Transkript
EDITORIAL
Macht Musik
W ohl mehr als von sämtlichen anderen äusseren Reizen wird das Gefühlsleben des Menschen sehr stark von Musik beeinflusst – und umgekehrt. Dies ist eine so universelle und individuell so tief im Wesenskern verankerte, unmittelbar nachvollziehbare Tatsache, dass wir über die zugrunde liegenden psychischen und physischen Prozesse für gewöhnlich kaum nachdenken. Das mag auch daran liegen, dass die strukturierten Tonmuster auf einer vorbewussten Ebene erfasst werden und bereits ebenda ihre emotionale Wirkung entfalten. Schon Neugeborene reagieren auf das Schlaflied, ja sogar Feten bereits auf die Stimme der Eltern, wobei hier wie dort eben nicht die verbalen Inhalte, sondern Melodie und Modulation ausschlaggebend sind. Und dies bleibt uns ein Leben lang erhalten: Mit unserer Sprache mögen wir uns verständlich machen, sinnlich erfahrbar wird sie jedoch erst durch ihren unwillkürlichen Anteil – den Klang unserer Stimme. Bei einem so direkten Effekt auf das Wohlbefinden liegt es nahe, dass Menschen schon sehr früh versucht haben, Musik zur Heilung von Störungen desselben einzusetzen. Bereits Urvölker nutzten durch Rhythmen und Töne heraufbeschworene Trancezustände, um Dämonen zu vertreiben. Im Frühmittelalter finden sich erste gezielte Anwendungen von Musik zur Behandlung von depressiven Gemütszuständen, aber auch von Schmerzen. Und der Dichter Novalis wusste Ende des 18. Jahrhunderts: «Jede Krankheit ist ein musikalisches Problem, die Heilung eine musikalische Auflösung.» Inzwischen ist die Musiktherapie eine anerkannte, eigenständige Heilmethode, die jedoch auch und vielleicht gerade in der von Rationalität geprägten Postmoderne bis anhin noch ein Schattendasein fristete. Im Zeitalter der evidenzbasierten Medizin (EBM) tun sich alternative Behandlungsformen im Allgemeinen und die Kunst- oder Musiktherapie im Besonderen allein deshalb schon schwer, weil sie in Bereichen zum Einsatz kommen, in denen Therapieerfolge schwierig nachzuweisen sind und weil sie ihre Wirkungen über Prozesse entfalten, welche
sich direktem Zugang oder gar der Messbarkeit nicht selten entziehen. Die breite Palette der Anwendungsmöglichkeiten, mit denen sich die moderne Musiktherapie, hauptsächlich im klinischen Setting, neben der Schulmedizin dennoch etablieren konnte, ist beachtlich und reicht von psychischen und psychosomatischen Störungen, wie Depressionen, Phobien, Zwangserkrankungen, Essoder Schlafstörungen, über onkologische oder neurologische Erkrankungen, wie etwa Multiple Sklerose, Parkinson oder Demenz, über geistige Behinderung und Symptome wie Migräne und chronische Schmerzen bis hin zu Sterbebegleitung und Prävention. Wunder sind freilich auch hier nicht zu erwarten. Dass ihre Disziplin allein Krankheiten zu heilen vermöge, sei eine Illusion, meint selbst die Musiktherapeutin Prof. Dr. Susanne Bauer von der Universität der Künste Berlin – vielmehr gehe es um Linderung, Lebensqualität und das Ausschöpfen patienteneigener Entwicklungspotenziale. Einzufordern sind dennoch eine systematischere Beschreibung musiktherapeutischer Methoden, ihrer Durchführung und Anwendung sowie vermehrte, statistisch verlässlichere Belege ihrer Wirksamkeit bei verschiedenen Krankheitsbildern. Aber – vielleicht ebenfalls ein Zeichen der Zeit und einer zum Wohle des Patienten begrüssenswerten Annäherung, wenn nicht gar Verschmelzung der Pole – das Interesse an therapeutischen Alternativen, die sich wissenschaftlichem Anspruch nicht verschliessen, wächst, und deren Protagonisten sind mehr und mehr bestrebt, ihre Forschungsanstrengungen entsprechend auf eine Quantifizierbarkeit der Erfolge hin auszurichten, um endlich aus dem Schatten herauszutreten. Ein jüngstes Beispiel, wie dies gelingen kann, kommt aus dem Bereich der Erholung nach operativen Eingriffen: Eine Arbeitsgruppe von Medizinern aus England, wo der Einsatz der wohltuenden Effekte von Musik auf Patienten im Spital bis in die Zeiten Florence Nightingales zurückreicht, hat im Rahmen einer Metaanalyse von insgesamt 73 randomisierten, kontrollierten Studien nachweisen können, dass Musik jedweder Gattung unabhängig von zeitlichen Vorgaben postoperative Schmerzen und Unruhe lindert, den Schmerzmittelgebrauch senkt und das Wohlbefinden der Patienten steigert (1). Die Musik entfaltet ihre analgetische und anxiolytische Macht demzufolge sogar bei Patienten unter allgemeiner Anästhesie, was eingedenk ihres wie bereits erwähnt vorbewusst zu verortenden Zugriffs nun auch gar nicht weiter überrascht. Verwundern müsste es eher, wenn künftig trotz eines womöglich weiteren Anwachsens solch überzeugender, allen EBM-Kriterien genügender Daten bei der Übernahme der für therapeutische Leistungen anfallenden Kosten durch die Krankenkassen weiterhin mit zweierlei Mass gemessen würde.
Ralf Behrens
1. Hole J et al.: Music as an aid for postoperative recovery in adults: a systematic review and meta-analysis. Lancet 2015 Aug 12. pii: S0140-6736(15)60169-6. doi: 10.1016/ S0140-6736(15)60169-6. [Epub ahead of print].
ARS MEDICI 19 I 2015
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