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KRAFTTRAINING ALS THERAPEUTIKUM
Eine Handvoll Pioniere befasste sich damit – und das erfolgreich
Lange war der kausale Zusammenhang von Kraft und Gesundheit ein Randthema im medizinischen Diskurs. Die Präventivmediziner empfahlen sehr wohl Ausdauertraining als Infarktprophylaxe, konnten der Kräftigung der Skelettmuskulatur jedoch wenig abgewinnen.
Werner Kieser
1958 kam ich durch die Empfehlung eines befreundeten Boxprofessionals auf das Krafttraining, ein Begriff, der damals noch nicht im deutschen Wortschatz existierte. Grund dafür war eine schmerzhafte Rippenfellquetschung (so die Diagnose damals), die mir das Atmen erschwerte. Vom Vereinsarzt zu einer längeren Trainings- und Wettkampfpause genötigt, weckte die Empfehlung des Sportkollegen meine Hoffnung, die Genesungszeit damit zu verkürzen. So geschah es in der Tat. Das Training mit Hanteln stimulierte offensichtlich die anabolen Vorgänge in einer Weise, dass ich schon nach wenigen Wochen nicht nur meine Beschwerden vergessen, sondern auch an Muskelmasse zugelegt hatte.
Erste Erfahrungen mit dem Krafttraining
Meine ersten Erfahrungen mit dem Krafttraining waren somit durchaus «therapeutischer» Natur. Das Thema faszinierte mich, und meine «erste Liebe», das Boxen, verlor seine Magie. Ich recherchierte in der medizinischen und besonders in der physiotherapeutischen Literatur. Unter dem Begriff «Krafttraining» oder «Muskeltraining» fanden sich erst wenige Arbeiten. Die Stossrichtung dieser Publikationen lag vorwiegend im Streben nach Maximierung sportlicher Leistungen oder im rein ästhetischen Streben nach einer athletischen Figur, dem Bodybuilding.
1963 eröffnete ich mein erstes Kraftstudio an der Nordstrasse in Zürich. Meine «Kundschaft» war sehr sportlicher Natur. Mittlerweile hatte es sich herumgesprochen, dass Krafttraining in praktisch allen Sportarten leistungsfördernd sei. Doch fielen mir schon damals «Nebeneffekte» – wenngleich willkommene – auf. Trainierende berichteten, dass ihre Rücken- und andere Beschwerden verschwunden seien, seit sie bei mir trainierten. Im Laufe der Jahre festigte sich meine Überzeugung, dass der Nutzen dieser Trainingsform den Anwendungshorizont des Sports bei Weitem überschreitet, kurz, dass es sich um ein Heilmittel im wahrsten Sinne des Wortes handelt.
Neuausrichtung zugunsten «normaler» Kundschaft
In den frühen Siebzigerjahren rollte die «Fitnesswelle» an. Mit ihr kam eine neue, «normale» Kundschaft in mein Studio. Darunter befanden sich Menschen, die noch nie Sport getrieben, noch nie ihre körperliche Leistungsgrenzen erfahren hatten und keinen einzigen Klimmzug schafften. Schnell wurde mir klar, dass diese Leute im Sinne einer Verbesserung ihrer Lebensqualität am meisten vom Training profitierten. Als mir eine über 70-jährige Frau begeistert erzählte, dass sie ihre Einkaufstasche wieder tragen könne und keine Gehhilfe mehr benötige, war für mich entschieden, welche Ausrichtung mein Unternehmen nehmen soll.
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Abbildung 1: Mit der Pullover Maschine war es erstmals möglich, den Latissimus dorsi von der maximalen Dehnung bis in die vollständige Kontraktion mit einer einzigen Übung zu trainieren.
Abbildung 2: Die Ergebnisse der Messungen werden vom Therapeuten aufgenommen und dienen als Grundlage für das zu erarbeitende Trainingsprogramm.
Abbildung 3: Die exakte Messung der Kräfte, wie auch das spezifische Training der Lumbal Extensoren wurde erst möglich durch die vollständige Fixation des Beckens
1972 las ich von einer Erfindung, die ein Problem löste, das mich schon länger beschäftigte. Das Problem aller konventionellen Kräftigungsübungen besteht darin, dass der Widerstand, den die Muskeln damit überwinden müssen, stets gradlinig erfolgt, unsere Gelenke jedoch kreisförmig arbeiten. Die «Nautilus»-Geräte – so der Markenname – trugen diesem Umstand Rechnung und ermöglichten erstmals überschwelligen Spannungsreiz – von der maximalen Dehnung bis in die volle Verkürzung des Muskels. So wurde es beispielsweise möglich, den Latissimus dorsi über die ganze Reichweite des Schultergelenks von etwa 240 Grad mit einer einzigen Übung zu trainieren. Dieser technologische Fortschritt brachte gleich mehrere Vorteile: 1. Die Kraft wird in allen Gelenkwinkeln entwickelt. 2. Die Beweglichkeit wird ohne separate Dehnungsübungen erhöht. 3. Die Trainingszeit verkürzte sich zugunsten der Intensität.
Lösung für Rückenprobleme durch neuartige Geräte
1984 riefe mich Arthur Jones, der Erfinder der «Nautilus»-Geräte, um etwa 4 Uhr morgens an. «Werner, we solved the back problem», schnarrte er ins Telefon. Er machte sich nie viel aus der interkontinentalen Zeitverschiebung und sprach von sich jeweils im Plural. «Und deswegen rufst du mich mitten in der Nacht an? Ich habe kein Rückenproblem.» «Natürlich hast du kein Rückenproblem. Aber Millionen haben eines; und es ist ein Kraftproblem, und wir können es lösen.» Ich reiste nach Florida um den Prototyp der «Lumbal-
extension»-Maschine zu testen. Schon bei den ersten Wiederholungen am Gerät wurde mir klar: Das ist etwas Neues, anders als alles, was ich bisher an Rückentraining gemacht hatte (und das war vieles). Die unbedingte Fixation meines Beckens war unangenehm, aber nötig, weil sonst die Messungen der Kraft der Rückenstrecker falsche Resultate ergeben hätten und so das Training wirkungslos wäre. Durch Drehen einer Kurbel fixiert der Therapeut Oberschenkel und Becken wie im Schraubstock (Abbildung 3), bis sich die Rolle am Beckenrand nicht mehr dreht, wenn der Proband sich nach vorne neigt. Auf diese Weise eingespannt, ist eine Mithilfe der Gesässmuskeln ausgeschlossen. Gemessen wird die isometrische Kraft in sieben Position über die 72 Grad der Lumbalextension. Interpoliert und als Grafik visualisiert, zeigten sich so drei Sachverhalte: erstens die sogenannte «Kraftkurve» und ihre Abweichung von (gesunden) Durchschnittswerten; zweitens der ROM (range of motion), also der Beweglichkeitsgrad; und drittens die Kraft des Probanden im Vergleich mit Durchschnittswerten. Studien zeigten: Patienten mit chronischen Rückenschmerzen hatten vom Durchschnitt stark abweichende Kraftkurven. Und sie machten extreme Fortschritte beim Training. Die Kraft der Lumbalextensoren liess sich in vielen Fällen um mehrere 100 Prozent steigern. Nach wenigen Sitzungen waren die Probanden beziehungsweise Patienten schmerzfrei oder rapportierten eine signifikante Schmerzabnahme (Abbildung 4).
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Abbildung 4: Die Kraftkurve vor der Therapie (oberes Bild) und danach: Die atypische Kraftkurve am Anfang weist auf die Sportart der Patientin hin: Wasserski.
W E R N E R KI E S E R (75), Diplomtrainier, Unternehmer, Philosoph. Gilt als Pionier der Fitnessbranche; Gründer und Eigentümer der Kieser Training AG, einer Kette von weltweit 141 Studios für präventives und therapeutisches Krafttraining.
Ohne Spritzen, Pillen oder Massagen
Meine Frau (Ärztin) und ich entschieden uns, mit dieser Technologie eine Praxis für «Medizinische Kräftigungstherapie» zu eröffnen. Keine Spritzen, keine Pillen, keine Massagen – nicht weil wir diese Mittel und Massnahmen geringschätzten, sondern weil wir wissen wollten, was die ausschliessliche Kräftigung tatsächlich bringt. Unsere Resultate entsprachen tatsächlich jenen, die auch in den USA erzielt und publiziert wurden. Viele der nunmehr schmerzfreien Patienten wollten nach Therapieende das Training weiterführen. Ein professioneller Trainingsbetrieb in einer Arztpraxis ist aber nicht machbar. So gliederten wir jedem Kieser-Training-Studio eine Praxis für Kräftigungstherapie an. Nach dem Motto: erst den Patienten schmerzfrei machen, dann eine Kraftreserve aufbauen mit regulärem, somit präventivem Training.
Expansion nach Deutschland und Österreich
Die Schweizer Studios waren in kurzer Zeit nachgerüstet. Der Erfolg des Therapiekonzepts bewog uns, 1995 mit diesem neuen Studiokonzept nach Deutschland und Österreich zu expandieren. Nach einem schwierigen Start in Hamburg wendete sich das Blatt, und wir konnten innerhalb von sechs Jahren über 100 Studios eröffnen. Wir sind heute mit 141 Studios und etwas über 271 000 Kunden beziehungsweise Patienten in acht Ländern vertreten. Der therapeutische Erfolg, wie auch die von uns verwendete «Einsatz-Trainingsmethode» generell, wurde lange von der Fachwelt ignoriert. Sowohl Sportwissenschaftler wie Orthopäden und Physiotherapeuten reagierten oft negativ auf Anfragen von Patienten oder Journalisten zu «Kieser». Kein Wunder, denn die Absagen für Behandlungen und OP häuften sich in einem Masse, dass das Magazin «Der Spiegel» mich als «Feind der Orthopäden» bezeichnete. Das war zwar gute Werbung, entsprach aber nicht den Tatsachen, denn schliesslich waren viele unserer Ärzte Orthopäden.
Weniger Zeit erforderlich
Heute hat sich die Wahrnehmung signifikant verändert. Es fallen zwei Veränderungen auf. Erstens: Unter der Bezeichnung «HIT» (High Intensity Training) wird vermehrt eine Trainingsmethode empfohlen, die sich durch hohe Intensität und sehr geringen Zeitaufwand auszeichnen. Dies ist exakt die Methode, die Kieser-Training seit 40 Jahren anwendet. Diese Methode widerspricht der noch heute herrschenden Trainingslehre, was wohl
auch der Grund ist, warum die Meinungsbildner in diesem Fachgebiet sie über 40 Jahre ignorierten. Es waren eher junge Akademiker, die in den letzten Jahren den Mut hatten, im deutschsprachigen Raum den Durchbruch zu schaffen und Dogmen aufzubrechen. Tatsächlich sind die «alten», umfangreichen und die neuen, kurzen Verfahren etwa gleich produktiv. HIT ist jedoch effizienter, weil der Zeitaufwand nur einem Bruchteil desjenigen konventioneller Verfahren entspricht. Ein Sachverhalt, der die Therapiekosten senkt und dem Patienten weniger Zeit abnötigt.
HIT auch kardiovaskulär wirksam
Zweitens: Neue Forschungsarbeiten haben das Anwendungsspektrum des gesundheitsorientierten Krafttrainings beträchtlich erweitert. Die Forschung zeigte die erstaunliche kardiovaskuläre Wirkung von HIT – was die Dichotomie von «Ausdauertraining» versus «Krafttraining» erodiert. Damit steht mit dem Krafttraining ein Verfahren zur Verfügung, das alle drei Konditionsfaktoren – Kraft, Ausdauer, Beweglichkeit – entwickelt und ein enormes therapeutisches Potenzial birgt. Die Trainingslehre muss über weite Strecken neu geschrieben werden.
Grosses Einsparpotenzial
Nachdenklich stimmt jedoch, wenn trotz vieler Studien, publiziert in renommierten Journalen, kaum eine Institution an der Tatsache interessiert ist, dass mit diesem Training beispielsweise 9 von 10 Wirbelsäulenoperationen überflüssig werden. Dass hier wahrscheinlich systemimmanente Faktoren im Spiel sind, wurde mir an einer Veranstaltung mit Krankenkassenvertretern in Deutschland klar. Nachdem ich eine im «European Spine» veröffentlichte Studie erläutert hatte, bei der von 388 Rückenpatienten mit OP-Indikation nach der Kräftigungstherapie nur noch 44 operiert werden mussten, fragte ein Krankenkassenvertreter: «Herr Kieser, sehr schön, was Sie uns da gezeigt haben. Aber haben Sie sich auch überlegt, wie viele Arbeitsplätze das vernichten würde?» Das hatte ich mir tatsächlich nicht überlegt. Meine Argumentation lief darauf hinaus, dass von den 50 Milliarden Euro, die der «deutsche Rücken» angeblich kostet, locker 40 Milliarden eingespart werden könnten. Aber das interessiert bis heute kaum jemanden.
Literatur beim Verfasser.
Kontakt: Werner Kieser Kieser Training AG, Zürich E-Mail: werner.kieser@kieser-training.com
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