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SERIE: NEUE ENTWICKLUNGEN IN DER SUCHTMEDIZIN TEIL 1
Liebe Leserin, lieber Leser Sucht ist eine komplexe Krankheit mit vielfältigen psychischen, physischen und sozialen Konsequenzen. Ärzten kommt in der Behandlung und Betreuung eine wichtige Rolle zu. In unserer Serie zu neuen Entwicklungen in der Suchtmedizin möchten wir Ihnen den aktuellen Forschungsstand in der Neurobiologie, der Pharmakotherapie und der Psychotherapie in ausgewählten suchtmedizinischen Krankheitsbildern aufzeigen. Die Serie wird fachlich von PD Dr. Walter Marc, Chefarzt und stellvertretender Klinikdirektor an den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel, begleitet, der Mitherausgeber von «Psychiatrie & Neurologie» ist.
Neue pharmakologische Behandlungsoptionen in der Suchttherapie
Suchterkrankungen zählen zu den häufigsten und schwerwiegendsten Erkrankungen in der Medizin. In der Behandlung sind nicht nur unterschiedliche Fachrichtungen der Medizin, sondern auch verschiedene Behandlungsansätze gefordert. Zwar gilt zu Recht die Psychotherapie als die wichtigste Säule in der Behandlung von Suchterkrankungen, aber auch mit pharmakologischen Ansätzen kann durchaus mit Erfolg Einfluss auf den Krankheitsverlauf genommen worden – auch über die Behandlung von Entzugssymptomen hinaus.
Thomas Hillemacher Alexander Glahn
von Thomas Hillemacher und Alexander Glahn
Paradigmenwechsel in der Behandlung der Alkoholabhängigkeit Schon seit vielen Jahren sind Medikamente zur Rückfallprophylaxe in verschiedenen europäischen Ländern zugelassen und in unterschiedlichem Masse etabliert. Hier wären insbesondere die Substanzen Acamprosat (1) und Naltrexon (2) zu nennen, aber auch das in Österreich und Italien verwendete Sodiumoxybat (3) sowie der Acetaldehyd-Dehydrogenasehemmer Disulfiram (4). Allen diesen Medikamenten ist eines gemeinsam – Ziel der medikamentösen Behandlung ist die Abstinenzerhaltung oder die Rückfallprophylaxe. Auch wenn Medikamente wie Acamprosat und Naltrexon auch bei einem Rückfall weiter eingenommen werden können und verschiedene Studien einen deutlichen Effekt von Naltrexon auf die Trinkmenge bei aktiv trinkenden alkoholabhängigen Patienten beschreiben, so ist die Zulassung der Substanzen doch klar auf die Abstinenzerhaltung ausgerichtet. Mit dem neu zugelassenen Pharmakon Nalmefen (5) hat sich der Indikationsbereich für eine pharmakologische Therapie nun um den Bereich der Trinkmengenreduktion erweitert. Die Wirksamkeit der Substanz im Vergleich zu einer Be-
handlung mit Plazebo wurde in mehreren Studien nachgewiesen – immer in Kombination mit einer verhaltenstherapeutischen Begleittherapie. Zielgruppe waren in den Studien meist Patienten mit einer deutlich erhöhten Trinkmenge. Die Substanz war dabei gut verträglich. Zu den häufigsten Nebenwirkungen zählten Benommenheit, Schlafstörungen und Übelkeit. Der Wirkmechanismus von Nalmefen unterscheidet sich von demjenigen von Naltrexon als unselektivem Opioidrezeptorantagonist durch einen zusätzlichen partialagonistischen Effekt am κ-Opioid-Rezeptor. Interessant ist die neue pharmakologische Option in verschiedener Hinsicht. Zum einen gerät mit der Trinkmengenreduktion ein neues Indikationsfeld in den Fokus der pharmakologischen Therapie. Neben der pharmakologischen Wirkung im Zentralnervensystem kommt damit der Substanz auch eine Art Transportwirkung zu – für die in der Zulassung vorgeschriebene psychosoziale Therapie im Rahmen eines therapeutischen Gesamtkonzepts. Zum anderen stellt die «Einnahme bei Bedarf» einen neuen Ansatz in der Behandlung dar. Die betroffenen Patienten sind dadurch gezwungen, möglicherweise schwierige Situationen mit dem Risiko eines vermehrten Alkoholkonsums zu antizipieren, was wiederum therapeutisch genutzt werden kann. Die Anfang 2015 offiziell erschienenen deutschen S3-
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Leitlinien für die Behandlung der Alkoholabhängigkeit (www.awmf.org) geben klare Empfehlungen für die Pharmakotherapie. Für den Einsatz von Acamprosat und Naltrexon im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplans wird eine sogenannte B-Empfehlung oder «Sollte-Empfehlung» ausgesprochen. Für den Einsatz von Disulfiram, welches zurzeit in Deutschland keine Zulassung besitzt, gibt die Leitlinie eine «Kann-Empfehlung» (Grad 0). Auch das neu zugelassene Nalmefene zum Einsatz für eine Trinkmengenreduktion, verbunden mit einer psychosozialen Behandlung, wird in den Leitlinien empfohlen, aufgrund der jedoch vergleichsweise noch dürftigen Studienlage mit einer sogenannten Konsensusentscheidung.
Neue Optionen in der Substitutionstherapie Zumindest in Deutschland bestand bisher nicht die Möglichkeit einer oralen Substitution mit einem retardierten Morphinpräparat – anders als in den anderen deutschsprachigen Ländern. Seit Anfang 2015 ist nun auch in Deutschland ein retardiertes Morphinpräparat für die Substitutionsbehandlung opiatabängiger Patienten verfügbar, welches die bisherigen pharmakologischen Optionen mit Methadon, L-Polamidon, Buprenorphin und Diamorphin (nur im Rahmen einer i.v.-Injektion) erweitert. Die Erfahrungen in anderen Ländern, insbesondere in Österreich und der Schweiz, mit dieser Substitutionsform sind überwiegend positiv, sodass sich für die Patienten in Deutschland nun eine echte Alternative zu den anderen etablierten Medikamenten ergibt. Die Wirksamkeit wurde in verschiedenen Studien belegt (6, 7). Ob die orale Gabe von retardiertem Morphin auch eine Alternative für die meist besonders schwer betroffenen Patienten in Diamorphinbehandlung ist, muss sich erst in der Praxis zeigen. In Situationen, in denen die Behandlung mit Diamorphin unterbrochen werden muss (z.B. im Rahmen eines stationären Krankenhausaufenthalts), ist die Umstellung von Diamorphin auf retardiertes Morphin aufgrund der chemischen Ähnlichkeit (Diacetylmorphin wird zu Morphin metabolisiert) für die Betroffenen in den meisten Fällen wahrscheinlich unproblematischer als die Umstellung auf Methadon oder L-Polamidon.
Neue Entwicklungen im Bereich der Tabakabhängigkeit Unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und -therapie (DG-Sucht) und der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) und unter repräsentativer Beteiligung der Fachgesellschaften wurde eine S3Leitlinie zur Suchttherapie von Tabakabhängigkeit auf der Basis der aktuellen empirischen Befundlage nach den Kriterien der Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftlich Medizinischer Fachgesellschaften (AWMF) entwickelt. Die medikamentöse Behandlung hat insbesondere die Überwindung der Entzugssymptomatik nach Beendigung des Tabakkonsums zum Ziel. In Deutschland zur Rauchentwöhnung zugelassene Medikamente wir Vareniclin sowie Bupropion werden empfohlen (A-Empfehlung), wenn eine leitliniengerecht durchgeführte medikamentöse Behandlung mit einer Nikotin-
ersatztherapie (Nikotinpflaster, -inhaler, -lutschtabletten sowie Nikotinmundspray) nicht ausreichend wirksam war. Partielle Nikotinrezeptoragonisten wie Cytisin können angeboten werden, sind in Deutschland und der Schweiz aber nicht zugelassen. Eine «Kann-Empfehlung» besteht auch für Clonidin als Off-Label-Use. Wenn verfügbar und angemessen, soll bei Verwendung von Medikamenten eine Kombination mit einem verhaltenstherapeutischen Tabakentwöhnungsprogramm angeboten werden (A-Empfehlung). Der Einsatz einer elektronischen Zigarette (E-Zigarette) findet ebenfalls Erwähnung in der neuen Leitlinie. In Bezug auf elektronische Zigaretten ist zu erwähnen, dass es sich derzeit um relativ heterogene Produkte handelt. Das Prinzip besteht in einer verbrennungslosen Verdampfung von nikotinhaltigen und nikotinfreien Flüssigkeiten. Die E-Zigarette besteht aus einer Stromquelle, einem elektrischen Vernebler und einer auswechselbaren Kartusche mit einer Flüssigkeit (Liquid), die durch das Saugen am Mundstück erhitzt, vernebelt und inhaliert wird. Propylenglykol und/oder Glyzerin sind Hauptbestandteil. Weiterhin werden verschiedene Aromen zugesetzt (8, 9). Der Forschungsstand zur elektrischen Zigarette ist präliminär. Randomisierte kontrollierte Studien zur Wirksamkeit im Rahmen von Tabakentwöhnung stehen bisher noch aus. Darüber hinaus bestehen Hinweise auf gesundheitliche Risiken, die ebenfalls noch unzureichend geprüft sind. Elektrische Zigaretten sollten daher nicht angeboten werden (Empfehlungsgrad B).
Moderne Forschungsansätze Neben den genannten Substanzen befinden sich verschiedene weitere in der klinischen Erprobung, insbesondere für die Behandlung der Alkoholabhängigkeit. Die meisten pharmakologischen Ansätze zielen dabei auf eine Modulation des glutamatergen Systems, auf einen Antagonismus an selektiven Opiodrezeptoren oder eine Modulation der Hypothalums-HypophysenNebennierenrinde ab (10). Dem Einbezug möglicher pharmakogenetischer Mechanismen kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Als ein Beispiel sei hier die Bedeutung des OPMR1-Polymorphismus genannt (OPRM1-Asn40Asp-Variante), der für den µ-Opioidrezeptor kodiert und in verschiedenen Studien einen Einfluss auf den Therapieerfolg einer Naltrexonbehandlung bei Alkoholabhängigkeit zeigen konnte (11).
Fazit In der Behandlung von Suchterkrankungen haben sich mit der Zulassung von Nalmefen (europaweit) für die Behandlung der Alkoholabhängigkeit sowie von retardiertem Morphin (Deutschland) für die Substitutionsbehandlung Opiatabhängiger neue Optionen ergeben. Dazu kommen zukunftsorientierte Forschungsansätze insbesondere in der Pharmakogenetik, die den Weg zu einer mehr individualisierten Behandlung von Suchtpatienten beeinflussen könnten. Diese Ansätze können neben einer fundierten und zielorientierten Psychotherapie einen wichtigen Beitrag für eine in Zukunft effektivere Behandlung dieser Patienten leisten. G
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Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Thomas Hillemacher Center for Addiction Research (CARe) Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie
und Psychotherapie Medizinische Hochschule Hannover
Carl-Neuberg-Strasse 1 30625 Hannover
E-Mail: hillemacher.thomas@mh-hannover.de
Merksätze:
G Mit Nalmefene steht eine medikamentöse Option im Rahmen eines therapeutischen Gesamtkonzepts für Patienten mit dem Ziel einer Trinkmengenreduktion zur Verfügung.
G Für die Behandlung Opiatabhängiger wurde retardiertes Morphin als orales Substitutionsmittel in Deutschland neu zugelassen.
G Pharmakogenetische Ansätze wie der Einfluss des µ-Opioidrezeptorgen-Polymorphismus in der Behandlung von alkoholabhängigen Patienten könnten zu einer spezifischeren Therapie von Suchterkrankungen führen.
G Bei Verwendung von Medikamenten zur Behandlung der Tabakabhängigkeit sollte eine Kombination mit einem verhaltenstherapeutischen Tabakentwöhnungsprogramm angeboten werden.
Literatur:
1. Mann K, Lehert P, Morgan MY: The efficacy of acamprosate in the maintenance of abstinence in alcohol-dependent individuals: results of a meta-analysis. Alcohol Clin Exp Res. 2004; 28(1): 51–63.
2. Volpicelli JR, Alterman AI, Hayashida M, O’Brien CP: Naltrexone in the treatment of alcohol dependence. Arch Gen Psychiatry. 1992; 49(11): 876–80.
3. Caputo F, Addolorato G, Stoppo M, Francini S, Vignoli T, Lorenzini F, et al.: Comparing and combining gamma-hydroxybutyric acid (GHB) and naltrexone in maintaining abstinence from alcohol: an open randomised comparative study. Eur Neuropsychopharmacol. 2007; 17(12): 781–9.
4. Ehrenreich H, Krampe H: Does disulfiram have a role in alcoholism treatment today? Not to forget about disulfiram’s psychological effects. Addiction. 2004; 99(1): 26-7; author reply 7–8.
5. Gual A, He Y, Torup L, van den Brink W, Mann K, Group ES: A randomised, double-blind, placebo-controlled, efficacy study of nalmefene, as-needed use, in patients with alcohol dependence. Eur Neuropsychopharmacol. 2013; 23(11): 1432–42.
6. Eder H, Jagsch R, Kraigher D, Primorac A, Ebner N, Fischer G: Comparative study of the effectiveness of slow-release morphine and methadone for opioid maintenance therapy. Addiction. 2005; 100(8): 1101–9.
7. Winklbaur B, Jagsch R, Ebner N, Thau K, Fischer G: Quality of life in patients receiving opioid maintenance therapy. A comparative study of slow-release morphine versus methadone treatment. Eur Addict Res. 2008; 14(2): 99–105.
8. Trtchounian A, Williams M, Talbot P: Conventional and electronic cigarettes (e-cigarettes) have different smoking characteristics. Nicotine Tob Res. 2010; 12(9): 905–12.
9. Williams M, Talbot P: Variability among electronic cigarettes in the pressure drop, airflow rate, and aerosol production. Nicotine Tob Res. 2011; 13(12): 1276–83.
10. Hillemacher T, Leggio L, Heberlein A: Investigational therapies for the pharmacological treatment of alcoholism. Expert Opin Investig Drugs. 2015; 24(1): 17–30.
11. Anton RF, Oroszi G, O’Malley S, Couper D, Swift R, Pettinati H, et al.: An evaluation of mu-opioid receptor (OPRM1) as a predictor of naltrexone response in the treatment of alcohol dependence: results from the Combined Pharmacotherapies and Behavioral Interventions for Alcohol Dependence (COMBINE) study. Arch Gen Psychiatry. 2008; 65(2): 135–44.
Interessenkonflikt:
Prof. Thomas Hillemacher ist Mitglied in einem Beratergre-
mium für Lundbeck und erhielt Honorare und Zuwendun-
gen von den Firmen Servier, Otsuka, Lundbeck, Bristol-
Myers Squibb, Desitin und D&A Pharma. Zudem war er für
die Arbeitsgemeinschaft für Neuropsychopharmakologie
und Pharmakopsychiatrie (AGNP) an der Entwicklung der
Leitlinien tabak- und alkoholbezogene Störungen betei-
ligt. Er ist Mitglied der Arbeitsgruppe Diamorphin-ge-
stützte Behandlung.
Dr. Alexander Glahn: Es bestehen keine Interessenkonflikte. Dr. Glahn ist Arzt und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Medizinischen Hochschule Hannover mit dem Schwerpunkt Suchtmedizin.
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