Transkript
Interview
«Mit den Händen diagnostizieren und behandeln»
Manuelle Medizin ist eine schonende Methode, um Schmerzen an der Wirbelsäule, den Gelenken und den Muskeln zu behandeln. Welches weitere Vorteile dieser Behandlungsmethode sind und wie sie richtig angewendet wird, erklärt ein Arzt mit Zusatzausbildung in Manueller Medizin.
Dr. med. Ulrich Böhni ist spezialisiert auf Manuelle Medizin, Schmerztherapie, Rheumatologie und arbeitet in einer Praxisgemeinschaft mit Orthopäden in Schaffhausen.
Sprechstunde: Was genau versteht man unter Manueller Medizin? Dr. med. Ulrich Böhni: Die Methode besteht darin, am Patienten etwas zu diagnostizieren oder zu therapieren. Und dies mit den Händen. Gerade für Hausärzte ist Manuelle Medizin ein gutes Werkzeug. Kommt ein Patient mit Rückenschmerzen oder mit einem Hexenschuss in die Praxis, kann ihn der Arzt gleich fachgerecht und aktiv behandeln.
Manuelle Medizin wird am Bewegungsapparat angewendet? Ja, grundsätzlich am Bewegungsapparat, ich ziehe jedoch den Begriff Bewegungsorgan vor, weil der Begriff Apparat zu mechanisch ist. Dabei sind die Abläufe keineswegs mechanisch, sondern vielmehr eine gesamthafte Reaktion von Muskulatur, Nerven und Hirn.
Was ist das Entscheidende bei dieser Behandlungsmethode? Bei einem Patienten, der zum Beispiel plötzliche Schmerzen im Rücken hat, kann man mit manueller Diagnostik sehr gezielt herausfinden, wo sich die Störung oder die Blockade befindet. Der Arzt kann diese wieder lösen, etwa durch einen Handgriff. Auch bei Patienten, die schon länger Rückenschmerzen oder auch Kopfschmerzen haben, lässt sich oft die Schmerzursache lokalisieren. Der Arzt untersucht dann, was dahintersteckt, ob es die Muskulatur, die Kraft der Haltemuskulatur, die Bandscheibe oder einfach eine sogenannte Blockierung ist. Aufgrund dieser Untersuchung kann der Arzt allenfalls zusätzliche Abklärungen in die Wege leiten.
Gibt es weitere Dinge, die bei der Untersuchung zu beachten sind? Ganz wichtig und mindestens so entscheidend wie die Therapie ist die Diagnostik. Die gezielte Behandlung eines Rückenproblems setzt immer eine exakte Diagnose voraus. Wo genau die Funktionsstörung ist, wird in der manuellen Medizin am Patienten festgestellt. Ein Röntgenbild oder MRI zeigt die Strukturen, nicht aber die Schmerzen. Dazu ein weiteres Beispiel: Ein Patient steht morgens auf, bückt sich, um die Socken anzuziehen, kann sich nicht mehr aufrichten und hat einen massiven Schmerz. Das nennt man Hexenschuss. Der Patient kommt in die Praxis, und man kann ihm ein Schmerzmittel spritzen und schauen, wie sich die Sache entwickelt. Man kann den Patienten aber auch manuell untersuchen. Dann stellt man fest, dass in einer bestimmten Region der Wirbelsäule, zum Beispiel zwischen dem dritten und vierten Lendenwirbel, eine Blockierung, das heisst eine plötzliche Muskelverspannung, besteht. Mithilfe von bestimmten Handgriffen lässt sich diese lösen.
Was sind das für Handgriffe? Bei diesem Beispiel etwa bewegt man den Patienten nach links und rechts und stellt so fest, auf welcher Seite es schmerzt. Dann muss der Arzt die Region schmerzfrei mit den Händen einstellen und macht zum Beispiel eine Manipulation, bei der er mit den Händen einen kurzen Impuls gibt, um die Blockierung zu lösen. Mit Manueller Medizin lassen sich nicht nur Wirbel mobilisieren, auch Triggerpunkte der Muskeln, die verspannt sind, lassen sich behandeln. Weiter kann man eine Bewegung, die eingeschränkt ist,
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WIRBELSÄULE
FOTOS: MIT FREUNDICHER GENEHMIGUNG DES AUTORS UND DES THIEME-VERLAGS AUS BÖHNI, LAUPER, LOCHER: MANUELLE MEDIZIN 2, GEORG THIEME VERLAG 2011
Eine Behandlung bei akutem Hexenschuss.
Untersuchung der oberen Halswirbelsäule.
durch eine Art Muskelreflextherapie verbessern: Der Patient spannt die Muskeln in eine Richtung an, und wenn er wieder loslässt, ist die Muskulatur gelockert, und der Arzt kann weiter in dieser Richtung arbeiten. Auch Impulsbehandlungen gehören zur Manuellen Medizin. Der Arzt gibt dabei einen kurzen Impuls, das ist dann das Klack-Phänomen, das hörbar ist.
Wo sehen Sie die Vorteile der Manuellen Medizin gegenüber anderen ärztlichen Behandlungsmethoden? Man kann sehr rasch eine Funktionsdiagnose stellen und auch rasch etwas bewirken. Die Patienten schätzen es sehr, dass sie richtig untersucht und dabei angefasst werden und nicht zuerst ein Röntgenbild gemacht wird und der Arzt ihnen dann Tabletten verschreibt oder eine Spritze verabreicht. Ich selbst empfinde diese Tätigkeit auch als sehr angenehm, man ist mit dieser Methode schnell und effizient. Ausser-
dem lässt sich mit Manueller Medizin ein Problem oft exakter beurteilen, und es lassen sich notwendige weitere Abklärungs- oder Behandlungschritte genau planen.
Welche Rolle spielt die Berührung des Patienten? Berührung an und für sich kann schon schmerzlindernd sein aufgrund schmerzphysiologischer Zusammenhänge. Der Körper reagiert unmittelbar darauf. Berührt man eine schmerzende Stelle, verschwindet der Schmerz, lässt man los, kehrt der Schmerz zurück.
Gibt es Risiken bei der Behandlung? Manuelle Medizin ist grundsätzlich eine schonende Methode. Wenn man sie richtig anwendet, das heisst nicht mit Gewalt, dann besteht kein Risiko. Wichtig ist natürlich, dass man den Patienten nicht einfach nur manipuliert, sondern ihn erst gründlich befragt und dann untersucht. Und man muss die Grenzen se-
hen. Wenn man mit Manueller Therapie nicht weiterkommt, muss man einen Schritt weitergehen.
Wo erreicht die Manuelle Medizin ihre Grenzen? Zum Beispiel bei einem Bandscheibenvorfall, einer Entzündung oder einem Tumor an der Wirbelsäule muss man natürlich anders vorgehen. Auch bei chronischen Schmerzen braucht es zusätzliche Therapien. Dann gibt es Patienten, die immer wieder Schmerzen oder einen blockierten Halswirbel haben. Dieses Bild ist häufig, wenn man zu wenig Haltemuskulatur hat durch falsche Körperhaltung vor dem Computer. In diesen Fällen gehört auch Beratung dazu, wie man die Muskulatur stärken kann. Zum Beispiel mit einer Physiotherapie und später vielleicht in Richtung Krafttraining.
Herr Dr. Böhni, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Karin Diodà.
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