Transkript
Arzneimittelhaftung und Arzthaftung
FORTBILDUNG
Felix Kesselring
Arzneimittelhersteller dürfen nur qualitativ hochstehende, sichere und wirksame Arzneimittel in Verkehr bringen (Art. 10 Abs. 1 lit. a HMG). Dies schliesst jedoch nicht aus, dass es bei der Abgabe und Anwendung von Arzneimitteln zu Fehlern kommen kann. Die nachfolgenden Ausführungen zeigen vereinfacht und in den Grundzügen, in welchen Fällen Neurologen und Psychiater respektive ihre Organisationen (Spitäler, Ärztenetzwerke, Gemeinwesen) für solche Fehler einstehen müssen (haften) und wie eine solche Haftung vermieden werden kann (1).
von Felix Kesselring
A nlass zu Haftungen im Bereich der Neurologie und Psychiatrie sind weniger invasive Eingriffe als Fehler in der Diagnose und/oder in der Medikation (falsches Arzneimittel, falsche Dosis etc.). Kommt dabei ein Patient zu Schaden, stellt sich die Frage, ob der Arzt respektive seine Klinik oder das Spital oder allenfalls auch das Gemeinwesen dafür einzustehen hat. Haftungsprozesse im Bereich der Psychiatrie und Neurologie sind zwar noch relativ selten. So liegt ein besonders eindrücklicher Fall schon einige Zeit zurück: Damals wurde das Gemeinwesen wegen unnötiger, 21 Monate dauernder hoher Medikation mit Neuroleptika sowie mehrfacher, völlig unindizierter Abgabe von Medikamenten im Zuge einer psychiatrischen Zwangseinweisung zu einer Genugtuungszahlung von 50 000 Franken verurteilt (vgl. Urteil der II. Zivilkammer des Obergerichts Zürich vom 23. Februar 1993, in: ZR 93/1994, S. 225 ff.). Es ist allerdings zu erwarten, dass im heutigen Zeitalter der amerikanischen Prozesskultur Psychiater und Neurologen respektive deren Klinik/ Spital vermehrt mit Schadens- und Genugtuungsansprüchen von Patienten (oder allenfalls der Angehörigen) konfrontiert werden.
Rechtliche Grundlagen Die anwendbaren Haftungsnormen bestimmen sich grundsätzlich danach, ob der Leistungserbringer privatrechtlich oder hoheitlich tätig ist. Privatrechtliche Leistungserbringer (insbesondere ambulant tätige Psychiater und Neurologen resp. deren Klinik/Spital, aber auch Ärztenetzwerke) unterstehen regelmässig dem privatrechtlichen Haftungsrecht (Art. 97 i.V.m. Art. 394 ff. OR bei Vorliegen eines Behandlungsvertrages mit dem Patienten bzw. Art. 41 ff. OR bei Fehlen eines solchen Behandlungsvertrags). Wegen der arbeitsteiligen Leistungserbringung ist es im Einzelnen zuweilen schwierig, den oder die Verursacher genau zu identifizieren. Hoheitliche Leistungserbringer (i.d.R. Erbringer von stationären Behandlungen, welche die obligatorische Krankenpflegeversicherung übernimmt) unterliegen regelmässig dem kantonalen Staatshaftungsrecht. Dieses unterscheidet sich von Kanton zu Kanton und ist in der
Regel als sogenannte ausschliessliche Staatshaftung ausgestaltet. Dabei haftet in erster Linie die staatliche Organisation (z.B. das Kantonsspital) gegenüber dem Patienten für einen Schaden und nicht der behandelnde Arzt selbst. Dieser kann dann jedoch in zweiter Linie von der staatlichen Organisation in Anspruch genommen werden. Die kantonalen Staatshaftungsgrundlagen verweisen oft ganz oder teilweise auf das privatrechtliche Haftungsrecht. Weitere rechtliche Grundlagen finden sich im Strafrecht (Körperverletzungsdelikte), im Verwaltungsrecht (Berufsrecht) und im Standesrecht (insbesondere FMH). Darauf wird nachfolgend jedoch nicht näher eingegangen.
Haftungsvoraussetzungen In Bezug auf die Haftungsvoraussetzungen unterscheiden sich das privatrechtliche Haftpflichtrecht und das kantonale Staatshaftungsrecht nicht wesentlich. Die erste Haftungsvoraussetzung ist das Vorliegen eines Schadens. Darunter sind vor allem Personenschäden gemeint respektive die daraus resultierenden wirtschaftlichen Folgen (z.B. Heilungskosten, Kosten für Spitalaufenthalte, Medikamentenkosten, Einkommensausfall). Für den Schaden ist der Patient beweispflichtig. Neben dem eigentlichen Schaden kann der Patient auch Genugtuung geltend machen. Die Genugtuung soll insbesondere die seelischen Beeinträchtigungen ausgleichen. Zweite Haftungsvoraussetzung ist (beim privatrechtlichen Haftungsrecht mit Vertrag) das Vorliegen einer Vertragsverletzung, insbesondere die Verletzung der Sorgfaltspflicht. Beim privatrechtlichen Haftungsrecht ohne Vertrag sowie beim kantonalen Staatshaftungsrecht besteht die Besonderheit, dass die Behandlung vorerst (insbesondere als Verletzung von Sorgfaltspflichtnormen) zunächst rechtwidrig ist, diese Rechtswidrigkeit aber durch Rechtfertigungsgründe neutralisiert werden kann. Auch hier ist die Einhaltung der Sorgfaltspflicht von eminenter Bedeutung, denn unsorgfältig durchgeführte ärztliche Eingriffe sind immer widerrechtlich. Der praktisch relevanteste Rechtfertigungsgrund ist die Einwilligung des Patienten, der eine hinreichende Aufklärung vorausgegangen sein muss (sog. Informed Consent). Der Arzt trägt die Beweislast
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dafür, dass er den Patienten genügend aufgeklärt hat. Die Aufklärung hat einfach und verständlich, aber vollständig zu sein. Sie hat zumindest die Diagnose, die Therapie, die Prognose, die Alternativen, die Risiken, die Heilungschancen, die spontanen Entwicklungen und das Finanzielle zu umfassen. Bei urteilsunfähigen Personen entscheidet der gesetzliche Vertreter über die Behandlung. Fehlt ein Informed Consent, so fehlt es in aller Regel an einem Rechtfertigungsgrund, und der Eingriff ist als Ganzes rechtswidrig. Der Arzt haftet in diesem Fall für alle aus der Behandlung resultierenden Schäden, auch wenn er sorgfältig gehandelt hat. Ein weiterer Rechtfertigungsgrund ist beispielsweise die gesetzlich vorgesehene fürsorgerische Unterbringung. Rechtfertigungsgründe sind vom Arzt zu beweisen. Eine Sorgfaltspflichtverletzung liegt dann vor, wenn die objektiv gebotene Sorgfalt missachtet wird, das heisst diejenige Sorgfalt, die ein anderer Arzt mit der gleichen beruflichen Erfahrung und dem gleichen Ausbildungsstand unter denselben Umständen angewandt hätte. Massstab ist dabei der aktuelle Stand der medizinischen Erkenntnisse im Behandlungszeitpunkt. Bei der Diagnose beispielsweise hat der Arzt sorgfältig und vor dem Hintergrund des jeweils aktuellen Standes der Untersuchungsmethoden und der Wissenschaft vorzugehen. Bei der Wahl des anzuwendenden Arzneimittels hat der Arzt das geeignetste in der geeignetsten Dosierung abzugeben und anzuwenden. Dabei sind die Fachinformationen (www.swissmedicinfo.ch) besonders relevant. Oftmals steht dem Arzt dabei ein gewisser Ermessensspielraum zur Verfügung. Diesen hat er in vertretbarer Weise und fachgerecht auszufüllen. Ob eine Sorgfaltspflichtverletzung vorliegt, entscheidet sich aber letztlich immer an den Umständen des konkreten Einzelfalls und ex ante, das heisst aus dem Zeitpunkt, an dem sie angeblich stattfand. Die Sorgfaltspflichtverletzung ist vom geschädigten Patienten zu beweisen. Grundsätzlich hat ein Arzt die Behandlung persönlich vorzunehmen. Überweist der Arzt den Patienten zulässigerweise an einen anderen, selbstständig handelnden Arzt, so hat er diesen sorgfältig auszuwählen und zu instruieren. Andernfalls kann eine Sorgfaltspflichtverletzung des überweisenden Arztes vorliegen. Überträgt ein Arzt gewisse Aufgaben zulässigerweise einer Hilfsperson (etwa untergeordnete Aufgaben an nicht ärztliches Personal), so kann sich der Arzt grundsätzlich nicht von der Haftung befreien, sondern haftet für seine Hilfsperson, wie wenn er selbst gehandelt hätte. Eine Delegation der fachärztlichen Diagnose sowie die Verschreibung von Arzneimitteln sind aber grundsätzlich nicht zulässig. Dritte Haftungsvoraussetzung ist, dass zwischen der Vertragsverletzung respektive der Widerrechtlichkeit und dem Schaden ein Kausalzusammenhang besteht. Dieser Ursache-Wirkungs-Zusammenhang ist vom Patienten nachzuweisen. Da dieser Nachweis oftmals schwer zu erbringen ist, lässt es das Bundesgericht genügen, wenn der Kausalzusammenhang nicht bewiesen wird, sondern lediglich eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für den behaupteten Kausalverlauf spricht. Kann der Arzt beweisen, dass der Schaden selbst dann eingetreten wäre, wenn keine Sorgfaltspflichtverletzung vorgelegen hätte, so fehlt es am Kausalzusammenhang. Vierte Voraussetzung ist bei privatrechtlichen Haftungsverhältnissen ein Verschulden (Absicht oder Fahrlässig-
keit) des Arztes. Sofern ein Vertrag vorliegt, wird dieses Verschulden vermutet, und der Arzt hat zu beweisen, dass ihn kein Verschulden trifft. Liegt kein Vertrag vor, hat der Patient das Verschulden zu beweisen. Bei öffentlich-rechtlichen Haftungsverhältnissen ist das Verschulden in der Regel keine Haftungsvoraussetzung.
Haftungsprozess Richtet sich die Haftung nach privatrechtlichem Haftungsrecht, so spielt sich der Haftungsprozess nach den Regeln des Zivilprozessrechts ab. Haftungsansprüche gestützt auf das kantonale Staatshaftungsrecht werden in der Regel nach kantonalem öffentlichem Recht durchgesetzt. Regelmässig involviert in Haftungsprozesse sind Gutachter und Haftpflichtversicherungen. Haftungsprozesse werden sehr häufig durch Vergleich zwischen den Parteien erledigt.
Vermeidung von Haftungsfällen
Haftungsrisiken lassen sich für Ärzte und Kliniken letzt-
lich nicht gänzlich vermeiden. Die Risiken lassen sich je-
doch beträchtlich senken. So ist zunächst etwa zu
empfehlen, Fälle, bei denen der Arzt keine Spezialkennt-
nisse hat oder in denen er auf solche innerhalb der
Klinik/des Spitals nicht zugreifen kann, von vornherein
nicht anzunehmen (wo dies rechtlich zulässig ist).
Von zentraler Bedeutung in jedem Haftungsfall ist der
Informed Consent. Diesbezüglich ist zu empfehlen, die
umfassende Aufklärung des Patienten und dessen Zu-
stimmung standardisiert und gründlichst zu dokumen-
tieren, insbesondere wer, wann, wo, wen und wie
aufklärte, die Reaktion und Rückfragen des Patienten.
Mängel in der Dokumentation führen nach bundes-
gerichtlicher Rechtsprechung dazu, dass dem klagen-
den Patienten eine Beweiserleichterung zugestanden
wird. Ist der Arzt respektive seine Klinik/das Spital mit
einem Haftungsanspruch konfrontiert, so ist es empfeh-
lenswert, die für solche Fälle vorab bestimmten zustän-
digen internen Personen sofort zu benachrichtigen,
damit der Fall konzentriert und widerspruchsfrei behan-
delt werden kann. Die schriftliche Kommunikation zwi-
schen den am Vorfall Beteiligten ist zu vermeiden
(Gefahr der unsachgemässen internen Schuldzuwei-
sungen). Auch sind allfällige Beweise zu sichern (insbe-
sondere die Krankengeschichte inklusive Aufklärungs-
und Zustimmungsdokumentationen). Die Manipulation
von Beweismitteln ist aber unzulässig. Insgesamt emp-
fiehlt es sich, für solche Fälle den Ablauf vorgängig fest-
zulegen. Die Verbindung der Schweizer Ärztinnen und
Ärzte (FMH) sowie die Schweizerische Akademie der
medizinischen Wissenschaften (SAMW) haben dazu
Empfehlungen herausgegeben.
G
Korrespondenzadresse:
lic. iur. Felix Kesselring LL.M.
Rechtsanwalt
c/o VISCHER AG
Schützengasse 1, Postfach 1230
8021 Zürich
E-Mail: fkesselring@vischer.com
Der Autor ist in den Bereichen Gesundheits-, Pharma- und Life-Sciences-Recht tätig.
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1. Die nachfolgenden Ausführungen stützen sich auf die Werke von Gächter Thomas/Rütsche Bernhard: Gesundheitsrecht, 3. A., Basel 2013, Rz. 391 ff., und von Landolt Hardy/Herzog-Zwitter Iris: Arzthaftungsrecht, Zürich 2015. Ebenfalls berücksichtigt wurde Brückner Christian: Arzthaftpflicht, Juristischer Ratgeber für Ärzte und Kliniken, Basel 2011 (erhältlich unter https://www.vischer.com/fileadmin/redaktion/Dokumente/publikationen/vischer_broschueren/Brosch_Ar zthaftpflicht_DE_Web.pdf ).
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