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STUDIE REFERIERT
Bluthochdruck auch jenseits des 80. Lebensjahrs behandeln?
Bei gebrechlichen Patienten Therapie individualisieren – Vorsicht bei Polypharmazie!
O Es gibt nur geringe Evidenz zum Hypertoniemanagement in dieser Altersgruppe.
O Die Prävalenz altersassoziierter Erkrankungen, von Gebrechlichkeit und Autonomieverlust nimmt ab dem Alter von 80 Jahren deutlich zu.
In früheren Zeiten herrschte die Meinung vor, dass Anstiege des systolischen Blutdrucks (SBP) und des Pulsdrucks normale Alterungsprozesse darstellten und eine Hypertonie bei älteren Patienten demzufolge nicht behandlungsbedürftig sei. Neuere Studien haben jedoch ergeben, dass Senioren mit hohen SBP- und Pulsdruckwerten eine höhere kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität, eine höhere Prävalenz anderer altersassoziierter Erkrankungen und von Autonomieverlust sowie eine geringere Lebenserwartung aufweisen als ihre Altersgenossen ohne erhöhte Werte. Für sehr alte, gebrechliche multimorbide Patienten ist dieser Zusammenhang jedoch nicht klar belegt, und die derzeitige Evidenzlage zum Risiko von Bluthochdruck in dieser Patientengruppe und zum Nutzen von dessen Therapie ist abgeleitet aus entsprechenden Daten jüngerer Populationen und ausgewählten Stichproben robuster älterer Individuen.
JAMA
MERKSÄTZE
O Es gibt nur wenig Evidenz aus Studien, die für eine antihypertensive Therapie bei sehr alten gebrechlichen Patienten spricht.
O Bei der Hypertoniebehandlung bei älteren Menschen sollten internationale Guidelines und der klinische Gesamtzustand berücksichtigt werden.
O Die Leitlinien empfehlen eine Reduktion des systolischen Blutdrucks auf Zielwerte zwischen 140 und 150 mmHg; Werte < 130 mmHg sind zu vermeiden.
O Das kann durch eine geeignete Hydratation und Ernährung sowie durch Reduktion oder Absetzen anderer, möglicherweise blutdrucksenkender Medikamente und falls nötig auch durch Reduzierung der antihypertensiven Therapie erreicht werden.
O Sämtliche verabreichten Medikamente sollten regelmässig auf ihre Notwendigkeit hin überprüft werden.
Um Empfehlungen zur Beurteilung und zur Therapie von Hypertonie bei Patienten im Alter von 80 Jahren oder mehr geben zu können, hat eine Arbeitsgruppe um Dr. med. Athanase Benetos vom CHU de Nancy, Frankreich, eine systematische Literaturrecherche in den Datenbanken MEDLINE und PubMed Central sowie der Cochrane Database of Systematic Reviews durchgeführt. Das Augenmerk lag dabei auf Publikationen, die eine Hypertoniebehandlung bei älteren und gebrechlichen Personen befürworten, sowie auf einer umfassenden geriatrischen Beurteilung hinsichtlich möglicher polypharmazeutischer Effekte bei gleichzeitiger Einnahme von Antihypertensiva, Statinen, Antikoagulanzien und Antidiabetika. Die Altersgrenze von 80 Jahren wurde dabei aus folgenden Gründen bewusst gewählt: O Der Anteil der über 80-Jährigen in
der Bevölkerung nimmt überproportional stark zu. O Die Lebenserwartung von 80-Jährigen ist im Zeitraum von 1970 bis 2010 um 50 Prozent gestiegen.
In die Analyse einbezogen wurden Arbeiten, die zwischen 2010 und April 2015 veröffentlicht worden waren; im Zeitraum vor 2010 war zu dem Thema mit HYVET (Hypertension in the Very Elderly, 2008) lediglich eine einzige randomisierte, kontrollierte Studie publiziert worden. Neben dem Alter von 80 Jahren oder mehr und einer Hypertoniediagnose der Patienten waren eine Randomisierung der Probanden, das Vorhandensein einer Kontrollgruppe, die ein Plazebo oder ein aktives Vergleichspräparat erhielt, sowie eine Studiendauer von mindestens vier Wochen weitere Einschlusskriterien für den Literaturreview.
Begrenzte Datenlage: HYVET ff.
Im Zeitraum von 2010 bis 2015 wurden sechs Post-hoc-Analysen der HYVETStudie veröffentlicht. In Letzterer waren insgesamt 3845 80-jährige und ältere Hypertoniepatienten (SBP ≥ 160 mmHg) randomisiert entweder einer Therapie mit dem Diuretikum Indapamid oder einem Plazebo zugeführt worden. Falls notwendig, wurde der ACE-Inhibitor (angiotensine converting enzyme) Perindopril beziehungsweise Plazebo zusätzlich verabreicht, um den Zielblutdruckwert von 150/80 mmHg zu erreichen. Die Intention-to-treat-Analyse der Daten ergab, dass die aktive Therapie zwar mit einer 39-prozentigen Verminderung der Todesrate nach Schlaganfall, einer 21-prozentigen Reduktion der Mortalität jedweder Ursache, einer 23-prozentigen Verminderung der kardiovaskulären Sterblichkeit sowie mit einer 64-prozentigen Reduktion der Herzinsuffizienzrate assoziiert war. Der positive Effekt der aktiven Therapie auf das Auftreten von tödlichen und nicht tödlichen Schlaganfällen, den primären Endpunkt der Studie, konnte jedoch keine statistische Signifikanz erreichen. Die HYVET-Studie wurde wegen der in der aktiv behandelten Gruppe zwischenzeitlich beobachteten unerwarteten Reduktion der Mortalität jedweder
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Ursache sowie der Schlaganfallraten vorzeitig abgebrochen, sodass sie hinsichtlich ihrer vielfältigen sekundären Endpunkte statistisch nicht ausreichend aussagekräftig ist. Diverse Post-hoc-Analysen der HYVET-Studie erbrachten Hinweise, dass eine aktive antihypertensive Therapie bei sehr alten Patienten von Nutzen ist, indem sie den Blutdruck bei Individuen mit Weisskittelhypertonie und den Pulsdruck reduziert oder indem sie sich positiv auf die Kognition und möglicherweise auf die Prävention von Frakturen auswirkt. Die HYVET-Studie unterlag mehreren wichtigen Limitationen: O Zum einen waren die Resultate hinsicht-
lich des primären Endpunkts, des Auftretens von Schlaganfällen, negativ ausgefallen. O Zum zweiten waren nur Patienten mit einem systolischen Blutdruck von mehr als 160 mmHg eingeschlossen worden. Dass eine antihypertensive Behandlung im Blutdruckbereich von 140 bis 160 mmHg (Hypertonie Grad 1) von Nutzen ist, konnte bei jüngeren Patienten (< 60 Jahre) gezeigt werden. Ob das auch bei über 80-Jährigen zutrifft, ist unklar. Die europäischen Guidelines empfehlen eine entsprechende Therapie bei 60- bis 80jährigen Patienten, sofern diese fit sind; die US-amerikanischen JNC-8-Guidelines plädieren für eine Behandlung von Blutdruckwerten oberhalb von 150 mmHg bei Personen ab 60 Jahren. O Eine weitere Limitation der Studie ergibt sich daraus, dass pflegebedürftige Patienten oder solche, die unter schweren kardiovaskulären Erkrankungen, Nierenversagen, Demenz und anderen klinisch relevanten Komorbiditäten litten, ausgeschlossen waren.
Polypharmazie und medikamentenbedingte Nebenwirkungen stellen erhebliche Probleme für ältere Patienten dar und können zu Morbidität, zu höheren Hospitalisierungsraten und zur Sterblichkeit beitragen. Obwohl viele der Patienten in der HYVETStudie einen relativ hohen Frailty-Index aufwiesen, waren stark gebrechliche Patienten mit etwa Verlust der Autonomie, mit signifikanten kognitiven, schweren kardiovaskulären und anderen Begleiterkrankungen nicht in die Studie eingeschlossen worden. Deshalb ist der Nutzen eines antihypertensiven Managements bei diesen Patienten unbekannt.
Vorsicht vor zu starker
Blutdrucksenkung!
Wie in der Studie PARTAGE (Predicted Value of Blood Pressure and Arterial Stiffness in Institutionalized Very Aged Population) gezeigt wurde, lässt sich der Nutzen einer antihypertensiven Therapie, wie er in mittleren Altersgrupen zu beobachten ist, bei älteren Patienten (≥ 80 Jahre) in Pflegeheimen nicht unbedingt nachweisen. Im Gegenteil: Die höchste Sterblichkeitsrate ergab sich bei Patienten mit einem SBP von weniger als 130 mmHg. Auch eine Metaanalyse randomisierter, klinischer Studien (inkl. HYVET und HYVET-Pilotstudie), welche bei über 80-jährigen Patienten eine allgemeine antihypertensive Therapie mit Plazebo oder keinerlei Behandlung verglichen hatten, konnte keinen Rückgang der Gesamtmortalität nachweisen. Die sehr heterogenen Daten zur Sterblichkeit liessen sich dabei am ehesten durch das Vorliegen einer höheren Mortalität in denjenigen Studien erklären, in denen eine intensivere antihypertensive Therapie angewendet und grössere SBP-Reduktionen erzielt worden waren. Paradoxerweise war ein höherer SBP stark mit einem geringeren Sterberisiko assoziiert. Einer neueren Analyse der PARTAGEStudie zufolge ist die Sterblichkeit von Patienten mit SBP von 130 mmHg oder weniger bei Einnahme zweier oder mehrerer Antihypertensiva erhöht, nicht aber, wenn nur ein blutdrucksenkendes Medikament zum Einsatz kommt. Zum jetzigen Zeitpunkt ist unklar, ob die erhöhten Mortalitätsraten älterer Patienten mit geringen Blutdruckwerten auf den niedrigen Blutdruck selbst und/oder auf eine Polypharmazie zurückgehen oder aber eine Folge eines sich allgemein verschlechternden Gesundheitszustands darstellen.
Guidelines zum Blutdruck-
management bei über 80-Jährigen
Die meisten internationalen Leitlinien empfehlen, gesundheitlich robuste über 80-jährige Patienten mit SBP-Werten oberhalb von 160 mmHg mit dem Ziel einer Blutdrucksenkung auf unter 150 mmHg antihypertensiv zu behandeln. Drei Aspekte bleiben dabei jedoch unklar: O Da gebrechliche und multimorbide Pa-
tienten generell von klinischen Studien ausgeschlossen sind, lassen sich aus solchen Studien abgeleitete Empfehlungen auf diese Individuen nicht übertragen. Mehr noch: Die in den Leitlinien befürworteten standardisierten Therapiesche-
mata werden der nicht selten komplexen individuellen gesundheitlichen Situation der älteren Patienten nicht gerecht. O Eine Behandlung jeder einzelnen möglicherweise bei älteren Patienten vorliegenden Erkrankung führt zum Problem der Polypharmazie mit damit einhergehendem erhöhtem Risiko von unerwünschten Medikamentenwirkungen. Die Polypharmazie sollte daher unter mehreren anderen mit nachteiligen Auswirkungen und Komplikationen verbundenen medizinischen Zuständen als eigenständig betrachtet werden. O Es gibt keine spezifischen Empfehlungen für das Absetzen der Medikamente bei Auftreten sehr niedriger Blutdruckwerte. Die ESC/ESH-Guidelines empfehlen auch bei SBP unter 140 mmHg eine Fortsetzung der Therapie, falls diese vertragen wird und die Patienten fit sind. Die JNC8-Guidelines geben die mit Empfehlungsgrad E versehene und als Expertenmeinung eingestufte Einschätzung ab, dass eine antihypertensive Therapie ohne negative Auswirkungen auf Gesundheit oder Lebensqualität auch bei SBP unter 140 mmHg nicht geändert werden muss. Diese Empfehlung zielt allerdings auf sämtliche Patienten über 60 Jahre ab und gilt nicht notwendigerweise auch für alle über 80-Jährigen mit ausgeprägter Gebrechlichkeit.
Überbehandlung vermeiden
Die meisten internationalen Guidelines empfehlen, bei über 80-Jährigen immer dann mit einer antihypertensiven Therapie zu beginnen, wenn der SBP 160 mmHg übersteigt. Zielwerte sollten bei robusten Patienten unter 150 mmHg liegen. Der geringe Evidenzgrad dieser Empfehlungen wird jedoch sowohl von nationalen als auch von internationalen Expertengruppen betont, und das Fehlen von Daten zur antihypertensiven Therapie bei gebrechlichen Personen stellt ein Problem dar. Die meisten über 80-jährigen hypertensiven Patienten werden mit mehr als einem blutdrucksenkenden Medikament behandelt, auch wenn die Leitlinien initial lediglich eine Monotherapie oder eine gering dosierte Kombinationstherapie (Kalziumkanalblocker oder Thiaziddiuretikum meist bevorzugt) vorsehen, die beide zudem erst dann zum Einsatz kommen sollten, wenn Lebensstilmodifikationen (Gewichtsreduktion, Salzrestriktion, körperliche Aktivität, moderater Alkoholkonsum) nicht den gewünschten Erfolg zeigen. Allerdings sind
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auch die aus kontrollierten Studien verfügbaren Daten zum Effekt solcher Lebensstiländerungen bei über 80-Jährigen äussert begrenzt, und einzelne dieser Lebensstilmassnahmen, wie etwa eine Gewichtsreduktion allein ohne körperliche Aktivität oder eine womöglich zu Hyponatriämie, Malnutrition und orthostatischer Hypotonie führende exzessive Salzreduktion, können eventuell sogar kontraproduktiv sein. Bei nicht selten von Polypharmazie betroffenen älteren Patienten sind medikamentenbedingte Probleme direkt mit der Anzahl der eingenommenen Substanzen korreliert. Deshalb sollte eine antihypertensive Behandlung immer als Monotherapie begonnen werden. Blutdrucksenkerkombinationen sollten nur erwogen werden, falls von ihnen ein klarer Nutzen zu erwarten ist, der das gleichzeitig damit verbundene Risiko der Substanzen selbst oder einer Ausweitung der Polypharmazie überwiegt. Vor dem Beginn oder einer Ausweitung einer Therapie sollte der Blutdruck mehrfach im Sitzen und in aufrechter Position gemessen und durch von Patienten selbst beziehungsweise zu Hause durchgeführte Messungen (Ausschluss von Weisskittelhypertonie) bestätigt werden. Die NICE-Guidelines schlagen für Heimblutdruckmessungen bei über 80-jährigen Patienten Zielblutdruckwerte von unter 145/85 mmHg, bei jüngeren von 135/85 mmHg vor. Grundsätzlich sollten über 80-Jährigen nicht mehr als drei verschiedene Antihypertensiva gleichzeitig verabreicht werden. Bei Patienten mit sich verschlechterndem funktionellem Status muss die antihypertensive Therapie neu beurteilt werden. Eine individuell zugeschnittene Therapie sollte dabei auch Faktoren wie Präferenzen sowie Lebensumstände, -erwartung und -qualität der Patienten berücksichtigen.
Comprehensive Geriatric Assessment –
Wegweiser zur «massgeschneiderten» Therapie
Mit dem Comprehensive Geriatric Assessment (CGH) steht
eine Methode zur Verfügung, die dabei helfen soll, in der oft
komplexen Versorgungssituation älterer Patienten zu solch
einer individuell angepassten Therapie zu gelangen. CGA ist
definiert als ein multidimensionaler, multidisziplinärer Pro-
zess zur Einschätzung der medizinischen, psychologischen,
sozialen, umfeldbedingten und funktionellen Kapazitäten
der Patienten. Für jede dieser Komponenten existieren ver-
schiedene Screening-Tests sowie andere klinische Bewer-
tungsinstrumente (z.B. interRAI™), welche auch bei ge-
brechlichen Patienten anwendbar sind. Ein umfassendes
CGA ist am wirkungsvollsten, wenn es durch ein multidis-
ziplinäres Team aus Geriater, koordinierender Pflegeperson,
Sozialarbeiter, Physiotherapeut, Ergotherapeut, Psychologe
und wahlweise einem klinischen Pharmakologen implemen-
tiert wird.
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Ralf Behrens
Benetos A et al.: Polypharmacy in the aging patient: management of hypertension in octogenarians. JAMA 2015; 314(2): 170–180.