Transkript
FORTBILDUNG
Frühes Prostatakarzinom
Behandlung bei Senioren und Hochbetagten
Die Indikation zur kurativen Behandlung eines Prostatakarzinoms hängt neben tumorspezifischen Faktoren auch vom Alter des Patienten ab. Bis zu welchem Lebensalter sollen/sollten/können radikale Prostatektomie, externe Radiotherapie oder Low-Dose-Rate-(LDR-)Brachytherapie angewendet werden? Und welche anderen Therapiemöglichkeiten bestehen beim lokalisierten Prostatakarzinom (T1-2 N0 M0) bei Senioren und Hochbetagten?
Hans-Peter Schmid, Dominik Abt und Livio Mordasini
klinisch nie relevant werden. Je älter der Mann, desto höher ist der Anteil an solchen prävalenten PCa, bei 80-Jährigen beträgt er rund 80 Prozent. Um die Indikationsstellung für eine kurative Therapie zu erleichtern, wurde das lokalisierte PCa in Risikogruppen unterteilt (Tabelle 1). Aber nicht nur diese tumorspezifischen Faktoren müssen beim Behandlungsentscheid berücksichtigt werden, sondern gleichermassen auch der Faktor Patient und sein genereller Gesundheitszustand. Die meisten Leitlinien fordern eine vom Karzinom unabhängige Lebenserwartung von mindestens zehn Jahren (2). Die Abschätzung der verbleibenden Lebenszeit ist im individuellen Fall allerdings sehr schwierig, selbst unter Zuhilfenahme von Komorbiditätsklassifikationen wie zum Beispiel dem Charlson-Score.
In der Alterskategorie der 65- bis 80-jährigen Patienten ist die korrekte Indikationsstellung für eine kurative Therapie eine höchst anspruchsvolle ärztliche Aufgabe. Aus Autopsieserien bei Männern ohne bekanntes Prostatakarzinom und aus Operationsserien von Harnblasenkarzinomen, bei denen die scheinbar gesunde Prostata mitentfernt wurde, weiss man, dass 40 Prozent der im Median 65 Jahre alten Patienten ein Prostatakarzinom (PCa) haben (4). Allerdings sind 80 Prozent dieser latenten PCa gut differenziert (Gleason-Score ≤ 6), haben ein niedriges Tumorvolumen (≤ 0,5 cm3) und dürften somit im weiteren Lebensverlauf
MERKSÄTZE
O Die anerkannten, internationalen Leitlinien empfehlen keine Vorsorgeuntersuchungen bei asymptomatischen Männern über 70 Jahren (Vermeidung von Überdiagnosen).
O Das Hochrisikokarzinom (Gleason 8–10) hat selbst im höheren Lebensalter eine nicht unerhebliche Mortalität.
O Beim lokalisierten Prostatakarzinom mit PSA < 50 ng/ml ist keine Hormontherapie angezeigt: Sie verbessert die Prognose im Vergleich zu «Nichtstun» nicht, hat aber Nebenwirkungen.
O Die Indikation für eine lokale kurative Therapie sollte bei über 70-jährigen Patienten mit T1-2 N0 M0 Gleason ≤ 7 gut überlegt und restriktiv gestellt werden (Vermeidung von Übertherapie).
Vermeidung der Überdiagnose
Idealer wäre es, die Diagnose PCa bei Personen, die für eine kurative Therapie im Vorhinein nicht infrage kommen, gar nicht zu stellen (Vermeidung der Überdiagnose). Auf welche Art und Weise der Test auf das prostataspezifische Antigen (PSA) differenziert und sinnvoll in der Vorsorge angewendet werden könnte, zeigt eine prospektive Fallkontrollstudie aus Schweden mit 1167 Männern, die über 25 Jahre lang verfolgt wurden. Betrug das Serum-PSA im Alter von 60 Jahren 1 ng/ml oder weniger, entwickelten nur 0,5 Prozent dieser Männer im späteren Verlauf ein PCa mit Metastasen und lediglich 0,2 Prozent starben an einem PCa (6). Basierend auf den oben dargelegten epidemiologischen Fakten zum PCa wird in der Niedrigrisikogruppe (Tabelle 1) zunehmend das Konzept der aktiven Überwachung praktiziert. Hierbei ist der Tumor zum Zeitpunkt der Diagnosestellung potenziell heilbar, und der Patient hat eine geschätzte Lebenserwartung von mindestens zehn Jahren. Bei späterer Progression des Tumors oder auch auf Patientenwunsch wird dann eine kurative Therapie (radikale Prostatektomie, perkutane Radiotherapie, LDR-Brachytherapie) durchgeführt. Damit wird in der Gruppe der Karzinome ohne Progression eine Übertherapie vermieden. Nicht zu verwechseln mit aktiver Überwachung ist das schon seit Langem bestehende Konzept des Watchful Waiting. Hierfür kommen Patienten mit einem Prostatatumor in jeder Risikogruppe infrage (Tabelle 1), sowohl die potenziell heilbaren als auch die nicht heilbaren. Der Patient hat eine geschätzte Lebenserwartung von unter zehn Jahren. Eine palliative Therapie (meist Androgendeprivation) wird bei Auftreten klinischer Symptome, kurzer PSA-Verdoppelungszeit oder sehr hohem PSA eingeleitet.
700
ARS MEDICI 13 I 2015
FORTBILDUNG
Tabelle 1:
Risikostratifizierung beim lokalisierten Prostatakarzinom (T1-2 N0 M0)
niedrig
PSA ≤10 ng/ml und Gleason-Score <7 und T1-2a
Risiko
intermediär
PSA 10–20 ng/ml oder Gleason-Score = 7 oder T2b
hoch
PSA >20 ng/ml oder Gleason-Score >7 oder T2c-3a
Tabelle 2:
Konservatives Management bei Männern über 65 Jahre mit Prostatakarzinom (PCa) T1-2 N0 M0 (3)
Gleason-Score
Gleason 2–4 Gleason 5–7
10-Jahres-Risiko
PCa-spezifische Mortalität
Risiko, an einer anderen Todesursache zu sterben
8,3%
59,8%
9,1%
57,2%
Gleason 8–10
25,6%
56,5%
Operation versus Watchful Waiting
Die skandinavische prospektive, randomisierte Prostatakarzinomgruppenstudie Nr. 4 (SPCG-4) stellt den Wert der radikalen Prostatektomie bei über 65 Jahre alten Männern infrage. Sowohl das Gesamtüberleben als auch das karzinomspezifische Überleben waren in den Gruppen radikale Prostatektomie und Watchful Waiting nahezu identisch (Abbildung) (1). Da es sich um eine Post-hoc-Subgruppenanalyse handelt, ist ein Selektionsbias allerdings nicht gänzlich ausgeschlossen, zudem ist die mittlere Lebenserwartung seit der Datenerhebung um rund fünf Jahre gestiegen. Jedoch zeigt eine populationsbasierte Kohortenstudie aus dem Register Surveillance Epidemiology and End Results (SEER) eine nicht unerhebliche karzinomspezifische Mortalität bei über 65 Jahre alten Männern mit einem lokalisierten PCa und einem Gleason-Score 8 bis 10 (Tabelle 2) (3). In dieser Patientengruppe mit einem medianen Alter von 78 Jahren wird wahrscheinlich zu selten behandelt.
Hochbetagte
Bei Männern über 80 Jahre – auch wenn sie biologisch jünger erscheinen und topfit sind – ist eine lokale Therapie die absolute Ausnahme. Das zeigen sowohl der klinische Alltag als auch die grossen publizierten Serien, in denen der Anteil der über 80-Jährigen zur radikalen Prostatektomie unter 1 Prozent liegt. Bei der perkutanen Radiotherapie sind zwar das mediane Alter und die Altersspanne etwas höher als bei der Operation, aber der Anteil dieser Männer liegt immer noch im tiefen einstelligen Prozentbereich.
Derzeit läuft in Deutschland eine multizentrische, randomisierte Studie zur Beurteilung der Effektivität und der Nebenwirkungen der vier Behandlungsarme radikale Prostatektomie, perkutane Radiotherapie, LDR-Brachytherapie und aktive Überwachung (7). Über eine Dauer von vier Jahren sollen insgesamt 7600 Patienten mit PCa der Niedrigrisikogruppe und der frühen intermediären Risikogruppe eingeschlossen werden. Diese wichtige PREFERE-Studie verdient die uneingeschränkte Unterstützung aller Ärzte.
Stellenwert der Hormontherapie
Generell sollte bei über 80 Jahre alten Männern primär keine Prostatavorsorgeuntersuchung mehr durchgeführt werden. Leider finden aber auch akzidentelle PSA-Bestimmungen statt, was bei asymptomatischen Patienten aber nicht zu einer Prostatabiopsie führen sollte. Die EORTC-Studie 30 891 (frühe versus verzögerte Hormontherapie beim klinisch lokalisierten PCa, welches nicht kurativ behandelt wird) hat gezeigt, dass ein Nutzen der Androgendeprivation nur bei PSA-Werten über 50 ng/ml und/oder einer PSA-Verdoppe-
Wahrscheinlichkeit Wahrscheinlichkeit
Tod (alle Ursachen), Männer > 65 Jahre
0,7 p = 0,89 (Gray-Test)
0,6
0,5 Radikale Prostatektomie
0,4
0,3
0,2 Watchful Waiting
0,1
0,0 0
3
69
Jahre
12 15
Absolutzahlen (Überlebende)
Radikale Prostatektomie 190 185 166 135 99 42
Watchful Waiting
182 177 162 133 101 42
Tod durch Prostatakarzinom, Männer > 65 Jahre
0,7 p = 0,41 (Gray-Test)
0,6
0,5 Radikale Prostatektomie
0,4
Watchful 0,3 Waiting
0,2
0,1
0,0 0
3
69
Jahre
12 15
Absolutzahlen (Überlebende)
Radikale Prostatektomie 190 185 166 135 99 42
Watchful Waiting
182 177 162 133 101 42
Abbildung: Gesamtüberleben von über 65 Jahre alten Männern, die entweder eine radikale Prostatektomie erhielten oder nur beobachtet wurden (Watchful Waiting) (1)
ARS MEDICI 13 I 2015
701
FORTBILDUNG
lungszeit von unter zwölf Monaten besteht (5). Da die antiandrogene Therapie mit ernsthaften Nebenwirkungen (kardiale Ereignisse, verminderte Glukosetoleranz, Osteoporose, kognitive Einschränkungen) vergesellschaftet ist und mit einem deutlich erhöhten Sturzrisiko einhergeht, setzt man so behandelte Männer auch einem erhöhten Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko aus.
Alternativen
Konsequenterweise sollte man bei den über 80 Jahre alten
Patienten mit klinisch lokalisiertem PCa und nicht stark
erhöhten PSA-Werten auch nicht in einen therapeutischen
Aktivismus verfallen und «ein bisschen etwas» machen
(Kryoablation, irreversible Elektroporation, hochintensiver
fokussierter Ultraschall). Diese Methoden gelten derzeit als
experimentell und entbehren jeglicher höherer Evidenz.
Der gut aufgeklärte betagte Patient wird bei intaktem Patien-
ten-Arzt-Verhältnis verstehen, dass ein reines Watchful
Waiting, bei dem eine Behandlung nur im Falle klinischer
Beschwerden erfolgt, in seiner Situation aufgrund der wis-
senschaftlichen Datenlage am sinnvollsten ist.
O
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. Hans-Peter Schmid Klinik für Urologie Kantonsspital 9007 St. Gallen E-Mail: hans-peter.schmid@kssg.ch
Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert.
Literatur: 1. Bill-Axelson A et al.: Radical prostatectomy versus watchful waiting in early prostate
cancer. N Engl J Med 2011; 364: 1708–1717. 2. Heidenreich A et al.: EAU Guidelines on prostate cancer. Part 1: Screening, diagnosis,
and treatment of clinically localised disease. Eur Urol 2011; 59: 61–71. 3. Lu-Yao GL et al.: Outcomes of localized prostate cancer following conservative
management. JAMA 2009; 302: 1202–1209. 4. Stamey TA et al.: Localized prostate cancer. Relationship of tumor volume to clinical
significance for treatment of prostate cancer. Cancer 1993; 71: 933–938. 5. Studer UE et al.: Using PSA to guide timing of androgen deprivation in patients with
T0-4 N0-2 M0 prostate cancer not suitable for local curative treatment (EORTC 30891). Eur Urol 2008; 53: 941–949. 6. Vickers AJ et al.: Prostate specific antigen concentration at age 60 and death or metastasis from prostate cancer: case-control study. BMJ 2010; 41:c4521. 7. Wiegel T et al.: PREFERE – the German prostatic cancer study: questions and claims surrounding study initiation in January 2013. Urologe A 2013; 52: 576–579.
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 6/2015. Der leicht bearbeitete Nachrdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
702
ARS MEDICI 13 I 2015