Transkript
ILLUSTRATION: WA-DESIGN
1 I 12
11
A 2
10
9
1 Felsennelke
2 Bitterkraut
3 Ackerwinde
4 Pippau
5 Doldiger Milchstern
6 Seerose
7 Gemeines Steinkraut
8 Graslilie
9 Langhaariges
A
Habichtskraut
B
10 Acker-Ringelblume C
11 Wiesensalbei
D
12 Kleine Malve
E
8
Gartenrotschwanz
Amsel
F
Kohlmeise
G
Buchfink
H
Grünfink
I
7
Girlitz Star Bachstelze Waldkauz
6 H
B 3
C
4D
E
5
F G
Wer erfand die Uhr?
Nicht die Schweizer – sondern die Natur
Die Schweiz steht nicht nur für Schokolade, Käse und Maschinen; sie ist vor allem das Land der mechanischen Zeitmessung. Die 1601 gegründete Maîtrise des horlogers de Genève war die wohl erste Uhrmacherzunft der Welt. Trotzdem erfanden nicht die Schweizer die Uhr; es war die Natur.
von Heini Hofmann*
Z war gab es vor der elektronischen und mechanischen Uhr auch schon Zeitmesser, so die Sonnenuhr mit dem wandernden Schatten, die Wasser- und Sanduhr sowie die Öl- und Kerzenuhr. Doch bevor sich der Mensch mit Zeitmessung befasste, kannte die Natur längst die biologische, die sogenannte innere Uhr, ein ausgeklügeltes Meisterwerk, gegen das jeder Chronometer verblasst.
Blumen und Vögel beobachten Je zivilisierter die Menschheit wurde, desto mehr verspürte sie das Verlangen nach Einteilung und Messung der Zeit,
dieses kostbaren, aber vergänglichen Gutes. Die banale Frage «Wie spät ist es?» wurde zur Standardredewendung. Doch was tun, wenn keine Uhr zugegen ist? Ganz einfach: auf die Vögel hören und die Blumen beobachten. So legte der berühmte schwedische Naturforscher Carl von Linné bereits 1751 eine Blumenuhr vor, die auf dem zeitlich gestaffelten Sichöffnen und -schliessen verschiedener Blütenpflanzen basierte und recht präzise zu sein schien. Noch detaillierter versuchte eine Vogeluhr aus dem 19. Jahrhundert eine Skala der Zeitmessung zu konstruieren. Eine Kostprobe: 1.30 bis 2.00 Uhr Buchfink,
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BIOLOGISCHE UHR
2.00 bis 2.30 Mönchsgrasmücke, 2.30 bis 3.00 Wachtel, 3.00 bis 3.30 Weissbartgrasmücke, 3.30 bis 4.00 Amsel, 4.00 bis 4.30 Pirol, 4.30 bis 5.00 Weidenmeise, 5.00 bis 5.30 Hausspatz. Nun, jeder Frühaufsteher und Naturfreund weiss, dass dieser Bio-Chronometer nicht allzu ernst genommen werden darf. Vögel zwitschern zwar zu festen Zeiten, jedoch zeitlich überlappend.
Die innere, biologische Uhr Heute trägt praktisch jeder Mensch eine Uhr am Arm, und fast überall, wo man sich aufhält, befinden sich Zeitmesser. Doch auch in unserem Körper ticken Uhren, und zwar Abermillionen. Das ganze Leben ist chronometriert, und alle Lebewesen, ob Mensch oder Einzeller, richten sich in ihrer Tagesrhythmik nach inneren, biologischen Uhren. Diese molekularen Schrittmacher steuern – der Erdrotation gehorchend – einen Grossteil der biologischen Funktionen in einer Periode von ungefähr 24 Stunden. Dafür hat man den Begriff zirkadianer (von lat. circa [ungefähr] und dies [Tag]) Rhythmus geprägt; er wird gesteuert durch Lichtwahrnehmung über noch nicht schlüssig erforschte Rezeptoren. Die Wissenschaft, die sich damit beschäftigt, heisst Chronobiologie. Diese innere Uhr regelt den Tagesrhythmus. Sie hilft uns zum Beispiel beim Einschlafen oder Erwachen, kann uns aber auch irritieren, als Jetlag bei Reisen in andere Zeitzonen. Eine Missachtung des Biorhythmus kann zu chronischen Erkrankungen führen, etwa bei Schichtarbeitern, oder zu Konzentrationseinbussen, was die Häufung von Industriestöranfällen in den frühen Morgenstunden belegt.
Angeborenes Zeitgefühl Wie eine innere Uhr funktioniert, zeigt das Beispiel der Zugvögel, die sich nicht nach dem Wetter richten, sondern am saisonalen Verlauf der Tageslänge orientieren. Werden die Tage im Herbst kürzer, beginnen sie mit den Vorbereitungen für den Distanzflug durch Aufbau von Fettreserven. Bereits zuvor, in der sommerlichen Mauser, haben sie ihr Federkleid erneuert – vergleichbar dem
grossen Service beim Auto vor der Ferienfahrt. Als Reiseproviant und Treibstoffreserve fressen sie sich ein zünftiges Fettpolster an, oft bis zur Verdoppelung des Eigengewichts. Und weil sich mit kohlehydratreicher und eiweissarmer Diät Fettdepots rascher aufbauen lassen, stellen einige Vogelarten, wie zum Beispiel Grasmücken, sogar ihren Speisezettel von Insekten auf Beeren um. Selbst der Stoffwechsel wird während der Zugzeit derart umgestellt, dass die Vögel während des Langdistanzflugs bis zu 95 Prozent der notwendigen Betriebsenergie aus dem Körperfett beziehen können. Aber nicht nur die Physiologie, auch das Verhalten wird von der inneren Uhr umgepolt. Vor dem Zug werden viele tagaktive Vögel plötzlich nachtaktiv. Selbst gefangen gehaltene Zugvögel zeigen diese nächtliche Unrast mit Hüpfen und Flattern. Diese Aktivitäten sind auf die angeborene Zugrichtung ausgerichtet und bei Langstreckenfliegern ausgeprägter als bei Kurzstreckenziehern. Das deutet auf ein vererbtes Richtungs- und Distanzgefühl hin.
Keine Bahnhofuhren Als man Ende der Fünfzigerjahre die biologischen Uhren bei Fliegen und Menschen entdeckte, ging man noch davon aus, dass ein solcher Zeitgeber nur im Gehirn angesiedelt sein könne. Doch dann wurden zirkadiane Rhythmen auch in Bakterien, Pilzen und Pflanzen nachgewiesen, die über keine zentralen Steuerungsmechanismen verfügen. Man erkannte, dass auch Körperzellen über eigene biologische Uhren verfügen. Die neuere Forschung konnte aufzeigen, dass es auch in Organgeweben und Einzelzellen Taktgeber gibt, die autonome Biozeitgeber darstellen. Diese funktionieren unabhängig von einer zentralen Schaltstelle, sie hängen also nicht wie etwa Bahnhofuhren an einer Mutteruhr. Und dennoch scheint es einen Zusammenhang zu geben, indem die dezentralen Uhren der Wirbeltiere mit der Zirbeldrüse im Gehirn zusammenarbeiten, welche durch Ausschüttung des Schlafhormons Melatonin den Tagesrhythmus steuert.
Geniales Clock-Gen Momentan wird intensiv nach dem verantwortlichen Lichtempfänger tierlicher Biouhren geforscht. Nachdem feststand, dass die beiden Rezeptortypen der Netzhaut, das heisst Zapfen und Stäbchen, für die Eichung der Biouhr entbehrlich sind, konzentriert sich jetzt das Interesse auf die sowohl bei Tieren wie Pflanzen verbreitete Gruppe von lichtaktiven Substanzen. Sie heissen, entsprechend ihrer noch nicht enträtselten Funktion, Cryptochrome. Man nimmt an, dass diese Substanzen Impulse ans Gehirn senden, das dann Botenstoffe in die Blutbahn abgibt und so die Milliarden von Körperuhren mit der Erdrotation abstimmt. Weil der Zebrafisch eines der genetisch bestuntersuchten Wirbeltiere ist, wurde an ihm die Aktivität des sogenannten Clock-Gens untersucht, das im Tierreich massgebend für das Funktionieren der zirkadianen Uhr verantwortlich ist. Zur Ermittlung der Aktivität dieses ClockGens mass man die Konzentration der Boten-RNA, welche die Proteinproduktion steuert. Und siehe da: Die Clock-Aktivität schwankte im Tagesablauf nicht bloss im Gehirn, sondern auch in andern Organen. Was wiederum dafür spricht, dass es sich bei den dezentralen Uhren nicht bloss um externe Zifferblätter einer Zentraluhr handelt.
Die Schicksalsuhr Neben der zirkadianen Uhr, welche die periodischen Abläufe des Lebens steuert, gibt es auch noch die langsamer, aber umso unerbittlicher «tickende» Lebensuhr. Sie bestimmt, wann die ersten Barthaare spriessen oder wann sich die weibliche Brust zu entwickeln beginnt, wann das Körperwachstum aufhört, wann die Haut altert und die Haare ergrauen. Dieser Schicksals-Chronometer, der individuell die Lebensspanne bemisst und über dessen Funktionsweise man noch rätselt, gleicht einer auslaufenden Sanduhr, die kein Sterblicher umdrehen kann, und die eines Tages – stillsteht.
*Heini Hofmann war früher Zoo- und Zirkustierarzt, heute arbeitet er als freier Wissenschaftspublizist.
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