Transkript
INTERVIEW
«Subklinische Formen der Schizophrenie sind in der Bevölkerung weitverbreitet»
Ein Gespräch mit Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Wulf Rössler, Direktor an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, über neue Forschungsergebnisse, die auf eine überraschend hohe Prävalenz von subklinischen psychotischen Störungen in der Bevölkerung hindeuten.
ARS MEDICI: Herr Professor Rössler, Sie haben im Sommer mit Ihren Kollegen zwei Studien zum Auftreten psychotischer Störungen in der Bevölkerung veröffentlicht. Was war ihr Anliegen dabei? Professor Rössler: In der Cannabis-Studie haben wir untersucht, ob in den Zeiten einer Liberalisierung des Cannabiskonsums in den Neunzigerjahren im Kanton Zürich die Zahl der Schizophrenie-Ersterkrankungen in stationären Einrichtungen anstieg. Obwohl diese Untersuchung quer durch die nationale und internationale Presse ging und einen Riesenwirbel verursacht hat, war für mich die zweite, weniger beachtete Studie die wissenschaftlich interessantere. Dabei ging es um subklinische psychotische Störungen in der Allgemeinbevölkerung, also psychotische Störungsbilder, die nicht die Schwelle der Diagnose Schizophrenie erreichen. In dieser Kohortenstudie haben wir eine repräsentative gesunde Bevölkerungsgruppe, beginnend im Alter von 19 oder 20 Jahren, über einen langen Zeitraum begleitet. Die vorliegenden Analysen haben wir aus der Nachbeobachtung der ersten 20 Jahre gemacht, der 30-Jahre-Follow up ist aber auch schon in Sicht.
ARS MEDICI: Das heisst, Sie standen die ganze Zeit in Kontakt mit den Freiwilligen? Rössler: Wir führten und führen in Abständen von mehreren Jahren immer wieder Interviews mit allen Teilnehmern durch. Dadurch hatten und haben wir die einmalige Möglichkeit, verschiedenste äussere Einflüsse auf psychische Störungen, aber auch, was Menschen gesund hält, über eine lange Zeit hin zu analysieren.
ARS MEDICI: Wie machen sich die von Ihnen erwähnten subklinischen Störungen bei den Leuten bemerkbar? Rössler: Wir konnten hauptsächlich zwei schizophrenieähnliche Syndrome identifizieren. Das erste Syndrom ist den schizophrenen Kernsymptome sehr ähnlich und hat vor allem mit der eigenen Identität zu tun. Man hört Stimmen, die nur im eigenen Kopf vorhanden sind, man weiss nicht, ob die Gedanken, die man hat, tatsächlich die eigenen sind, oder man hat das Gefühl, dass andere die eigenen Gedanken lesen können. Das andere Syndrom umfasst schizotype Symptomgruppen, die sich in einem allgemeinen Misstrauen gegenüber der Welt
«Die subklinischen Symptombilder
gingen bei keiner Person in eine
manifeste Schizophrenie über. Das
hatten wir nicht erwartet.»
manifestieren. Man hat das Gefühl, dass man ausgebeutet wird, man kann niemandem trauen, es fällt schwer, Kontakte zu knüpfen und zu halten. Rund 6 Prozent der Bevölkerung erlebten mehrere der Kernsymptome hoch ausgeprägt und 19 Prozent der Bevölkerung mässig ausgeprägte Schizotypiesymptome über viele Jahre hinweg. Wichtig zu wissen ist, dass
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INTERVIEW
ARS MEDICI: Ist dies eine neue Erkenntnis? Rössler: Menschliche Erlebnis- und Verhaltensweisen sind in aller Regel auf einem Kontinuum angeordnet, das heisst dass Symptome psychiatrischer Krankheitsbilder den meisten Menschen in abgeschwächter Form vertraut sind. Nicht so bei der Schizophrenie: Vereinfacht ausgedrückt, haben wir bisher gedacht, dass 99 Prozent der Bevölkerung keinerlei Symptome und 1 Prozent die ganz starken Symptome haben. Die Schizophrenie, so wie sie sich uns heute in der psychiatrischen Versorgung darstellt, ist eine so lärmende Symptomatik, dass alles andere dagegen in den Hintergrund tritt. Wir müssen jetzt lernen, dass solche abgeschwächten Erlebensweisen in der Bevölkerung viel häufiger auftreten, als wir früher gedacht haben. Im Moment ist eine lebhafte Diskussion im Gange, ob Psychosen nicht eher als Kontinuum betrachtet werden müssen. Das war in der Schizophrenieforschung bisher nicht so konzeptioniert.
Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Wulf Rössler
«Es kann doch nicht sein, dass bei
jemandem, der die diagnostische Schwelle gerade nicht erreicht, gesagt
wird, er habe nichts.»
ARS MEDICI: Bestimmte Menschen sind aber schon anfälliger für Psychosen als andere ... Rössler: Es gibt vulnerable Individuen, die auf ihre Umwelt mit bestimmten Verhaltens- und Erlebnisweisen reagieren. Diese Menschen haben häufig Schwierigkeiten in der Wahrnehmung der Welt, aber auch in der Kommunikation mit dieser Welt, und das wirkt sich eben in ihrem Verhalten mit entsprechend negativen Folgen für ihr Leben aus. Die Früherkennung und Frühbehandlung von Psychosen ist eines der hoffnungsvollsten Projekte der heutigen Psychiatrie. Dort ist es ganz wichtig, diese vulnerablen Menschen früh zu detektieren und sie therapeutisch zu begleiten. Es kann doch nicht sein, dass bei jemandem, der die diagnostische Schwelle gerade nicht erreicht, gesagt wird, er habe nichts. Der Hilfsbedürftigkeit fängt für viele Betroffene unterhalb der diagnostischen Schwelle an. Psychiatrische Diagnosen sind von uns gesetzte Konventionen. Das sind keine natürlichen Krankheitsentitäten.
Menschen, die kontinuierlich unter diesen subklinischen Symptomen leiden, starke Beeinträchtigungen in ihren Beziehungen und in ihrem Beruf aufweisen.
ARS MEDICI: Sind alle diese Menschen auf dem Weg in die Schizophrenie? Rössler: Nein. Wir haben natürlich geschaut, wie viele dieser Bilder subklinischer Symptome über die Jahre hinweg in eine manifeste Schizophrenie einmünden. Tatsächlich konnten wir keine einzige Person mit diesen subklinischen Störungen identifizieren, die in eine diagnostizierbare Schizophrenie übergegangen wäre. Das hatten wir nicht erwartet. Im Laufe der Überlegung wurde uns aber klar, dass diese subklinischen schizophrenieähnlichen Syndrome kein Übergangsstadium in Richtung Schizophrenie,, sondern einfach für sich genommen vorhanden sind.
ARS MEDICI: Gibt es Hinweise auf eine Aufsummierung von äusseren Faktoren bei vulnerablen Menschen? Rössler: Das ist ein sehr interessantes Thema. Sind die Einflüsse additiv oder multiplikativ? Die epidemiologische Verteilung der Symptome weist eher auf multiplikative Effekte hin. Wenn sich Einflussfaktoren addieren, erhalten wir in der Regel eine Normalverteilung. Viele Merkmale oder Eigenschaften der Menschen verteilen sich normal: Es gibt einen Durchschnitt, und die Menschen weichen mehr oder weniger davon ab. Wenn die Einflussfaktoren multiplikativ sind, erhalten wir sogenannte halbnormale Verteilungen, das heisst, viele Menschen weisen eine bestimmte Eigenschaft nicht auf, ein Teil zeigt die Eigenschaft in geringem Umfang, und ein kleiner Teil zeigt die Eigenschaft ganz ausgeprägt. Die Verteilung der Psychosesymptome in der Allgemeinbevölkerung weist auf eine halbnormale Verteilung und damit auf multiplikative Effekte hin. Eines der spannendsten Gebiete der psychiatrischen Forschung der Zukunft wird es deshalb sein, nicht nur einzelne Einflussfaktoren zu identifizieren, sondern zu erforschen, wie sich diese Faktoren gegenseitig verstärken oder auch abschwächen.
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INTERVIEW
Die Zürich-Studie in Stichworten
Teilnehmer: Die Zürich-Studie ist eine Langzeitstudie bei einer repräsentativen Kohorte der Allgemeinbevölkerung. 1979 wurden 591 gesunde TeilnehmerInnen im Alter von 20 bis 21 Jahren aufgenommen. 62 Prozent absolvierten die ganze Studie. Die vorzeitig Ausgeschiedenen wiesen keine besonderen Merkmale auf.
Ziele: Ermittlung von Prävalenz und Langzeitverlauf subklinischer psychotischer Symptome in der Allgemeinbevölkerung. Ausserdem ging es darum, Prädiktoren zu erkennen und zu überprüfen, inwieweit die Symptome das soziale Leben und die Funktionsfähigkeit der Betroffenen beeinträchtigen.
Ablauf: Zur Aufnahme mussten die Teilnehmer einen Fragebogen ausfüllen (Symptom Checklist, SCL 90-R). Die 90 Fragen decken u.a. ein breites Spektrum an psychiatrischen Symptomen ab. Interviews (face to face) wurden mit den Teilnehmern bei Aufnahme in die Studie und dann im Alter von 23, 28, 30, 35 und 41 Jahren durchgeführt.
Ergebnisse: Es liessen sich zwei schizophrenieähnliche Syndrome unterscheiden: Das erste ähnelt stark der schizophrenen Kernsymptomatik (z.B. «jemand anders kontrolliert meine Gedanken, «andere können meine Gedanken lesen»). Derartige Symptome wiesen 5,8 Prozent der Teilnehmer kontinuierlich und in starker Ausprägung auf.
Das zweite Syndrom wird als schizotyp bezeichnet (generelles Misstrauen gegen andere Menschen; Wahnideen). In mässig ausgeprägter Form traten schizotype Symptome bei 19 Prozent auf, in ausgeprägter Form bei 2,8 Prozent.
Verlauf: Im Allgemeinen schwächte sich die Symptomatik über die Jahre ab. Die stärkste Ausprägung zeigte sich bei den meisten zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr.
Auswirkungen: Menschen mit subklinischen psychotischen Symptomen haben Probleme im sozialen und beruflichen Leben.
Prädiktoren: Cannabiskonsum erwies sich als stärkster Prädiktor für kontinuierliche schizophrenieartige Kernsymptomatik. Bei Menschen mit schizotypen Störungen lagen oft soziale Probleme in der Kindheit vor (interpersonelle Konflikte, Vernachlässigung, Gewalt).
Sponsoring: Die Studie wurde von der Swiss National Science Fundation unterstützt.
Originalarbeit: Wulf Rössler et al.: Psychotic experiences in the general population: A twenty-year prospective community study. Schizophrenia Research 92 (2007): 1–14.
ARS MEDICI: Und der Einfluss genetischer Faktoren? Rössler: In neuerer Zeit hat man mehrere Vulnerabilitätsgene identifizieren können, welche die Wahrscheinlichkeit, an einer Schizophrenie zu erkranken, erhöhen. Diejenigen, die mehrere dieser Vulnerabilitätsgene tragen, besitzen ein grösseres Risiko. Aus der Umweltperspektive betrachtet, braucht es für diese Menschen weniger negative und belastende Umwelteinflüsse, um zu erkranken. Menschen mit einer geringen genetischen Disposition benötigen hingegen ganz starke negative Umwelteinflüsse, damit eine Psychose ausbricht. Auch hier gilt es also zu beachten, dass die genetische Belastung eines Menschen kontinuierlich ist im Sinne von mehr oder weniger belastet und nicht kategorial im Sinne von vorhandener oder nicht vorhandener Disposition. Menschen, die im klassischen Sinne an einer Schizophrenie leiden, habe eine grössere genetische Belastung als die Menschen mit unterschwelligen psychotischen Syndromen. Bei den Letztgenannten wirken dann die psychosozialen Belastungen stärker.
ARS MEDICI: Wozu brauchen wir die Diagnose Schizophre-
nie denn noch?
Rössler: Schizophrenie als Diagnose ist wie bereits gesagt nur
eine Konvention. Im besten Sinne sind Diagnosen handlungs-
leitend. Zurzeit werden die internationalen Klassifikations-
systeme überarbeitet, und irgendwann gibt es ein ICD-11 und
DSM-V anstelle von ICD-10 und DSM-IV. Dann werden einige
Diagnosen teilweise anders definiert sein. Die Eingrenzung des
Begriffs Schizophrenie auf eine Gruppe Schwerstkranker ver-
stellt uns den Blick auf eine beträchtliche Zahl von Menschen
mit unterschwelligen psychotischen Syndromen, die durchaus
klinisch relevant sind. Ich sage jetzt mal sehr plakativ: Jeder ist
auch ein bisschen schizophren.
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Das Interview führte Klaus Duffner
Interessenkonflikte: keine.
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