Transkript
INTERVIEW
Abgerissene Gliedmasse in Eisbeutel stecken!
Ein Interview mit dem Münchner Chirurgen Edgar Biemer über Erste Hilfe am Unfallort
Wer bei einem Unfall eine Gliedmasse verliert, sollte die Hoffnung nicht vorschnell aufgeben. In spezialisierten Zentren lassen sich heute abgetrennte Hände und Finger oft erfolgreich wieder annähen. Um bei einer solchen chirurgischen Prozedur für optimale Erfolgschancen zu sorgen, sollte die abgetrennte Gliedmasse möglichst gekühlt in die Klinik transportiert werden, wozu sich in vielen Fällen ein simpler Eiswasser-Beutel anbietet. Wichtig ist es allerdings, dass es zu keinem direkten Kontakt zwischen Amputat und Eis oder zwischen Amputat und Wasser kommt. Sonst seien Gewebeschäden vorprogrammiert, die eine erfolgreiche Replantation gefährden können, betont Professor Dr. Edgar Biemer von der Praxisklinik Dr. Caspari in München, ehemaliger Leiter der Abteilung für Plastische, Rekonstruktive und Ästhetische Chirurgie der Technischen Universität München.
ARS MEDICI: Herr Prof. Biemer, welche Körperteile sind bei Amputationsverletzungen am häufigsten betroffen? Prof. Edgar Biemer: Über 90 Prozent der Amputationsverletzungen betreffen die Hand. Amputationen der Finger sind dabei am häufigsten. Bei den restlichen 10 Prozent handelt es sich zum Beispiel um Skalpierungen, Gesichtsabbisse bei Hundeangriffen oder um Grossamputationen der unteren oder oberen Extremität.
ARS MEDICI: Bei welcher Gelegenheit kommt es am häufigsten zu verletzungsbedingten Amputationen? Biemer: Früher handelte es sich bei zwei Dritteln der Amputationsverletzungen um Unfälle am Arbeitsplatz. Mittlerweile werden allerdings viele gefährliche Arbeitsschritte von Robotern oder anderen Maschinen übernommen. Kaum jemand schiebt heute zum Beispiel noch Werkstücke von Hand in eine 2000-Tonnen-Presse. Aus diesem Grund stammt der Grossteil der Amputationsverletzungen heute aus dem Privatbereich, wobei Kreissägenverletzungen am häufigsten sind.
«Das Amputat soll nicht am Unfallort gereinigt werden.»
ARS MEDICI: Wie sollte man eine Amputationsverletzung am Unfallort versorgen? Biemer: Wenn es sich um eine Extremitätenverletzung handelt, stillt man als Erstes die Blutung des verbliebenen Stumpfes durch Kompression und Hochlagern. Das Amputat sollte gekühlt in die Klinik transportiert werden, wodurch sich die Ischämietoleranz des Gewebes verlängern lässt. Am besten eignen sich dafür vorgefertigte Doppelbeutel, die in jedem Rettungswagen vorhanden sind und aus einem sterilen Innenbeutel für das Amputat und einem Aussenbeutel bestehen, der zur Kühlung mit Eiswasser gefüllt wird. Ist ein solcher Doppelbeutel nicht verfügbar, kann man sich mit einem einfachen Plastikbeutel behelfen, wie er in jedem Haushalt zu finden ist. Das Amputat wird nach Möglichkeit in ein paar sterile Kompressen oder einen sterilen Handschuh gewickelt und unten in den Beutel gelegt. Dann wird der Beutel in der Mitte zusammengeknotet und der Rest des Beutels nach aussen umgeschlagen, sodass ein Doppelbeutel entsteht, in dessen äusseren Teil kaltes Wasser zusammen mit ein paar Eiswürfeln gefüllt wird. Um Kälteschäden zu verhindern, muss streng darauf geachtet werden, dass das Amputat nicht direkt mit dem Eis in Kontakt kommt. Um das zu verhindern, können während des Transports zum Beispiel auch leichte Bewegungen des Beutels sinnvoll sein. Zudem darf das Amputat auf keinen Fall in Wasser gelegt werden, da es sonst zur Quellung des Gewebes kommen kann.
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ABGERISSENE GLIEDMASSE IN EISBEUTEL STECKEN!
Chirurgen entschieden werden kann. Ausserdem lassen sich Amputate manchmal auch zur Rekonstruktion anderer verletzter Körperteile des Patienten verwerten.
ARS MEDICI: Wie gross sind heute die Erfolgschancen einer
Replantation?
Biemer: Die Erfolgschancen einer Replantation hängen stark
von der vorliegenden Amputation ab. Bei der Replantation
von Fingern ist zum Beispiel je nach Verletzungsschwere mit
einer Erfolgsquote von ungefähr 75 Prozent zu rechnen, in der
eine gute bis ausreichende Muskelkraft und Beweglichkeit mit
normaler oder annähernd normaler Sensibilität erreicht wird.
Bei Replantationen der Hand sind es etwa 50 Prozent.
Deutlich schlechter sind die Erfolgschancen dagegen bei
Grossamputaten wie etwa einer Unterschenkel- oder Ober-
armabtrennung, da Grossamputationen meist als Folge von
schweren Unfällen zum Beispiel im Strassenverkehr auftreten
und deshalb häufig noch weitere lebensbedrohliche Verlet-
Prof. Dr. med. Edgar Biemer
zungen wie etwa Schädelhirntraumen oder gefährliche Verletzungen im Bauch- und Thoraxbereich vorliegen, deren Ver-
sorgung immer Vorrang hat.
Für Probleme sorgt bei Grossamputaten auch oft die umfang-
reiche Muskulatur, die bei längeren Ischämiezeiten schnell
Die Reinigung des Amputats beziehungsweise die Entfernung nekrotisch werden kann. Wenn man bei einer solchen Re-
von Fremdkörpern sollte nicht am Unfallort erfolgen, sondern plantation dann schliesslich den Blutkreislauf wiederherstellt,
erst in der Klinik unter mikroskopischer Sicht, um keine zu- kann es zur Einschwemmung toxischer Muskelabbaupro-
sätzlichen Läsionen oder Verschmutzungen zu verursachen. dukte in den Blutkreislauf kommen, infolgedessen der Patient
Auf keinen Fall darf das Amputat mit Alkohol, Iod oder möglicherweise noch auf dem OP-Tisch stirbt. Aus diesem
anderen Substanzen desinfiziert werden. Denn
Desinfektionsmittel dringen in die offenen Ge-
fässstümpfe ein und können dort die Intima
beschädigen, sodass die Gefässe später bei der
Foto: Dr. Marx Medizintechnik GmbH
Replantation drastisch zurückgekürzt werden
müssen und eine stark verkürzte Gliedmasse
die Folge sein kann.
Grundsätzlich sollte man dabei bedenken, dass
die Verschmutzung des Amputats eher eine
untergeordnete Rolle spielt und in der Praxis fast
vernachlässigt werden kann. Sollte es nach der
Replantation zu einer Infektion kommen, dann sind fast immer Krankenhauskeime verantwortlich, die meist wesentlich aggressiver sind als von draussen eingeschleppte Erreger.
Abgetrennte Gliedmassen sollten gekühlt in die Klinik gebracht werden. Dafür sind z.B. kommerzielle Replantationsbeutel mit Innenund Aussenbeutel geeignet. Im Notfall kann man sich aber auch mit einfachen Plastikbeuteln behelfen, wie sie in jedem Haushalt vorhanden sind.
ARS MEDICI: Sind extrem beschädigte Amputate direkt vor Ort zu entsorgen oder müssen diese zusammen mit dem Patienten in die Klinik transportiert werden? Biemer: Prinzipiell sollten Amputate immer zusammen mit dem Patienten in die Klinik gebracht werden. Das ist zum einen aus juristischer Sicht verpflichtend. Zum anderen können auch chancenlos erscheinende Amputate oft noch replantiert werden, was im Zweifelsfall erst im Krankenhaus von einem erfahrenen
Kreissägenverletzung bei einem 38-jährigen Mann Foto: Prof. Biemer
Ergebnis vier Jahre später Fotos: Prof. Biemer
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INTERVIEW
Fazit für die Praxis
■ Über 90% der Amputationsverletzungen betreffen die Hand, wobei Amputationen der Finger am häufigsten sind. ■ Der Grossteil der Amputationsverletzungen stammt aus dem Privatbereich. Oft handelt es sich zum Beispiel um Kreissägenverletzungen. ■ Als Erstmassnahme am Unfallort sollte man die Blutung des verbliebenen Stumpfes durch Kompression und Hochlagern stillen. ■ Das Amputat sollte gekühlt in die Klinik gebracht werden, z.B. mit einem kommerziell erhältlichen Doppelbeutel, der aus einem sterilen
Innenbeutel für das Amputat und einem Aussenbeutel besteht. ■ Alternativ kann man sich mit einem einfachen Plastikbeutel behelfen, in den das Amputat (z.B. in sterile Kompressen eingewickelt) gelegt
wird. Den Beutel in der Mitte zusammenknoten und den Rest des Beutels nach aussen umschlagen, sodass ein Doppelbeutel entsteht. In den äusseren Teil kaltes Wasser zusammen mit ein paar Eiswürfeln füllen. ■ Wichtig ist, dass kein direkter Kontakt zwischen Eis und Amputat besteht. ■ Die Reinigung des Amputats nicht am Unfallort durchführen, sondern erst in der Klinik unter mikroskopischer Sicht, um keine zusätzlichen Läsionen zu setzen. ■ Das Amputat auf keinen Fall mit Alkohol oder anderen Substanzen desinfizieren, da Desinfektionsmittel, die in die offenen Gefässstümpfe eindringen, die Intima beschädigen können. ■ Amputate sollten unabhängig vom Zustand immer zusammen mit dem Patienten in die Klinik gebracht werden. Auch chancenlos erscheinende Amputate können oft noch replantiert werden. ■ Die Erfolgschancen einer Replantation hängen von der Verletzungsschwere ab. Bei Fingern kann die Quote zum Beispiel 75% betragen. ■ Deutlich schlechter sind die Erfolgschancen dagegen oft bei Grossamputaten wie etwa einer Unterschenkelabtrennung, da diese häufig als Folge von schweren Unfällen zum Beispiel im Strassenverkehr auftreten und dann teilweise noch weitere lebensbedrohliche Verletzungen vorliegen.
Grund hat man bei Grossamputaten für die Replantation maximal 5 bis 6 Stunden Zeit, während man Finger, die ja kein Muskelgewebe besitzen, unter optimalen Bedingungen noch nach 12 bis 18 Stunden erfolgreich replantieren kann. Einen sehr grossen Einfluss auf die Erfolgschancen hat auch der jeweilige Verletzungsmechanismus. Die besten Ergebnisse werden bei glatt abgetrennten Körperteilen erzielt, also zum Beispiel bei einem Finger, der mit einem Beil oder Fleischermesser abgehackt wurde. Deutlich ungünstiger sind dagegen quetschungsbedingte Amputate oder herausgerissene Glied-
massen, die den Operateur vor eine viel grössere Heraus-
forderung stellen können.
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Das Interview führte Dr. med. Karl Eberius freier Medizinjournalist, Texter
E-Mail: K.Eberius@Medizinjournalist.com Internet: www.medizinjournalist.com
Interessenkonflikte: keine
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