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Mit offenem Rücken geboren
Ein Mangel an Folsäure kurz vor und während der Schwangerschaft kann dazu führen, dass ein Kind mit einer Fehlbildung des Rückenmarks geboren wird. Das Risiko für diese als Spina bifida oder offener Rücken bezeichnete Fehlbildung lässt sich reduzieren, wenn bereits frühzeitig Folsäurepräparate eingenommen werden.
Von Therese Schwender*
Im ersten Drittel einer Schwangerschaft entwickeln sich aus der Eizelle über eine Reihe komplexer Vorgänge die verschiedenen Organe des menschlichen Körpers. Laufen diese Prozesse nicht korrekt ab, kommt ein Kind unter Umständen mit einer Fehlbildung zur Welt.
Diagnose etwa ab der 18. Schwangerschaftswoche Schon sehr früh in der Schwangerschaft, etwa um den 18. Tag nach der Befruchtung der Eizelle, beginnt sich das zentrale Nervensystem zu entwickeln. Im «Rückenbereich» des jetzt erst 3 bis 4 mm grossen Embryos verdickt sich die äussere Zellschicht zur sogenannten Neuralplatte. Diese bildet bald eine zentrale Rinne, die Neuralrinne, deren Sei-
ten sich einander immer mehr nähern, bis ein geschlossenes Neuralrohr entsteht. Dieser Prozess ist etwa um den 28. Tag nach Befruchtung abgeschlossen. Ist der Verschluss nicht vollständig, so schliessen sich auch die Wirbelbögen, die sich später um das Neuralrohr herum bilden, und die darüber liegende Haut nicht. Das Kind wird dann mit einem offenen Rücken, einer Spina bifida, geboren. Die offene Stelle liegt dabei häufig im unteren Bereich der Wirbelsäule. Etwa jedes zweitausendste Kind in der Schweiz ist davon betroffen. Vermutlich liegt die Zahl aber höher, da Abtreibungen wegen Spina bifida nicht mitgezählt werden. Die Diagnose eines offenen Rückens ist mittels Ultraschall etwa ab der 18. Schwangerschaftswoche möglich. Auch der Nachweis eines erhöhten alfa-1-Fetoproteinspiegels im Blut der
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WIRBELSÄULE
Schwangeren kann auf das Vorliegen einer Spina bidifa hinweisen. Allerdings wird diese Methode alleine noch als zu wenig zuverlässig angesehen. Es braucht eine Bestätigung durch die Ultraschalluntersuchung.
Schwere Behinderun-
gen als Folge Das Rückenmark wird durch das Offenliegen während des weiteren Verlaufs der Schwangerschaft zunehmend geschädigt und verliert mehr und mehr seine normalen Funktionen. Als Folge kommt es zu Gehbehinderungen bis hin zu einer Querschnittlähmung, zu Gefühllosigkeit der Beine und zu Harn- und Stuhlinkontinenz. Fast immer tritt gemeinsam mit Spina bifida auch ein Wasserkopf (Hydrozephalus) auf. Dabei kommt es durch eine Abflussstörung zu einem Flüssigkeitsstau im Hirnkammersystem und zu einem gefährlichen Anstieg des Hirndrucks, was unbehandelt zu schweren Hirnschäden führt.
Bessere Chancen dank
revolutionärer Operation Die Behandlung von Neugeborenen mit Spina bifida bestand bisher darin, die offene Stelle möglichst rasch nach der Geburt mit schützendem Gewebe zu bedecken, um so das Risiko für Infektionen zu senken. Bei Kindern mit Wasserkopf wird die überschüssige Flüssigkeit über einen dünnen Schlauch und ein hinter dem Ohr eingepflanztes Ventil in die Blutbahn oder die Bauchhöhle abgeleitet. Ende 2010 und Mitte 2011 gelang es einem Operationsteam rund um den Chirurgen Martin Meuli vom Kinderspital Zürich, Kinder mit Spina bifida bereits im Mutterleib erfolgreich zu operieren. Diese Operationen gehörten zu den ersten Eingriffen dieser Art ausserhalb der USA und bedeuten damit einen Quantensprung. Gewählt wurde diese Vorgehensweise aufgrund der Ergebnisse einer grossen klinischen Studie in Amerika. Sie hatte gezeigt, dass die Behinderungen weniger schwerwiegend und die Operationen wegen eines Wasserkopfes
Säugling, der mit Spina bifida auf die Welt kam.
seltener nötig wurden, wenn das Rückenmark noch während der Schwangerschaft durch mehrere Gewebeschichten geschützt wird. Die vorgeburtliche Operation, die zwischen der 20. und 26. Schwangerschaftswoche durchgeführt werden sollte, ist eine besondere Herausforderung: Mit Mutter und Kind müssen gleichzeitig zwei sehr unterschiedliche Patienten (das Ungeborene misst 25 cm und wiegt 500 Gramm) anästhesiert, operiert und überwacht werden, obwohl sie eine unzertrennliche biologische Einheit bilden.
Hoher Bedarf an
Folsäure beim
Ungeborenen Als Ursache für eine Spina bifida wird unter anderem eine genetische Komponente vermutet, da ein offener Rücken in manchen Familien gehäuft auftritt. Bekannt ist jedoch, dass ein Mangel an Folsäure in der entscheidenden Phase der Schwangerschaft das Entstehen eines offenen Rückens begünstigt. Folsäure ist ein Vitamin der B-Gruppe und für die normale Teilung und Funktion der Zellen wichtig. Deshalb hat besonders ein rasch wachsender Organismus, wie es in der Frühschwangerschaft der Fall ist, einen hohen Folsäurebedarf. Dieser kann auch bei einer ausgewogenen Ernährung (viel Früchte, Gemüse und Vollkornprodukte) nicht allein über die Nahrung gedeckt werden. Frauen im gebärfähigen Alter, die schwanger werden möchten oder könnten, wird daher empfohlen, täglich 0,4 mg synthetische Folsäure als Tablette oder Kapsel einzunehmen. Dies am besten in Form eines Multivitaminpräparates, das bis zur 12. Schwangerschaftswoche empfohlen wird.
Da sich das Neuralrohr schon während der ersten 4 Wochen nach der Empfängnis bildet, ist es wichtig, mit der Einnahme von Folsäure schon vor der Zeugung zu beginnen. Durch die zusätzliche Versorgung mit Folsäure liessen sich in der Schweiz pro Jahr schätzungsweise 25 bis 30 Prozent der Fälle einer Spina bifida (Geburten und Schwangerschaftsabbrüche) verhindern.
Folsäureanreicherung
von Lebensmitteln Die ausreichende Versorgung mit Folsäure ist zu einem Zeitpunkt entscheidend, in dem viele Frauen noch gar nicht wissen, dass sie schwanger sind. Die Folsäureanreicherung von Lebensmitteln (zum Beispiel Mehl) könnte dazu beitragen, dass rechtzeitig genug davon zugeführt wird. Diese Strategie konnte sich jedoch noch nicht durchsetzen. Es bestehen nach wie vor Zweifel daran, ob die Einnahme erhöhter Mengen von Folsäure wirklich für alle Menschen gesund ist. Vor allem bei älteren Männern wird in diesem Zusammenhang über ein möglicherweise erhöhtes Krebsrisiko diskutiert. Eine andere Strategie – mit der vor allem die eigentliche Zielgruppe der Frauen im gebärfähigen Alter besser erreicht würde – wäre die Zugabe von Folsäure zur Antibabypille. Die Überlegung dahinter ist, dass viele Schwangerschaften kurz nach Absetzen der Pille eintreten. Die Pharmaindustrie arbeitet momentan an einem entsprechenden Produkt.
*Therese Schwender ist ausgebildete Tierärztin und arbeitet heute als Medizinjournalistin. Sie lebt in Römerswil (LU).
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