 61 Jahren (45–79 Jahre) aus vier Zentren in den USA durchgeführt. Bei Frauen betrug die Prävalenz der radiologisch nachweisbaren Hüftarthrose 7,9 Prozent und bei Männern 11,6 Prozent. Über Hüftschmerzen klagten 27,5 Prozent der Frauen und 18,5 Prozent der Männer. Die Prävalenz der radiologisch nachweisbaren Hüftarthrose war in dieser Studie somit geringer als in der Framingham-Studie. Die Schmerzprävalenz war jedoch in beiden Studien vergleichbar. Ähnlich wie in der Framingham-Studie waren in der Osteoarthritis Initiative Study nur bei 9,1 Prozent der Hüftschmerzpatienten Anzeichen für eine Arthrose im Röntgenbild erkennbar. Umgekehrt litten nur 23,8 Prozent der Patienten mit radiologisch nachweisbarer Hüftarthrose unter Schmerzen. Die Sensitivität der radiologisch nachweisbaren Hüftarthrose für Schmerzen im Leistenbereich lag bei 16,5 Prozent und die Spezifität bei 94,0 Prozent. Der positiv-prädiktive Wert betrug 7,1 Prozent, der negativ-prädiktive Wert lag bei 97,6 Prozent.
Diskussion
Die Framingham-Studie und die Osteoarthritis-Initiative-Studie unterschieden sich geringfügig im Hinblick auf die Studienpopulationen und das methodische Vorgehen. Dennoch beobachteten Forscher in beiden grossen Kohortenstudien nur eine geringe Übereinstimmung zwischen Hüftschmerz und den radiologischen Anzeichen einer Gelenkarthrose. Als grösste methodische Schwierigkeit bei der Evaluierung von Hüftschmerzen betrachten die Autoren, dass derzeit kein validiertes Standardverfahren existiert, mit dem abgesichert werden kann, dass Hüftschmerzen auf eine Arthrose zurückzuführen sind. Des
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KOMMENTAR
Dr. med. Luzi Dubs, Facharzt FMH für Orthopädische Chirurgie, Winterthur
Informativ oder «so what»?
Wer bereit ist, diese Studie von Kim und Mitarbeitenden zu Ende zu lesen, wird sich am Schluss vielleicht fragen: «So what?» Aus methodischer Sicht handelt es sich um zwei Bevölkerungsstudien vom Querschnittstyp, welche jedoch nicht die Kriterien einer Kohortenstudie erfüllen. Es wird keine Frage nach einer Intervention oder Exposition gestellt, sondern lediglich untersucht, wie stark der Zusammenhang zwischen den radiologischen Zeichen einer Hüftarthrose und dem Symptom des Hüftschmerzes ist. Unglücklicherweise kommt ein dritter Faktor ins Spiel, derjenige der klinisch manifesten Hüftarthrose, welche durch eine allenfalls schmerzhafte Einschränkung der Hüftinnenrotation definiert wird. Diese Befrachtung mit mehr als zwei Untersuchungsvariablen überlädt die Studie und erschwert die Interpretation. Zu Recht wird moniert, dass der Krankheitsbegriff der Hüftarthrose definiert sein muss. Bevölkerungsstudien bewegen sich oft auf einem tiefen Prävalenzniveau, sodass die Angaben über tiefe prädiktive Werte mit Vorsicht zu geniessen sind, speziell wenn die Testeigenschaften wie Sensitivität und Spezifität wenig Informationsgewinn erwarten lassen. Jede Krankheitsdiagnose wird in der Regel durch einen oder mehrere diagnostische Tests definiert, welcher oder welche der Wahrheit am nächsten kommen (Goldstandardtest). Wie wird nun die Diagnose einer Hüftarthrose definiert? Reicht der Nachweis eines kleinen Knorpelschadens aus, um von einer Arthrose zu sprechen? Braucht es für die
Diagnose eine Symptomatik mit klinischer Relevanz eines erheblichen Fähigkeitsverlusts? Oder halt doch das Röntgenbild? Leider besteht bis heute kein klarer Konsens, wann von einer Arthrose gesprochen werden kann. Mit einer Testserie, einer genauen Anamnese und der klinischen Untersuchung lässt sich mit mehr als 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit die Diagnose einer Hüftarthrose stellen, speziell wenn sie bereits klinisch relevant ist. Oft kann man die Diagnose schon erkennen, wenn der Patient ins Sprechzimmer schreitet. Typischerweise berichtet der Patient über einen Leistenschmerz mit Ausstrahlung in den Oberschenkel bis ins Knie, über eine zunehmende Einschränkung der Gehleistung und über die Schwierigkeit, sich die Strümpfe anzuziehen. Findet man danach in der klinischen Untersuchung eine deutliche Einschränkung der Hüftrotation im Liegen im Vergleich zur asymptomatischen Gegenseite, sollte es eigentlich nicht erstaunen, wenn das Röntgenbild einen entsprechenden Schweregrad der Hüftarthrose anzeigt. Vor der Röntgenaufnahme beträgt die Wahrscheinlichkeit der Hüftarthrose bereits über 99 Prozent, danach, bei positivem Befund, liegt sie bei 99,9 Prozent! Marschiert der wegen «Hüftschmerzen» angemeldete Patient wie ein Reh über den Korridor, klagt er über nächtliche Ruheschmerzen im Gesässbereich oder erzählt von seinen fünfstündigen Wanderungen auf die Dreitausender, wird er nicht sogleich dem Verdacht ausgesetzt, es müsse sich um eine klinisch relevante
Hüftarthrose handeln. Wenn sich dann bei der Untersuchung eine symmetrische freie Hüftbeweglichkeit ohne endphasige Provokationsschmerzen zeigt und der palpatorische Hauptbefund im Glutaeus und Lumbalgebiet liegt, ist es sicher nicht falsch, auf ein Röntgenbild der Hüftgelenke zu verzichten. Das Röntgenbild ist also lediglich ein Baustein der Diagnostik mit in der Regel recht guten Testeigenschaften wie Sensitivität und Spezifität und führt abhängig von der sogenannten Vortestwahrscheinlichkeit zu einem entsprechenden Informationsgewinn. Es kommt immer darauf an, in welcher Ausgangssituation der Krankheitswahrscheinlichkeit die Röntgenuntersuchung eingesetzt wird. Im besten Fall soll letztlich mit dem Test eine Entscheidungs- oder Therapieschwelle überschritten werden können. In einer spezifischeren Fragestellung ist das Röntgenbild geeignet, zwischen einer Hüftarthrose und einer vergleichsweise eher seltenen Femurkopfnekrose oder Knochenmetastase zu unterscheiden, was klinisch und anamnestisch nicht einfach ist. Die klinische Ausgangslage ist aber sehr ähnlich – beide Krankheitsbilder sind geprägt durch eine erheblich behindernde Hüftgelenkerkrankung mit belastungsabhängiger schmerzhafter Einschränkung der passiven und aktiven Hüftbeweglichkeit. Im Editorial zu den besprochenen Studien steht im Untertitel geschrieben, was eigentlich schon seit je bekannt ist: Behandle Patienten und nicht Röntgenbilder! Der in den Artikeln erwähnte schwache Zusammenhang zwischen Hüftschmerz und Röntgenbefund mit den vielen Falschnegativen und Falschpositiven wäre somit wohl eher auf eine schwache oder eher unspezifische anamnestische und klinische Untersuchung zurückzuführen, wie dies in der Anlage einer Bevölkerungsstudie bereits vorprogrammiert ist.
Weiteren könnte die Evaluierung der Hüftarthrose mithilfe der radiologischen Bildgebung problematisch sein, da einfache Röntgenbilder möglicherweise eine unzureichende Sensitivität für die sichere Erkennung einer Hüftarthrose aufweisen. Die Kombination von Schmerzen in der Leistengegend und einer eingeschränk-
ten Innenrotation weist mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine Arthrose hin und gehört deshalb zu den ACRKlassifizierungskriterien für eine Hüftarthrose. In der Framingham-Studie wurde im Rahmen der körperlichen Untersuchung auch der Schmerz bei der Hüftinnenrotation untersucht. Dennoch wurde im Vergleich zur Osteoarthritis-
Initiative-Studie keine bessere Übereinstimmung zwischen Hüftschmerz und Röntgenbefund beobachtet. Bei älteren Menschen kann die unzureichende Erkennung einer Hüftarthrose ernste Konsequenzen haben. Die arthrosebedingte Funktionseinschränkung erhöht das Risiko für koronare Herzerkrankungen, Lungenerkrankun-
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gen, Diabetes, Übergewicht, Stürze und Gebrechlichkeit. Die Autoren raten deshalb dazu, eine vermutete Arthrose bei Hüftschmerzpatienten – nach Ausschluss anderer Erkrankungen – auch ohne radiologischen Nachweis zu behandeln.
Kommentar
Im Editorial (2) kommen Marc Nieuwenhuijse und Rob Nellison vom Leiden University Medical Center (Niederlande) zu dem Schluss, dass derzeit eine eindeutige verlässliche Definition der Hüftarthrose fehlt und dies die Diagnose und die Behandlung erschwert. Nach Ansicht der Kommentatoren sollte bei allen Patienten eine Röntgenaufnahme angefertigt werden, deren Hüftschmerz nicht durch eine Alternativdiagnose wie eine Schleimbeutelentzün-
dung in der Hüfte (Bursitis trochanterica) oder ein iliotibiales Bandsyndrom erklärt werden kann. Mit der Röntgenaufnahme können zudem schwere Erkrankungen wie eine Osteonekrose, eine Osteoporose oder primäre Neoplasmen und metastatische Knochenerkrankungen ausgeschlossen werden. Des Weiteren ist zu überlegen, ob die exakte Diagnose einen Unterschied bezüglich der Behandlung bewirkt. Patienten mit Hüftschmerz profitieren von Veränderungen des Lebensstils, Bewegungsprogrammen oder einer kurzfristigen medikamentösen Behandlung – unabhängig davon, ob sie unter einer Hüftarthrose leiden oder nicht. Auch ist derzeit noch keine Behandlungsoption bekannt, mit der die Progression der Hüftarthrose aufgehalten werden kann.
Die Kommentatoren sind deshalb ebenfalls der Ansicht, dass Patienten mit Hüftschmerz ohne radiologisch nachweisbare Arthrose nach Ausschluss anderer Erkrankungen eine konservative Behandlung erhalten sollten. Zeigt sich bei einem asymptomatischen Patienten im Röntgenbild eine Arthrose, halten sie Beratungsgespräche zu geeigneten Lebensstilmodifikationen und beobachtendes Abwarten für ausreichend. O
Petra Stölting
Quellen: 1. Kim C et al.: Association of hip pain with radiographic
evidence of hip osteoarthritis: diagnostic test study. BMJ 2015; 351: h5983. 2. Nieuwenhuijse M, Nellison R: Hip pain and radiographic signs of osteoarthritis. Treat patients not radiographs. BMJ 2015; 351: h6262.
Interessenkonflikte: Alle Autoren erklären, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.
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