Transkript
Fortbildung
Benchmarkbildung in der stationären Depressionsbehandlung
Teil 2: Doppelt so krank heisst viermal so lang?
E.K. Hermann, R. Häusler, E. Hürlimann, W. Lang und R. Vauth
Nachdem Teil 1 dieses Beitrags (Heft 4/2007, S. 21–24) sich mit dem Thema «Wie aussagekräftig ist die Behandlungsdauer?» beschäftigt hat, steht nun die Frage im Mittelpunkt, wie sich die Schwere der Symptomatik bei Behandlungsbeginn auf die Dauer der Behandlung auswirkt. Dabei zeigt sich, dass der Zusammenhang nicht linear, son-
Ergebnisse
Schwere der Erkrankungen und Behandlungsdauer Es zeigt sich, dass die Behandlungsdauer ansteigt, je gravierender der Krankheitszustand bei Eintritt ist. Tabelle 1 gibt einen Überblick über den Zusammenhang von Schwere der Erkrankung und Behandlungsdauer. Bemerkenswert ist, dass die Patienten mit der längsten Verweildauer in der Klinik Meissenberg auch die grössten Effektstärken (ES) aufwiesen. Am längsten blieben die Patientinnen mit der schwersten Eintrittssymptomatik und mit der grössten Effektstärke bezüglich der Behandlung. Es zeigt sich in dieser Analyse, dass ein Vergleich, welcher nur die Behandlungsdauer beachtet, der vielfältigen Graduierung des Krankheitsbilds kaum gerecht wird. Diese Frage, nämlich wie sich eine schwerere Erkrankung auswirkt, ist Gegenstand der zweiten Fragestellung.
dern eher quadratisch zu sein scheint.
Etwas schwerere Symptomatik hat eine
deutlich längere Behandlungsdauer
zur Folge.
Einleitung
D ie Frage, ob sich bei der Behandlung von psychischen Störungen Gesetzmässigkeiten bezüglich der Genesung respektive Rückbildung von Symptomen erkennen lassen, ist seit zirka zehn Jahren Gegenstand einzelner Untersuchungen. Metaanalysen dazu finden sich jedoch nur wenige. Eine davon ist die von Haby et al. aus dem Jahr 2006.
Patientenkollektiv und Methode
In die Untersuchung eingegangen sind 148 Patientinnen aus der Psychiatrischen Klinik Meissenberg (PKM). Die Psychiatrische Klinik Meissenberg hat vor vier Jahren einen störungsspezifischen Behandlungsansatz implementiert und in der Zwischenzeit ein darauf abgestimmtes Qualitätssicherungssystem aufgebaut (10). Die Daten beziehen sich auf 148 Patientinnen aus dem Jahr 2005.
Tabelle 1:
Zusammenhang von Schwere der Erkrankung und Behandlungsdauer
Dauer
Abnahme BDI-Werte Effektstärke
Leichte depressive < 4 Wo Episode (BDI ≤ 22) 20,3 ➞ 7,3 1,5 Leichte depressive 4–7 Wo Episode (BDI > 22)
26,3 ➞ 7,4
1,3
Mittelschwere
8–11 Wo
depressive Episode
27,5 ➞ 9,8
1,4
Schwere depressive mehr als
Episode
11 Wo
28,2 ➞ 13,1
1,7
Total
10–11 Wo 27,3 ➞ 10,6
1,5
BDI = Beck-Depressions-Inventar (normal ≤ 12); Effektstärke (> 0,8: ES = gross)
Schwere der Eintrittssymptomatik und Behandlungsfortschritt
Wie verhält sich die pro Woche erreichbare Veränderung in Abhängigkeit von der Schwere der Symptomatik bei Behandlungsbeginn? Tabelle 2 zeigt die Werte für das Verfahren BDI (Beck-Depressions-Inventar), das Verfahren B-L (Beschwerde-Liste nach van Zerssen) sowie die SCL-90 (Symptom-Check-List) in Abhängigkeit von der Behandlungsdauer. Die linke Spalte zeigt dabei jeweils
21
Psychiatrie 1•2008
Fortbildung
Tabelle 2:
Veränderungen der Rohwerte pro Woche in Abhängigkeit von der Schwere der Eintrittssymptomatik (Stichprobe PKM)
Leichte depressive Störung (BDI ≤ 22)
Leichte depressive Störung (BDI > 22)
Mittelschwere depressive Episode
Schwere depressive Episode
< 4 Wochen Reduktion der Reduktion der körperlichen Reduktion der Depressivität (BDI-Werte) Beschwerden (B-L) Symptombelastung (SCL-90) Total pro Woche Total pro Woche Total pro Woche 13,0 3,3 14,3 3,6 12,7 3,2 4–7 Wochen 18,9 3,4 11,9 2,2 17,4 3,2 8–11 Wochen 17,7 2,0 15,0 1,6 18,8 2,0 > 12 Wochen 15,1
1,3
14,2 1,2
7,3 0,6
22
die Totalveränderung innerhalb des
Behandlungsintervalls, die rechte die pro Woche erreichte Verbesserung. Es zeigt sich, dass bei allen drei
Tabelle 3:
Reduktion des Behandlungseffekts pro Woche in Abhängigkeit von der Schwere der Erkrankung für Patientinnen in der PKM
Variablen Patientinnen mit einer schwereren Erkrankung (und einer daraus resultierenden längeren Verweildauer) pro Woche weniger Fortschritte machen als Patientinnen mit einer leichten Erkrankung. Eine schwerere Eintrittssymptomatik, zum Beispiel um das Doppelte, hat somit nicht
Leichte depressive Episode (BDI ≤ 22)
Leichte depressive Episode (BDI > 22)
Mittlere Ausgangswerte (BDI-Rohwertpunkte)
20,3
ES 1,5
26,3 1,3
ES/Woche Abnahme der ES pro BDI-Rohwert
0,43 0,03
0,24 0,07
eine Verdoppelung der Behandlungsdauer zur Folge, denn, weil die pro
Mittelschwere
27,5
depressive Episode
1,4 0,15
0,02
Woche erreichbaren Veränderungen geringer ausfallen (im Verfahren
Schwere
28,2
depressive Episode
1,7 0,13
B-L beispielsweise betragen sie nur
ein Drittel der Besserung von leicht
depressiven Patientinnen), erfordert sie eine wesentlich, In der Abbildung sind die Variablen BDI und B-L und ihre
überproportional längere Behandlungsdauer.
Veränderung pro Woche in Abhängigkeit von der Schwere
der Erkrankung exemplarisch dargestellt. Der Verlauf
4 macht dabei deutlich, dass bei schwererer Eintrittssym-
3,5 ptomatik die pro Woche erreichbaren Fortschritte klei-
Veränderung Rohwertpunkt pro Woche
3 ner ausfallen. Eine unidimensionale Benchmarkbildung
würde somit dem Effekt der unterschiedlichen Reagibi-
2,5
lität in Abhängigkeit von der Schwere der Eintrittssym-
2
ptomatik nicht gerecht werden.
1,5 Tabelle 3 zeigt in den Spalten 1 und 2 die Ausgangswerte so-
1
BDI B-L 0,5
wie die Effektstärken. Spalte 3 zeigt dann, um wie viel sich die Effektstärke pro Behandlungswoche reduziert. Dieser Wert
0 sehr leicht
leicht
mittelschwer
schwer Schwere der Erkrankung
Abbildung: Veränderung in Rohwertpunkten pro Woche – in Abhängigkeit von der Schwere der
Erkrankung
rechnet sich, indem die Differenz zwischen erster und zweiter Zeile von Spalte 3 durch die Differenz von erster und zweiter Zeile von Spalte 1 dividiert wird. Der so resultierende Kennwert ist dann in Spalte 4 dargestellt. Sinngemäss wird dies dann für die Zeilen 3 und 4 fortgeführt.
Psychiatrie 1•2008
Fortbildung
Für eine sehr leichte depressive Episode kann pro Woche eine Reduktion der Symptomatik in der Grössenordnung von 0,43 Effektstärken erreicht werden. Bei einer schweren depressiven Episode sind es noch 0,13 Effektstärken pro Woche. Spalte 4 schliesslich zeigt die Abnahme der Effektstärke pro BDI-Rohwertpunkt. Von einer sehr leichten zu einer leichten depressiven Episode beträgt die Abnahme 0,03 Effektstärken, von einer leichten zu einer mittelschweren 0,07 und von einer mittelschweren zu einer schweren depressiven Episode 0,02 Effektstärken pro BDI-Rohwertpunkt.
Diskussion
Im Beitrag wurde der Frage nachgegangen, ob unabhängig von der Schwere der Eintrittssymptomatik ein vergleichbarer Effekt innerhalb des gleichen Behandlungsintervalls erreicht werden kann. Hier wurde aufgezeigt, dass schwere Erkrankungen nicht nur proportional länger benötigen, sondern insofern ein Multiplikationseffekt besteht, als schwerere Erkrankungen weniger rasch und weniger stark auf die Behandlung ansprechen. Zwar erreichen auch schwer Kranke eine Verbesserung, welche derjenigen von leicht bis mittelschwer Kranken entspricht. Um jedoch den gleichen Effekt zu erreichen,
dauert es bis zu dreimal länger. Gesetzmässigkeiten wie die vorstehend beschriebenen sind zurzeit weder allseits etabliert noch bekannt. Bevor also eine Benchmarkbildung reduktionistisch anhand unidimensionaler Qualitätsindikatoren (wie im Beispiel hier anhand der blossen Behandlungsdauer) vorgenommen wird, sind zum Beispiel Fragen der Effektivität von Behandlungen in Abhängigkeit von der Schwere der Eintrittssymptomatik genauer zu erforschen. Diese Forderung gilt selbstverständlich für Behandlungen in der ambulanten Praxis gleichermassen – auch dort fehlen die für eine Kostengutsprache erforderlichen Referenzwerte! Vergleicht man die in der Literatur von Haby et al. (11) referierten 0,02 Effektstärken, welche pro Woche Behandlung gewonnen werden, so bleibt dies deutlich hinter den Effektstärken zurück, die im stationären Setting erreichbar sind. Hier konnten wir für Patienten mit einer ersten depressiven Episode Effekte zwischen 0,13 und 0,19 pro Woche errechnen. Für rezidivierende depressive Episoden betragen die Veränderungen 0,12 Effektstärken minimal, respektive 0,16 maximal. Unter stationären Bedingungen wird somit pro Tag ein Effekt erreicht, wie er unter ambulanten Bedingungen in einer Therapiewoche erreicht wird.
Psychiatrie 1•2008
23
Fortbildung
24
In der vorliegenden Studie, die stationäre Bedingungen abbildet, hatte eine schwerere Eintrittssymptomatik zur Folge, dass die Behandlung auch länger dauerte. Obwohl der Behandlungseffekt insgesamt auch bei schwererer Eintrittssymptomatik nicht abnahm, ja bei der Gruppe mit einer schweren depressiven Episode mit 1,7 sogar über dem Effekt der Gruppe mit einer leichten depressiven Episode (1,5) lag, findet sich eine sinngemässe Bestätigung der Befunde von Haby et al. Während bei leichten depressiven Episoden pro Woche eine Effektstärke von 0,43 erreicht wird, sinkt der Therapieeffekt pro Woche bei der Gruppe mit einer schweren depressiven Episode auf 0,13 Effektstärken pro Woche. Dies entspricht auch den Befunden einer Zürcher Untersuchung von Lauber, Lay und Rossler im Jahr 2006 (13). Weiter zeigten schon frühere Studien zur Verkürzung stationärer Verweildauer bei resistenter Symptomatik (slow response), dass diese mit höherer Restsymptomatik bei Entlassung und damit ungünstigeren poststationären Verläufen erkauft wird (Liebermann et al. [14], Gostautas et al. [6]). Nicht direkt vergleichbar sind die berichteten Veränderungen des Therapieeffekts in Abhängigkeit von der Schwere der Eintrittssymptomatik. Unter ambulanten Bedingungen wird eine Reduktion um 0,09 Effektstärken Standard je BDI-Rohwertpunktzunahme berichtet. Analog zu den kontrollierten Studien zeigt sich, dass eine Zunahme der Schwere der Eintrittssymptomatik auch mit einer Reduktion der Effektstärke, welche pro Woche erreicht werden kann, einhergeht. Diese Reduktion variiert dabei zwischen 0,02 und 0,07 Effektstärken pro BDIRohwertpunkt. Diese Werte liegen etwas unter den 0,09 Effektstärken, wie sie für kontrollierte Studien berichtet wurden. Übereinstimmend allerdings zeigt sich, dass ein häufig zu beobachtendes statistisches Gesetz (je schwerer die Symptomatik, umso grösser der Effekt) hier nicht stimmt. Die natürliche Regression zur Mitte findet bei depressiven Erkrankungen genau nicht statt, hier ist ein inverser Effekt festzustellen: je schwerer die Symptomatik bei Eintritt, umso langwieriger ist der Behandlungsverlauf und umso schwieriger ist es, überhaupt eine Verbesserung zu erreichen.
cher sich hinter der gleichen Diagnose verbirgt, berück-
sichtigt werden. Gleiches sollte mit Gleichem verglichen
werden, sonst sind die Kennwerte wie Behandlungs-
dauer unbrauchbar.
Eine weitere Fragestellung, die sich ableitet, ist, ob eine
lange Behandlungsdauer überhaupt sinnvoll ist, oder
ob es eine Art «Grenznutzen» gibt, dass also ab einem
bestimmten Zeitpunkt respektive Ausmass der Symptom-
reduktion keine weitere Verbesserung mehr folgt. Dieser
Fragestellung wird in Teil 3 nachgegangen.
■
Für die Autoren: PD Dr. phil. Ernst Hermann Privatdozent für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Basel Psychiatrische Klinik Meissenberg
6301 Zug
Interessenkonflikte: keine
Wir danken Frau F. Kräuchi für die akribische Erstellung des Manuskripts und des Jahresberichts der Psychiatrischen Klinik Meissenberg.
Literatur kann beim Verfasser bestellt werden. Ebenso kann dort auch das Kapitel «Material und Methode» in der ausführlichen Form bestellt werden.
Schlussfolgerungen und Ausblick
Die Untersuchung war der Frage gewidmet, ob leichtere und schwerere Erkrankungen die gleiche Charakteristik aufweisen. Hier zeigte sich, dass der Behandlungsfortschritt umso geringer ausfällt, je schwerer die Erkrankung ist. Eine doppelt so schwere Symptombelastung braucht daher nicht doppelt so lange, sondern ein Mehrfaches an Zeit und Aufwand. Die Behandlung von leichten, mittelschweren und schweren depressiven Episoden zeigt nicht eine lineare Veränderung, sondern verhält sich eher quadratisch. Will man also Behandlungsverläufe vergleichen, so muss auch der Patientenmix, wel-
Psychiatrie 1•2008