Transkript
FORTBILDUNG
Antidepressivatherapie bei Frauen
Geschlechtsspezifische Aspekte der Pharmakotherapie
Die immer intensivere Erforschung unterschiedlicher
Konsequenzen der Geschlechtszugehörigkeit in fast
allen Lebensbereichen hat der Frau von heute eine
neue evidenzbasierte Identität gegeben. Sie
bestätigt die Eigenständigkeit des weiblichen Wesens
und Besonderheiten ihrer körperlichen und neuro-
nalen Strukturen sowie physiologischer und meta-
bolischer Prozesse. Diese sind auch für Verhaltens-
muster, Affekt, Ausdrucksformen und Reaktivität be-
stimmend und von Bedeutung, gerade wenn es sich
um psychische Krankheitsbilder handelt. Auch für die
medikamentöse Behandlung spielen geschlechts-
spezifische Merkmale eine grosse Rolle, welche am
Beispiel der Antidepressiva erläutert werden.
ALEXANDRA DELINI-STULA
Jahrhunderte lang herrschte nicht nur bei der Bevölkerung, sondern auch in der Medizin die Vorstellung von einem dem Mann untergeordneten weiblichen Wesen sowohl in Bezug auf körperliche Funktionen als auch im Hinblick auf Hirnleistungen vor. Dieser «Androzentrismus» und die Betrachtung der Frau als eine sozusagen «minderwertige Ausgabe von Mannsein» mit anderen Reproduktionsorganen und Funktionen blieb nicht ohne Einfluss auf die Entwicklung diagnostischer und therapeutischer Prozesse sowie auf die Forschung und Entwicklung von Arzneimitteln. Der Mann galt als Massstab und Prototyp bei der Suche nach wissenschaftlichen und medizinischen Lösungsansätzen, für das Verständnis der Ätiologie und Pathophysiologie der Krankheiten sowie für deren Bewältigung. In tierexperimentellen
Untersuchungen, die der Charakterisierung pharmakologischer Präparateeigenschaften dienen, werden auch heute noch – mit wenigen Ausnahmen (Toxikologie) – fast ausschliesslich männliche Tiere verwendet. Die Befunde aus klinischen, therapieorientierten Studien werden mehrheitlich global ermittelt, ohne Rücksicht auf das Geschlecht. Spezifische Daten über potenziell unterschiedliche therapeutische Profile, Wirksamkeit und Verträglichkeit von Medikamenten bei Frauen und Männern sind noch spärlich. Sogar in der medizinischen Versorgung werden frauenspezifische Kommunikationsarten, Verhaltensmuster, Krankheitsäusserungen, Risikofaktoren, Stoffwechseleigenschaften und Gewohnheiten in der Praxis nicht immer berücksichtigt und mitunter bagatellisiert. Schon in der Kommunikation mit dem Arzt haben Frauen und Männer grundsätzlich unterschiedliche Erwartungen und Vorstellungen (1) (Tabelle 1). Werden diese im Kommunikationsprozess nicht erfüllt oder enttäuscht, ist auch der Therapieerfolg allgemein kompromittiert. Auch in der medikamentösen Behandlung spielen frauenspezifische Merkmale eine Rolle, da sie die Verteilung von Substanzen im Organismus, deren Metabolisierung und Elimination beeinflussen. Die Merkmale, die besonders bei der Therapie mit Antidepressiva von Bedeutung sein können, sind in Tabelle 2 zusammengefasst. Fast alle synthetischen Antidepressiva sind stark lipophile Präparate, die allgemein aus dem Magen-Darm-Trakt gut resorbiert werden. Aus Darmzellen werden sie via P-Glukoprotein, einen Membrantransporter, in das Blut sezerniert. P-Glukoprotein ist auch an Endothelzellen zerebraler Gefässe lokalisiert.
Merksätze
■ Antidepressiva-Plasma-Spiegel können bei Frauen höher sein.
■ Insgesamt scheinen Nebenwirkungen einer Antidepressivatherapie bei Frauen häufiger vorzukommen.
■ Bei prämenopausalen Frauen könnten SSRI wirksamer sein als bei Männern, die Befunde sind aber noch kontrovers.
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A N T I D E P R ESS I VAT H E RA P I E B E I F RAU E N
Tabelle 1: Unterschiedliche kommunikative und Tabelle 1: therapeutische Erwartungen aus Tabelle 1: Patientinnen- und Arztsicht
Aus der Sicht der Patientin – Erwartungen betreffend Verstehen und Einsicht – Erwartungen betreffend Vertrauen und Unterstützung – Vorstellungen betreffend Medikation und richtiger Dosis – Auswirkungen auf das Gewicht beziehungsweise das Essverhalten – mögliche Auswirkungen auf das Sexualleben – mögliche Gefahr im Falle der Schwangerschaft
Aus der Sicht des Arztes – Erwartung wahrheitsgemässer Angaben – Vorstellungen betreffend Wahl der optimalen Behandlung – Erwartungen betreffend Compliance – Erwartungen betreffend eines schnellen Therapieerfolgs
nach Bitzer J. in: Frauengesundheit, Hrsg: A. Riecher-Rössler und J. Bitzer, 2005
Eine verminderte Aktivität des endothelialen P-Glukoproteins steigert die Konzentrationen einiger Antidepressiva im Gehirn (z.B. bei Amitriptylin oder Citalopram, nicht jedoch bei Fluoxetin). Das Verteilungsvolumen, das bei Frauen höher als bei Männern sein kann, ist durch eine starke Bindung an Gewebeproteine bedingt. Der Abbau von Antidepressiva erfolgt überwiegend in der Leber durch Enzyme der mikrosomalen Zytochrom-P-450-(CYP-)Enzym-Familie sowie auch in anderen Organen (Darm), die diese Enzyme enthalten. Antidepressiva
Tabelle 2: Für den Einsatz von Antidepressiva Tabelle 2: behandlungsrelevante Merkmale von Tabelle 2: Frauen im Vergleich zu Männern
– Antidepressivaresorption grösser – Verhältnis Körperfett/Muskeln höher – Verteilungsvolumen kann höher sein – Plasmaspiegel kann höher sein – Progesteroneffekt steigert mikrosomale und MAO-enzymatische
Aktivität* – Östrogeneffekt reduziert mikrosomale und MAO-enzymatische
Aktivität – Metabolische Prozesse**
– höhere CYP2D6-Aktivität – niedrigere P-Glukoprotein-Aktivität – niedrigere CYP2E1-Aktivität – Magensekretion niedriger – renale Elimination 10% niedriger
*Abnahme der Noradrenalin-, 5-HT- und Dopaminkonzentrationen **altersbedingte Unterschiede wahrscheinlich
können Substrate, aber auch potente Inhibitoren einzelner CYP-Enzyme sein. Unterschiede beziehungsweise Instabilität der enzymatischen Aktivität der einzelnen Zytochrom-P-450Oxidasen, wie sie bei Frauen auch unter hormonellen Einflüssen vorkommen können, haben darum Einfluss auf den Stoffwechsel der Antidepressiva und ihre Plasmakonzentrationen. So wurden beispielsweise zwischen Trizyklika (Clomipramin) und Serotoninwiederaufnahme-Hemmern (SSRI) signifikante Unterschiede der Plasmakonzentrationen bei Männern und Frauen in einigen Studien berichtet. Bei mit Fluvoxamin behandelten Frauen (2) fand man Plasmaspiegel, die um 70 bis 100 Prozent und bei mit Sertralin behandelten Frauen (3) fand man Plasmaspiegel, die um 50 bis 70 Prozent höher lagen als bei Männern.
Konsequenzen für die Praxis Wenn auch bei den meisten Antidepressiva zwischen dem Plasmaspiegel und der therapeutischen Effizienz keine enge Korrelation nachgewiesen werden konnte, ist ihre Relevanz bezüglich (limitierender) Verträglichkeit offensichtlich. Insgesamt scheint bei Frauen die Inzidenz der Nebenwirkungen häufiger und schwerwiegender zu sein als bei Männern, allerdings gibt es auch hier nur wenige Studien, in welchen mehrere Antidepressiva im Vergleich hinsichtlich ihrer geschlechtsspezifischen Verträglichkeitsprofile untersucht worden sind. In der Praxis ist es auf jeden Fall ratsam, bei Frauen an Dosisanpassungen unter Berücksichtigung des hormonalen Haushalts zu denken (Behandlung mit oralen Kontrazeptiva, Schwangerschaft, Prä- und Postmenopause).
Studiendaten Erst in den letzten Jahren wurden vermehrt Studien zur geschlechtsspezifischen therapeutischen Ansprechbarkeit auf Antidepressiva bei Frauen und Männern durchgeführt. Die Befunde sind noch kontrovers. In einigen Studien wurde kein Unterschied zwischen den Geschlechtern bezüglich der Ansprechbarkeit auf SSRI (Fluoxetin) und Trizyklika gefunden. In anderen fand man höhere Responseraten bei mit SSRI (Sertralin) behandelten Frauen als bei Männern sowie umgekehrt eine bessere Wirksamkeit der Trizyklika (Imipramin) bei Männern. Ähnliche Resultate erbrachte ein Vergleich der Wirkung von Fluoxetin und Maprotilin. Die Analyse der Befunde nach Alter zeigte, dass Fluoxetin nur bei prämenopausalen Frauen (< 40 Jahre) signifikant besser wirkt als bei Männern, während dies für Frauen über 40 Jahre nicht zutrifft. Pinto-Meza und Mitarbeiter (4) fanden bei 242 untersuchten Frauen, dass die Menopause die Ansprechbarkeit auf SSRI (Citalopram, Fluoxetin, Paroxetin, Sertralin) negativ beeinflusst. Unsere eigene Metaanalyse der Daten (n = 1300) aus vergleichenden Studien zu Milnacipran, einem dual wirkenden Antidepressivum (nicht eingeführt in der Schweiz), und SSRI ohne Berücksichtigung des Alters, zeigte einen signifikant geringeren antidepressiven Effekt der SSRI bei Frauen (gemessen anhand HAMD-Skala und Remissionsrate) (5; sowie unpublizierte Daten). Im Gegensatz zu SSRI war die Wirksamkeit von
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FORTBILDUNG
Tabelle 3: Einige Unterschiede zwischen Tabelle 3: männlichen und weiblichen Tabelle 3: Hirnstrukturen
Bei Frauen ist – der Nucleus suprachiasmaticus (SCN), das Amygdalavolumen und
der Corpus calosum grösser – die anteriore Kommissur zirka 12% grösser – die Massa intermedia häufiger und um 53% grösser – die funktionelle Hemisphärenasymmetrie kleiner und teilweise
hormonellen Schwankungen unterworfen – die Dichte der 5-HT1A-Rezeptoren grösser – die Konzentration an 5-HT-Transportern niedriger
Milnacipran bei beiden Geschlechtern gleich. Interessant ist, dass auch andere bisher durchgeführte Studien mit dual wirkenden Antidepressiva, entweder selektiven (Venlafaxin, Duloxetin) oder nicht selektiven (Mirtazapin), keine Unterschiede zwischen Frauen und Männern bezüglich Ansprechbarkeit auf die Therapie fanden. Ob diese Kontroversen betreffend die therapeutische Effizienz der SSRI auch mit spezifischen Merkmalen des serotoninergen Systems bei Frauen zusammenhängen, ist eine offene Frage. Die lokale zerebrale Synthese von Serotonin ist bei Frauen um 10 bis 20 Prozent höher als bei Männern. Unterschiede zwischen Männern und Frauen bezüglich der 5-HT-Transporter und der Dichte der 5-HT1A-Rezeptoren im Gehirn sind bekannt. Die Beeinflussung zerebraler Neurotransmitterprozesse durch Östrogene spielt dabei wahrscheinlich ebenfalls eine Rolle.
Schlussfolgerungen
Anhand dieser kurzen Übersicht wird offensichtlich, dass spe-
zifische Aspekte der Pharmakotherapie mit Antidepressiva bei
Frauen noch weiter erforscht werden müssen, um in der Praxis
eine möglichst optimale Behandlungsstrategie zu ermög-
lichen. Vorderhand sind vor allem relevante geschlechtsspezi-
fische pharmakokinetische Unterschiede sowie die pharmako-
kinetischen Eigenschaften der Antidepressiva als wichtige Kri-
terien für die Wahl der Therapie zu betrachten.
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Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. Alexandra Delini-Stula ADI International Institute for Advancement
of Drug Development Mittlere Strasse 2 4056 Basel Tel. 061-263 37 70 Fax 061-263 37 72
E-Mail: Delini-Stula@gmx.ch
Interessenkonflikte: keine
Literatur: 1. Bitzer J., in: Frauengesundheit. Hrsg. A. Riecher-Rössler, J. Bitzer. Elsevier GmbH, Verlag Urban &
Fischer, ISBN 3-437-22116-7, 1. Auflage 2005. 2. Härtter S., Wetzel H., Hammes E., Torkzadeh M., Hiemke C.: Nonlinear pharmacokinetics of
fluvoxamine and gender differences. Ther Drug Monit 1998; 20(4): 446–449. 3. Ronfeld R.A., Tremaine L.M., Wilner K.D.: Pharmacokinetics of sertraline and its N-demethyl meta-
bolite in elderly and young male and female volunteers. Clin Pharmacokinet 1997; 32 (Suppl 1): 22–30. 4. Pinto-Meza A. et al.: Gender differences in response to antidepressant treatment prescribed in primary care. Does menopause make a difference? J Affect Dis 2006; 93 (1–3): 53–60. 5. Delini-Stula A.: Milnacipran: an antidepressant with dual selectivity of action on noradrenaline and serotonin uptake. Human Psychopharmacology 2000; 15: 2255–2260.
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