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LESERMEINUNG
Kommentar zu SZE 5/2014
«Vegetarismus versus Fleischkonsum»
In der Ausgabe 5 /14 der «Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin» wurden von diversen Fachleuten die Vor- und Nachteile des Vegetarismus respektive des Fleischkonsums diskutiert. Leider ging dabei das Thema Kreatin (Creatine) – eine wichtige Guanidinoverbindung (eine stickstoffhaltige, organische Säure) – verloren. Kreatin kommt in grösseren Konzentrationen ausschliesslich in Fleisch und Fisch vor und ist für die gesunde Entwicklung des Menschen sowie die Physiologie des menschlichen Körpers essenziell. Deshalb, denke ich, sollten die nachfolgenden Überlegungen hier konstruktiv in die Diskussion über «Vegetarismus und Fleischkonsum» einfliessen können. Der prähistorische Mensch, aus dem der moderne Mensch genetisch hervorgegangen ist, war ein echter Karnivor, der nach erfolgreicher Jagd auf Grosswild wochen- bis monatelang täglich geschätzte 1 bis 2 kg Fleisch verzehrt hat. Es wird davon ausgegangen, dass die Verfügbarkeit von reichlichem, leicht verdaulichem tierischen Eiweiss (mit der Entwicklung von Jagdgerät und der Entdeckung des Gebrauchs von Feuer, um Fleisch zu braten oder zu garen) ganz entscheidend war für die evolutionäre Entwicklung und jetzige Grösse des menschlichen Gehirns (1). Im Klartext heisst das, dass regelmässiger Fleischkonsum den Menschen schon während 50 000 Jahren begleitet und die Entwicklung des modernen Menschen, insbesondere seines Gehirns, nicht zuletzt auf Fleisch- und Fischkonsum zurückgeführt werden kann (2, 3). Neben Eiweiss enthalten Fleisch und Fisch natürlich noch sehr viele andere essenzielle Nahrungsbestandteile, wie Fette, Mineralien, Vitamine, insbesondere Vitamin D (Fisch) und Vitamin B12, Kalzium, Eisen, Zink et cetera, die generell für den Aufbau und die Gesunderhaltung des menschlichen Organismus wichtig, ja
sogar essenziell sind. Einige dieser Stoffe kommen ausschliesslich in Fleisch und Fisch und nirgendwo anders vor. Ein solcher Bestandteil ist zum Beispiel das Kreatin (Creatine). Der menschliche Körper ist zwar in der Lage, bei genügender Versorgung mit den Aminosäuren Alanin, Arginin und Methionin ungefähr die Hälfte des täglichen Kreatinbedarfs selber zu decken; für die andere Hälfte ist er aber mehr oder weniger auf alimentäre Quellen, das heisst auf Kreatin in Fleisch und Fisch, angewiesen (4). Kreatin und speziell Phosphokreatin ist für die Energieversorgung vor allem von Muskeln, Gehirn und anderen Organen und Zellen mit hohem, fluktuierendem Energiebedarf absolut essenziell (3). Andere, ähnlich wichtige Bestandteile, die ebenfalls nur in Fleisch vorkommen, sind Beta-Alanin und Karnosin. Wie man genau weiss, kann das Fehlen von Vitamin B12 in der Vegandiät schwerwiegendste Konsequenzen haben. Wie man aber auch weiss, dient Vitamin B12 in Säugetieren als Kofaktor für nur zwei Enzyme: Das sind die Methioninsynthase und die Methylmalonyl-CoAMutase. Dabei ist die Methioninsynthase absolut essenziell, damit genügend Methylgruppen (via S-Adenosyl-Methionin) für die körpereigene Synthese, unter anderem auch für die endogene Herstellung von Kreatin, bereitgestellt werden. Fehlt also Vitamin B12, kann auch kein körpereigenes Kreatin hergestellt werden, und der Körper ist umso mehr auf die Zufuhr von Kreatin durch Fleisch und Fisch angewiesen. Somit besteht ein direkter Zusammenhang zwischen einem VitaminB12-Mangel und einem Kreatindefizit. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu erwähnen, dass Vegetarier, ganz besonders aber Veganer, pathologisch erhöhte Werte von Serumhomocystein, einem potenziellen Risikofaktor für kardiovaskuläre Erkrankungen, aufweisen und dass durch Kreatinsupplementation die
Homocysteinwerte gesenkt werden können, weil sich durch Gabe von fertigem Kreatin die Methylierungsanforderungen, die für die Kreatinsynthese, das heisst für die Methylierung von Guanidinoacetat (GAA) zu Kreatin, notwendig wären, erübrigen (5). Menschen mit genetischen Störungen in der Kreatineigensynthese, das heisst mit defekten Enzymen, Arginin-Glycin-Amino-Transferase (AGAT) oder GuanidinoAcetate-Methyl-Transferase (GAMT), oder des Kreatintransporters (CRT), der Kreatin in die Muskeln und das Gehirn transportiert, präsentieren sich mit einem sogenannten Creatine-Deficiency-Syndrom (CDS). Das Fehlen von Kreatin in diesen Patienten führt zu gravierenden neuromuskulären Problemen und zu schweren Entwicklungsstörungen bei Kindern, die sich am deutlichsten in einer signifikanten Verzögerung und Beeinträchtigung der Sprachentwicklung manifestieren. Die Langzeitfolgen eines Kreatinmangels während der Entwicklungsphase sind geistige Behinderung, Autismus und Epilepsien et cetera. Falls ein genetischer Defekt diesbezüglich bei Säuglingen frühzeitig erkannt wird, können einige dieser Patienten sehr effizient und kostengünstig durch einfache Supplementierung mit Kreatin vollständig geheilt werden (6). Nun zeigt die Forschung, dass auch erwachsene Personen, die sich vegetarisch oder vegan ernähren, deutlich erniedrigte Kreatinkonzentrationen in Muskeln und Gehirn aufweisen (7), die vermuten lassen, dass die Leistung dieser Organe mehr oder weniger beeinträchtigt sein kann. Interessanterweise führt eine Kreatinsupplementierung (mit 3–4 g Kreatinmonohydrat pro Tag, der von der EFSA empfohlenen täglichen Kreatinmenge) bei gesunden Menschen nämlich auch dann zu deutlichen Leistungssteigerungen, was Muskelkraft, Gedächtnis und Lernen anbelangt, wenn diese Personen
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regelmässig Fleisch oder Fisch essen. Dies ist dadurch zu erklären, dass durch extra Supplementation mit Kreatin die endogenen Kreatinspeicher optimal aufgefüllt werden (8). Für die Entwicklung des menschlichen Gehirns im Baby- und Kleinkindalter ist Kreatin, wie oben erwähnt, ganz besonders wichtig. Während der Schwangerschaft gelangt mütterliches Kreatin via Plazenta zum Embryo. Falls sich aber die Mutter selber vegan ernährt, wird dieser Transfer mengenmässig geringer sein. Im Zusammenhang mit einer rein veganen Ernährung der Mutter, die ihr Baby oder Kleinkind ebenfalls vegan ernährt, besteht also eine eindeutige Gefahr der Unterversorgung des Kindes mit Kreatin, die zusätzlich durch den Vitamin-B12-Mangel noch verstärkt wird. Im Einklang mit dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) kann man aus wissenschaftlicher Sicht die Mütter nur davor warnen, während der Schwangerschaft und der Stillzeit komplett auf Fleisch und Fisch zu verzichten und sich ausschliesslich vegan zu ernähren und dann die Kleinkinder ebenfalls vegan zu füttern. Falls sie das trotzdem unbedingt wollen, könnte man als Kompromiss neben der Zufuhr von Vitamin B12 einen regelmässigen Konsum durch Mutter und Kind von selber hergestellter konzentrierter Fleischbouillon aus ausgekochtem Hühner- und/oder Rindfleisch empfehlen, denn darin sind neben Beta-Alanin, Karnosin und Kreatin noch zahlreiche andere ernährungsphysiologisch für die Entwicklung eines Embryos, Babys und Kleinkin-
des wichtige Stoffe enthalten. Für Mütter während der Schwangerschaft und Stillzeit bietet sich zudem eine Kreatinsupplementation mit reinstem Kreatinmonohydrat (Creapure®) an, und zwar in einer offiziell durch das BAG und die European Food Safety Authority (EFSA, Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit) empfohlenen Dosierung von 3 bis 4 g pro Tag. Diese Ausführungen sind von gesundheitspolitischer Relevanz, weil dadurch Entwicklungsstörungen von Kindern mit allen Folgeschäden, auch sozioökonomischer Art, verhindert werden können. Entsprechend würde man eine diesbezüglich fachgerechte und konsequente Beratung von Schwangeren durch die Gesundheitsdienste, Ärzte und Hebammen erwarten können. Ebenfalls gelten diese Überlegungen auch für Senioren, die mehrheitlich weniger Fleisch konsumieren und somit auch weniger alimentäres Kreatin zu sich nehmen. Es konnte gezeigt werden, dass Senioren generell weniger Kreatin in ihren Muskeln haben und dass sie positiv auf eine Supplementation mit reinstem Kreatin (CreaPure®) reagieren, indem ihre Muskelmasse und ihre Kraft zunehmen (9).
Korrespondenz: Theo Wallimann Dr. sc. nat. ETHZ, Prof. emeritus Biologie Dept. ETH Zürich Schürmattstrasse 23 8962 Bergdietikon E-Mail: theo.wallimann@cell.biol.ethz.ch Internet: www.bi.id.ethz.ch/personensuche/detail.do?pid=1312E&lang=EN
Referenzen: 1. Kuzawa CW. et al. Metabolic costs and evolutionary implications of human brain development. Proc Natl Acad Sci U S A. 2014 Sep 9; 111 (36): 13 010–13 015. 2. Adam D. et al. Comparative expression analysis of the phosphocreatine circuit in extant primates: implications for human brain evolution, J Hum Evol 2011 February; 60 (2): 205–212. 3. Wallimann T, Tokarska-Schlattner M, Schlattner U. The creatine kinase system and pleiotropic effects of creatine. Amino Acids 2011; 40: 1271–1290. 4. Wyss M, Kaddurah Douk R. Creatine and creatinine metabolism. Physiol Rev 2000; 80: 1107–1113. 5. Stead LM, Jacobs RL, Brosnan ME, Brosnan JT. Methylation demand and homocysteine metabolism. Adv Enzyme Regul 2004; 44: 321–333. 6. Stockler-Ipsiroglu S, van Karnebeek CD. Cerebral creatine deficiencies: a group of treatable intellectual developmental disorders. Semin Neurol 2014 Jul; 34 (3): 350–356. 7. Watt KK, Garnham AP, Snow RJ. Skeletal muscle total creatine content and creatine transporter gene expression in vegetarians prior to and following creatine supplementation. Int J Sport Nutr Exerc Metab 2004 Oct; 14 (5): 517–531. 8. Benton D, Donohoe R. The influence of creatine supplementation on the cognitive functioning of vegetarians and omnivores. Br J Nutr 2011 Apr; 105 (7): 1100–1105. 9. Wallimann T.: Positive Wirkung von Kreatin im Alter und für Rehabilitation. Schweiz Zeitschrift für Ernährungsmedizin 1/14: 31–32.
Allgemein verständliche Literatur zum Thema Kreatine (Creatine): Wallimann T. Kreatin in der Allgemeinmedizin, Ars Medici 2009; Dossier VII/VIII: 1–4. Wallimann T. Kreatin – warum, wann und für wen? Schweiz. Zeitschrift für Ernährungsmedizin (SZE) 2008; 5: 1–16.
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