Transkript
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Bei der jährlichen Routineuntersuchung findet der Gynäkologe einen verdächtigen Befund in einer Brust. Die Diagnose lautet Krebsvorstufe. Ein Bericht.
von Rita Torcasso*
F ebruar 2009: Der Arzt machte während der normalen Vorsorgeuntersuchung mehrere Ultraschallbilder. «Er deutete auf einen schwarzen Kreis in der rechten und eine kleinere Unregelmässigkeit in der linken Brust und sagte, dass beides im letzten Jahr noch nicht da gewesen sei. Nun ging alles ganz schnell», erzählt die 56-jährige Christine M. Eine halbe Stunde später war sie bereits im Mammografiezentrum. «Es war vor allem diese Eile, die Angst auslöste», sagt sie heute. Auf der Mammografie sah man nichts. Trotzdem riet ihr der Gynäkologe, bei beiden verdächtigen Befunden eine Biopsie zu machen. Unter örtlicher Betäubung führte er eine feine Nadel in das Gewebe ein: Mit Druck wurden Gewebeproben «ausgestanzt» und durch die Nadel gepresst. Geschmerzt habe das kaum. «Schlimm
waren hingegen die vier Tage über das Wochenende, bis die Laborergebnisse vorlagen», erinnert sie sich. «Man malt sich plötzlich das Schlimmste aus, und ich wusste sehr genau, was das bedeutet, weil bei einer Freundin ein Karzinom in einer Brust entfernt werden musste.» Der Laborbescheid war dann so weit gut – mit Betonung auf «so weit». Nun erhielt das Ding einen Namen: In der rechten Brust war es eine atypische lobuläre Neoplasie (LN), was so viel bedeutet wie eine Gewebeveränderung in der Milchdrüse, in der linken war es eine vermehrte Zellbildung in den Milchgängen. Die LN sei eine «Krebsvorstufe», die genauer untersucht werden müsse, meinte der Arzt.
Etwas, das auch bösartig sein könnte Jede Gewebe- oder Zellveränderung ist ein «Tumor», allerdings sind bei Weitem
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VORSORGE
Krebsvorstufe: Abwarten oder auf Nummer sicher gehen?
Glossar
• Tumor: Als Tumor wird eine Gewebegeschwulst bezeichnet, die gutartig, bösartig oder infektiös sein kann. • Lobuläre Neoplasie (LN): Gewebeveränderung in den Drüsenläppchen. • Duktales Carcinoma in situ (DCIS): Gewebeveränderung in den Drüsengängen. Von den Krebsvorstufen ist das DCIS
die häufigste, die lobuläre Neoplasie eher selten. • Carcinoma in situ: sesshafter abgegrenzter Tumor, der auch als nicht invasiv bezeichnet wird. • Duktale oder lobuläre Hyperplasie, atypisch: eine Gewebeveränderung, die nicht als Krebsvorstufe gilt, jedoch als
Marker für ein erhöhtes Brustkrebsrisiko. • Biopsie: Gewebeentnahme, die als Nadel-, Stanz- oder Vakuumbiopsie durchgeführt wird. • Mammatom: Vakuumbiopsie, die bei örtlicher Betäubung das Absaugen von Tumoren ermöglicht. • Klassifikation von Krebsvorstufen: B-Klassifikation der Gewebeveränderungen:
B1 und B2 gelten als gutartig, B3 und B4 als Risikobefund, B5 als «bösartiger» Befund mit hohem Risiko.
nicht alle bösartig. Bei Christine M. war es ein sogenannter «sesshafter Tumor» innerhalb der Drüsenwand. Weil er unter zwei Zentimeter gross war, gab es die Möglichkeit, ihn mit dem Mammatom zu entfernen, um so eine Narkose zu umgehen. Das Mammatom ist eine Art Hochdruckkompressormaschine. Unter Lokalanästhesie wird das veränderte Gewebe durch eine Hohlnadel abgesaugt. «Ich konnte diese Absaugung auf dem Ultraschall mitverfolgen», erzählt Christine M. Nach einer Stunde teilte ihr der Spezialist mit, dass er nicht alles entfernen konnte, weil der Befund zu nahe an der Brustwand sei. «Das entnommene Gewebe zeigte mir nun real, wie gross das Gebilde in der Brust war; ich konnte nicht mehr verdrängen, dass da wirklich etwas war, was auch bösartig sein könnte», sagt sie. Obwohl die erste Laborprobe gut gewesen
war, schlief sie die nächsten drei Nächte wenig. Am Telefon dann der Bescheid: Der Tumor ist kein bösartiger Krebs. Im Pathologiebericht hiess es: kein invasives Karzinom, Klassifikation B3 (siehe Glossar).
Mit der Entscheidung überfordert Damit war anzunehmen, dass der Tumor die Membran um die Drüse herum nirgends durchbrochen hatte und sich ausserhalb der Drüse vermehrte. Dennoch drängte der Arzt auf eine Operation, um auch die Abgrenzung zum Brustbein überprüfen zu können. Im Internet stiess Christine M. auf widersprüchliche Meinungen, ob bei diesem Befund eine Operation notwendig sei. «Das Risiko einer allfälligen späteren Erkrankung an einem bösartigen Krebs bezieht sich auf Zeiträume von mehr als 15 Jahren; ich
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VORSORGE
Interview:
«Das Entfernen einer Krebsvorstufe kann Brustkrebs verhindern»
Das Wort Krebsvorstufe
erschreckt. Andreas Schaub,
Gynäkologe mit Spezialisierung
auf Brustkrebsfrüherkennung,
erklärt, was diese Diagnose
bedeutet.
Sprechstunde: Was sind Krebsvorstufen? Dr. med. Andreas Schaub: Krebsvorstufen sind Gewebeveränderungen in den Milchgängen oder in den Drüsenläppchen der Brust, die sich ohne Behandlung über Jahre oder Jahrzehnte zu einem invasiven Krebs entwickeln können. Solange eine solche Veränderung abgegrenzt ist und nicht in das sie umgebende Gewebe wächst und Metastasen bildet, wird sie als nicht invasives sogenanntes sesshaftes Karzinom bezeichnet.
Wie häufig sind solche Veränderungen? Das ist schwer zu sagen. Jede vierte Frau wird einmal im Leben mit einem verdächtigen Befund konfrontiert, jede achte bis zehnte erkrankt an Brustkrebs. Dazwischen gibt es verschiedene Befunde, von gutartigen Zysten und Fibroadenomen, das sind Bindegewebegeschwulste, bis zu den Krebsvorstufen.
Weil wir erst nach der Gewebeuntersuchung erkennen können, um was es sich genau handelt. Wir wissen heute, dass sich eine unbehandelte Krebsvorstufe zu einem invasiven Brustkrebs entwickeln kann. Mit einer entsprechenden Behandlung können wir das verhindern.
Werden mit der Operation Ursache und Risiko beseitigt? Mit der richtigen Behandlung – Entfernung oder manchmal auch Bestrahlung des Befundes – wird die Krebsvorstufe entfernt. Unabhängig vom behandelten Areal bleibt aber für die betroffenen Frauen ein erhöhtes Risiko bestehen, dass sich an einer anderen Stelle in den Brüsten Brustkrebs entwickelt. Deshalb sind regelmässige Vorsorgeuntersuchungen für sie sehr wichtig.
Herr Dr. Schaub, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Wie werden solche Befunde erkannt? Man entdeckt sie im Rahmen der Vorsorgeuntersuchung über die Mammografie oder im Ultraschall als auffällige Areale. Mit einer Biopsie oder operativ wird daraus Gewebe für die histologische Beurteilung im Labor entnommen.
Warum lässt man solche Krebsvorstufen nicht einfach stehen und beobachtet sie weiter?
Andreas Schaub, Facharzt für Gynäkologie in Zürich, ist spezialisiert auf Brustkrebsfrüherkennung und -behandlung. Foto: zvg.
musste also entscheiden: einfach mal abwarten oder auf Nummer sicher gehen?» Sie sei damit ziemlich überfordert gewesen, erinnert sie sich. Deshalb holte sie eine zweite Meinung ein – bei ihrem früheren, nun pensionierten Frauenarzt, der sie seit ihrer Jugendzeit ärztlich begleitet hatte. «Als ich ihm den Laborbefund vorlegte, riet er mir ebenfalls, rasch zu operieren, weil der Knoten wachsen könne.» Tatsächlich zeigte die dritte Ultraschalluntersuchung eine leichte Vergrösserung an: Der «Tumor» war nun 14 Millimeter breit und 12 Millimeter tief.
Geblieben sind
zwei kleine Narben Ende April 2009. Der «Knoten», wie Christine M. den Fremdkörper nannte, wurde von «ihrem» Gynäkologen herausoperiert. Er riet ihr, beide Befunde herauszunehmen, weil auch links eine atypische Zellbildung (siehe Glossar) nachgewiesen worden war. «Ich musste am Morgen in die Praxis gehen, wo der Arzt die beiden verdächtigen Stellen markierte. Um 12 Uhr wurde ich von ihm ambulant unter Vollnarkose operiert, und um 17 Uhr konnte ich mit einem Verband um den Brustkorb nach Hause gehen», erinnert sie sich. Auch die dritte Laboranalyse habe dann zum Glück gezeigt, dass kein invasives Wachstum im Gewebe nachweisbar war. Nach zwei Wochen Wundpflege zu Hause blieben nur zwei kleine Narben – auf dem Ultraschall waren die «abnormalen Schatten» verschwunden. «Ich war sehr erleichtert, doch ein leises Gefühl von Angst bleibt bestehen», sagt Christine M. heute. Denn bei 1 von 10 Frauen mit einer lobulären Neoplasie kann später irgendwo in beiden Brüsten ein bösartiger Tumor auftreten.
Rita Torcasso ist freischaffende Journalistin. Sie lebt in Zürich.
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