Transkript
DIE WIRBELSÄULE
Die Wirbelsäule bildet die knöcherne Mitte des Körpers und verbindet alle Teile des Skelettes miteinander. Sie ist in fünf Abschnitte gegliedert.
Halswirbel Zuoberst befinden sich die 7 Halswirbel. Der erste Wirbel, ein kleiner knöcherner Ring, heisst Atlas. Auf ihm sitzt der Schädelknochen. Zusammen mit Axis, dem zweiten Halswirbel sorgt der Atlas dafür, dass wir den Kopf bewegen können.
Brustwirbel Von den 12 Brustwirbeln gehen 12 Rippenpaare ab, die sich in einem Bogen nach vorne wölben und den Brustkorb bilden. Die Dornfortsätze überlagern sich wie Dachziegel.
Lendenwirbel Diese 5 grossen und starken Wirbel tragen den grössten Teil des Körpergewichtes. Durch den aufrechten Gang ist die Lendenwirbelsäule stark belastet, über 75 Prozent der Rückenschmerzen entstehen in diesem Bereich.
Bandscheibe Rückenmark Wirbelkörper Spiralnerv
Dornfortsatz
Kreuzbein Hier sind im Verlauf der Evolution die ursprünglich fünf Wirbel zu einem Wirbel verwachsen.
Steissbein Zuunterst befindet sich das Steissbein, das meist aus vier verkümmerten Wirbeln besteht. Diese bildeten vor Urzeiten einen Schwanz.
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WIRBELSÄULE
Bandscheibenvorfall - das geht gehörig auf die Nerven
Ein Bandscheibenvorfall tritt meist an der Lendenwirbelsäule auf und kann starke Beinschmerzen oder gar Lähmungen verursachen. Eine Operation ist nur dann notwendig, wenn Lähmungen bestehen oder die Schmerzen nach Wochen nicht abklingen. In den meisten Fällen helfen Medikamente und Physiotherapie.
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von Helen Weiss*
Der weiche Kern der Bandscheibe drückt auf einen Nerv.
Die Bandscheiben dienen als elastische Puffer zwischen den Wirbelkörpern und bestehen aus einem weichen Gallertkern sowie einem Faserring, der den Gallertkern umschliesst. Bei Belastungen der Wirbelsäule fangen die Bandscheiben Erschütterungen und Stösse ab. Es kann vorkommen, dass der weiche Gallertkern der Bandscheibe, der sogenannte Nucleus pulposus, durch Einrisse im Faserring nach hinten und aussen wandert und auf einen Nerv drückt: Dann spricht man von einem Bandscheibenvorfall. «Je nach Druck auf die Nerven können mehr oder weniger heftige Beinschmerzen, Gefühlsstörungen oder sogar Lähmungen auftreten», erklärt Bernhard Jeanneret, Chefarzt der Wirbelsäulenchirurgie am Behandlungszentrum Bewegungsapparat des Universitätsspitals Basel. Im Gegensatz zur landläufigen Meinung äussert sich ein Bandscheibenvorfall nicht hauptsächlich durch Rücken-
schmerzen, sondern durch in das Bein ausstrahlende Schmerzen, wie Jeanneret betont: «Je nachdem, welcher Nerv betroffen ist, strahlt der Schmerz etwa vom Gesäss bis zum äusseren Fussrand, zur Grosszehe oder zum Knie aus.» Bei einem Bandscheibenvorfall in der Halsgegend strahlen die Schmerzen dagegen in den Arm aus, im Brustwirbelsäulenbereich in die Flanke. Durch den Druck auf die Nerven können auch Gefühlsstörungen oder Lähmungen auftreten. Der Patient kann etwa nicht mehr auf den Zehenspitzen stehen oder auf der Ferse gehen. Bei Druck auf das Rückenmark können zudem auch Blasen- oder Darmlähmungen auftreten, was zu Inkontinenz von Blase und Darm führt.
Typische Verschleisserscheinung Die Ursache des Bandscheibenvorfalls ist nicht etwa – wie häufig propagiert – eine traumatische Überbelastung der Wirbelsäule, sondern vielmehr eine Abnut-
zungserscheinung, die mit dem Alterungsprozess einhergeht, wie Jeanneret erklärt: «Bandscheiben sind als Gelenke der Wirbelsäule im Laufe des Lebens diversen Verschleisserscheinungen ausgesetzt.» Sie werden spröde, es bilden sich Risse. Durch eine falsche Bewegung oder auch durch einen kleinen «Unfall» – beispielsweise einen Misstritt – tritt der Gallertkern durch den Riss im Faserring aus. Da ein Bandscheibenvorfall Folge einer natürlichen Verschleisserscheinung ist, kann man kaum vorbeugen.
Bandscheibenvorfall ohne Beschwerden Ein Bandscheibenvorfall kann jedoch auch unbemerkt bleiben, wie eine Studie aus den USA zeigt. MRT-Untersuchungen (Magnetresonanztomografie) der Lendenwirbelsäule an beschwerdefreien Patienten haben Erstaunliches aufgedeckt: Bei rund der Hälfte der Studienteilnehmer konnte eine Vorwölbung der Bandscheibe nachgewiesen werden. 27 Pro-
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Ein grosser Bandscheibenvorfall zwischen dem 4. und dem 5. Lendenwirbel.
zent der Patienten zeigten gar einen Bandscheibenvorfall und bei 38 Prozent blieben die Veränderungen nicht nur auf eine Bandscheibe beschränkt. Diese Ergebnisse zeigen deutlich auf, dass ein Bandscheibenvorfall bei Weitem nicht immer mit Schmerzen verbunden sein muss. «Leidet der Patient nicht unter Schmerzen oder Lähmungen, muss ein Bandscheibenvorfall auch nicht behandelt werden», so Jeanneret.
Diagnose Bandscheibenvorfall «Die MRT ist das beste Instrument, um einen Bandscheibenvorfall bildlich darzustellen», erklärt der Arzt. Alleine darauf könne man sich aber nicht abstützen, gerade weil viele Vorfälle ohne jegliche Schmerzen aufträten: «Die vom Patienten angegebenen Beschwerden müssen diesem Befund zugeordnet werden können. Eine sichere Diagnose ist erst dann möglich, wenn der MRT-Befund auch anatomisch tatsächlich die Beschwerden erklären kann.»
Muskelentspannung fördern Bei der Therapie gilt es, den Patienten von den zum Teil starken Schmerzen zu befreien, die durch den Druck auf den Nerv entstehen. Akute, intensive Schmer-
zen werden mit Schmerzmitteln behandelt. Daneben kann die Muskulatur medikamentös und durch Massagen und Physiotherapie entspannt werden. «Kortisonspritzen rund um den betroffenen Nerv können zudem zu einer rascheren Linderung der Schmerzen führen. Wichtig ist, dass sich der Patient umsorgt und wieder wohl fühlt», sagt Jeanneret. «Grundsätzlich ist zu beachten, dass das ausgetretene Material des Gallertkerns schrumpfen kann. Dann lassen auch die Schmerzen allmählich nach, weil das ausgetretene Material die Nerven nicht mehr reizt», erklärt Jeanneret. Eine Operation ist deshalb bei Weitem nicht immer notwendig. Eine klinische Studie mit 1244 Bandscheibenpatienten aus dem Jahr 2006 zeigt, dass es – allerdings erst nach mehreren Jahren – keine signifikanten Unterschiede zwischen den Resultaten nach einer Operation und nach einem konservativen, nicht operativen Vorgehen gibt. «Allerdings leiden die operierten Patienten viel weniger lang an den Schmerzen als die nicht operierten», so Jeanneret.
Wann ist eine Operation
notwendig? Operationen sind bei Bandscheibenvorfällen umstritten. Grund dafür sind einerseits schlechte Ergebnisse nach un-
nötigen Operationen. Andererseits wird bei Patienten mit Schmerzen nicht selten vorschnell ein Eingriff durchgeführt, obwohl auch eine konservative Behandlung in sechs bis acht Wochen zu einer deutlichen Besserung führt. Bei Vorliegen einer Lähmung oder in Extremfällen wie bei einer Stuhl- oder Harninkontinenz oder auch beim Querschnittsyndrom – wo die Gallertmasse auf das Rückenmark drückt und dadurch eine Querschnittlähmung auslöst – ist ein operativer Eingriff jedoch unumgänglich und sinnvoll. Er muss eventuell sogar notfallmässig vorgenommen werden. Leidet der Patient über längere Zeit, also sechs bis acht Wochen, unter starken Schmerzen, rät Jeanneret ebenfalls zu einer Operation, auch wenn keine Lähmung vorliegt. Die Bandscheibenoperation ist eine der weltweit am häufigsten durchgeführte Operation. Jeanneret: «Trotz aller Kritik ist sie, wenn sie zum richtigen Zeitpunkt und beim richtigen Patienten durchgeführt wird, eine hervorragende Behandlungsmethode, welche eine sofortige Linderung der Beinschmerzen bei über 90 Prozent der Patienten zur Folge hat.»
*Helen Weiss ist freischaffende Journalistin. Sie lebt in Basel.
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