Die Heinsberg-Studie ist die einzige Studie, die einen einzelnen gut lokalisierten Ausbruch umfassend untersucht hat und deshalb lohnt es sich, sie genauer anzusehen. Daraus lassen sich viele wichtige Erkenntnisse zum Virus und seiner Übertragung, der Epidemiologie, gewinnen, man darf die Ergebnisse aber auch nicht überstrapazieren, ist Prof. Marcel Tanner überzeugt. Mehr dazu im Interview mit dem Public Health Experten.
Prof. Dr. Marcel Tanner
Präsident der Akademien Schweiz und
früherer Direktor des mit der Universität Basel
assoziierten Swiss TPH
Mitglied der Swiss National Covid-19 Task Force
ARS MEDICI: Eine Erkenntnis der Heinsberg-Studie ist die vermutlich erhebliche Dunkelziffer, was durchgemachte Infektionen angeht. Die Durchseuchung ist ein wichtiger Parameter für den weiteren Umgang mit COVID 19. Wie bewerten Sie in diesem Zusammenhang die Ergebnisse der Heinsberg-Studie?
Marcel Tanner: Diese Zahlen entsprechen den Zahlen und Hochrechnungen aus anderen Gebieten. Die erhebliche Dunkelziffer erklärt sich damit, dass ein Teil der Menschen keine oder nur sehr geringe Symptome aufweist und deshalb keinen Test macht beziehungsweise nicht zum Arzt geht.
Gibt es, aktuell oder geplant, ähnliche Erhebungen in der Schweiz? Mit was für einer Durchseuchung rechnet man hier?
Marcel Tanner: Da ist derzeit viel im Entstehen, ein Programm zur Bestimmung der Corona-Exposition mittels Antikörpertests in der Schweiz ist aufgesetzt. In Genf hat man bislang eine Durchseuchung von 5 bis 6 Prozent gefunden, im Tessin wird die Zahl vielleicht zwei bis drei Prozent höher ausfallen – aber von einer Herdenimmunität sind wir noch weit entfernt.
In der Schweiz gibt es zum einen bevölkerungsbasierte Tests, die sich nicht an Kantonsgrenzen sondern an Regionen orientieren, und daneben Longitudinalstudien, z.B. in Schulen, in Altersheimen, in Produktions- und Servicebetrieben sowie unter medizinischem Personal. Zu wissen, wie sich das Virus in bestimmten Bevölkerungsgruppen ausbreitet, ist in Anbetracht der Öffnung viel wichtiger, als allein die Gesamtzahl der Infizierten und damit Exponierten zu kennen.
«Zu wissen, wie sich das Virus in bestimmten Bevölkerungsgruppen ausbreitet, ist in Anbetracht der Öffnung viel wichtiger, als allein die Gesamtzahl der Infizierten und damit Exponierten zu kennen.»
Werden die Studienaktivitäten in der Schweiz zentral koordiniert?
Marcel Tanner: Aber sicher, die serologischen Studien wurden mit Unterstützung des BAG der Swiss School of Public Health übertragen, die von Prof. Milo Puhan aus Zürich geleitet wird. Er ist ebenfalls Mitglied der Swiss Covid Task Force. Es ist für mich eine Freude zu sehen, dass eine zentrale Koordination möglich ist, denn sie ist entscheidend um ein zuverlässiges Bild der Situation in unserem Land zu erhalten. Ich habe natürlich einen kleinen Bias, da ich dieses Schweizer Netzwerk für Public Health vor meiner Pensionierung während sechs Jahren mitaufbauen und präsidieren durfte.
Was darf man sich von der zentralen Koordination versprechen?
Marcel Tanner: Schon bei Malaria, HIV und Ebola habe ich stets insistiert, dass wir das Konzept «Monitoring und Evaluation» verlassen müssen, hin zu koordinierter «Surveillance-Response» – überwachen, um zu antworten. Damit wird die Überwachung zur Intervention selbst. Wir müssen nicht spekulieren, ob die 2. Welle im Oktober oder im November kommt. Gelingt es uns, dieses Prinzip von Surveillance-Response zu etablieren, kommt sie gar nicht mehr in einer Wucht für die ganze Schweiz. Wichtig dafür sind die serologischen Longitudinalstudien und vor allem auch das konsequent umgesetzte Konzept von Testen, Contact Tracing und die Quarantäne. Wenn wir unsere Sache gut machen, entdecken wir damit Cluster, Hot Spots, und können lokal zum Beispiel in einem Betrieb, einer Restaurantzone, einem Altersheim oder wo auch immer reagieren – und müssen nicht wieder die ganze Schweiz abriegeln. Wirtschaftlich und sozial ist es höchst entscheidend, einen erneuten Lockdown zu verhindern. Was am Anfang richtig war, weil wir alle von den Entwicklungen überrollt wurden, darf nicht wieder passieren, denn solche radikale zyklischen Prozesse sind für Gesellschaft und Wirtschaft fatal.
«Wenn wir unsere Sache gut machen, entdecken wir Cluster, Hot Spots, und können lokal zum Beispiel in einem Betrieb, einer Restaurantzone, einem Altersheim oder wo auch immer reagieren – und müssen nicht wieder die ganze Schweiz abriegeln.»
Wie ist der Stellenwert der App beim Contact Tracing?
Marcel Tanner: Zum Contact Tracing gehört in allen Kantonen erst einmal das traditionelle Vorgehen per Telefon. Wenn die Zahlen niedrig sind, ist das gut machbar. Ergänzend ist nun jedoch eine App zum «Proximity Testing» bereit, eine App, die den Datenschutzbestimmungen der Schweiz gerecht wird und auf freiwilliger Basis im Falle einer Infektion die Nachverfolgung von Kontakten ermöglicht. Bis die gesetzlichen Rahmenbedingungen im Juni durch das Parlament verabschiedet werden, steht eine Pilot-Version zur Verfügung, um keine weitere Zeit zu verlieren. Aber die breite rechtliche Absicherung ist wichtig: Nicht nur gilt es Datenschutz und Freiwilligkeit einzubeziehen, sondern auch die Konsequenzen einer verordneten Quarantäne. Muss sich ein Arbeitnehmer aufgrund der App-Informationen in Quarantäne begeben, gilt das als medizinische Verordnung. Es besteht Kündigungsschutz und der Arbeitgeber wird auf Basis der Erwerbsersatzordnung ähnlich wie beim Militär und Zivildienst entschädigt.
Wie ist das weitere Vorgehen?
Marcel Tanner: Entscheidend für das weitere Vorgehen ist der Anteil der Infizierten, die keine Symptome spüren. Diese Menschen sind für die Übertragung wichtig. Und wir wissen, dass sie nicht bei den kleinen Kindern sind – die Treiber der Infektion sind unter den jungen Erwachsenen und den «gesunden» Erwachsenen zu finden. Daneben sind auch die präsymptomatisch Infizierten wichtig. Sie sind bereits infektiös, bevor sie zwei Tage später Symptome zeigen. Und das ist wie bei jeder vergleichbaren Infektionskrankheit schwierig, denn die Betroffenen fühlen sich in Topverfassung und sehen keinen Grund, eine Maske zu tragen oder zum Arzt zu gehen.
Damit kommen wir auch noch einmal auf die Kinder zurück: Der erste Fall in Basel war eine Kita-Mitarbeiterin, die in Mailand Urlaub gemacht hatte und an den beiden Tagen vor Symptomentwicklung noch in der Kindertagesstätte gearbeitet hat. Dass sie dabei kein einziges Kind angesteckt hat, war ein wichtiger Hinweis darauf, dass Kinder sich schwerer infizieren. Und keines der Kinder hat weitere Familienmitglieder angesteckt, in dem Zusammenhang sind mehr als 60 Kontakt nachverfolgt worden. Dieser Befund war ebenfalls wichtig und wurde mittlerweile durch Studien aus Island, Australien etc. bestätigt. Die Durchführung der Heinsberg-Studie war wichtig, weil sie es erlaubt, diese Erkenntnisse in Perspektive und Kontext zu setzen.
Was sagen Sie zur Methodik der Studie, blieben Wünsche offen?
Marcel Tanner: Darüber kann man hinterher viel diskutieren, aber das ist eine falsche Diskussion. Wichtig ist, dass man bei der Methodik kohärent und konsequent vorgegangen ist, nachdem man sich einmal auf das gesamte Studienkonzept geeinigt hatte. Kritik könnte man üben, hätte man die Methodik geändert. Das gilt auch für den Antikörpertest, da gäbe es jetzt bessere, aber man musste bei dem bleiben, was zunächst verfügbar war.
Und der Antikörpertest ist ja wichtig, um einen Eindruck zu erhalten, wie eine Epidemie durch eine Bevölkerung läuft. Er erlaubt jedoch keine Aussage zum Schutz des Individuums. Bei Niederprävalenz, wie jetzt vorhanden, ist der positiv-prädiktive Wert geringer, trotz 99-prozentiger Sensibilität gibt es damit etwa 50 Prozent falsch positive Ergebnisse.
Was lässt sich sonst noch aus der Studie ableiten?
Marcel Tanner: Eine ganz wichtige Erkenntnis ist die Tatsache, dass es nicht zu Kontaktinfektionen kommt. Es ist methodologisch gut gezeigt worden, dass man zwar überall die Virus-RNA nachweisen kann, aber das Virus ist nicht mehr infektiös. Distanz und Hygienemassnahmen bleiben grundsätzlich wichtig, unabhängig davon, ob man sich an einem Hotspot aufhält oder einzelnen infizierten Personen begegnet. Aber die Tatsache, dass bei geringerem Virusmaterial die Wahrscheinlichkeit einer Übertragung kleiner ist, hat in Anbetracht der Lockerung beruhigendes Potenzial. Masken bleiben nach wie vor wichtig für die bereits Infizierten. Im öffentlichen Verkehr kann man Masken diskutieren, wenn es nicht möglich ist, den empfohlenen Abstand einzuhalten.
«Wissenschaft muss einen Beitrag leisten und gleichzeitig Unsicherheiten aufzeigen, das ist ihre Aufgabe. Die Wissenschaft wendet sich dagegen, über den Zeitpunkt einer 2. Welle zu spekulieren.»
Die Heinsberg-Studie wurde offensichtlich (oder ist das schon wieder eine Verschwörungstheorie?) politisch angeregt, unterstützt, instrumentalisiert (auch kommunikativ). Reduziert das ihren Wert oder besteht dafür zumindest die Gefahr?
Marcel Tanner: Die Heinsberg-Studie war ein wichtiger wissenschaftlicher Beitrag zur Epidemie, und ich denke, alles andere muss man sauber trennen. Man muss die Studie analysieren und sehen, was man daraus lernen kann – und was nicht. Es ist gut, dass sie möglich war, aber man kann damit nicht die ganze Pandemie erklären. Wissenschaft muss einen Beitrag leisten und gleichzeitig Unsicherheiten aufzeigen, das ist ihre Aufgabe. Die Wissenschaft wendet sich dagegen, über den Zeitpunkt einer 2. Welle zu spekulieren. In einer Pandemielage brauchen wir solche detaillierten Studien und nicht nur Fragmente wissenschaftlicher Erkenntnisse. Wenn wir mithilfe aller Erkenntnisse ein Überwachungs- und Antwortsystem aufbauen und in unserem Gesundheits- und Sozialsystem verankern, dann können wir die Übertragung brechen und den Rest, sozial wie wirtschaftlich, wieder laufen lassen, ohne im Sinne einer zweiten Welle ganze Länder und Regionen «abzuschalten». Dazu gehört auch die Sicherheit, dass man sich in Quarantäne begeben kann, ohne den Job zu verlieren. Ein transdisziplinärer Wissenschaftsansatz, das ist der Weg voran. Die neue Normalität bedeutet nicht, dass wir in Zukunft alle mit Masken herumlaufen, sondern dass wir ein Gesundheits- und Public-Health-System haben, das Überwachung betreiben und einschreiten kann, wo es nötig ist. Es ist gerade für die Schweiz sehr wichtig zu lernen, wie eine nationale Strategie auf ein föderalistisches System heruntergebrochen und auf der strategischen Ebene das Kontinuum sichergestellt werden kann.
Das Interview führte Christine Mücke.