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Kaffeeersatz: Muckefuck und Plämpel und Hutzelwasser
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Kräuterpfarrer Johannes Künzle setzte sich für Gesundheitskaffee ein und warb für Virgo.

Die Surrogate versuchten sich gegenseitig zu übertrumpften: Linde’s ja – der schmeckt!

Für Kathreiner Malzkaffee machte sich kein Geringerer als Pfarrer Sebastian Kneipp stark.

«Aecht Franck CaffeeZusatz» – eine der damals wohl bekanntesten Surrogat-Marken.

Hibler’s Feigenkaffee: stehen für heimisch un

Muckefuck, Plämpel und Hutzelwasser

Was heute selbstverständlich ist, war früher purer Luxus: der Kaffeekonsum. Deshalb wurde in den europäischen Ländern ohne Kolonien 300 Jahre lang mehr Kaffeeersatz getrunken als echter Bohnenkaffee. Heute sind Kaffeesurrogate ein Nischenprodukt, das nicht nur von Nostalgikern geschätzt wird.

Bezeichnungen

für Kaffeeersatz

Adlerkaffee, Allerweltskaffee,

Blauer Kaffee, Blümchenkaffee, Chemi-

scher Fruchtkaffee, Damenkaffee, Ge-

sundheitskaffee, Hutzelwasser, Kaffee-

pansch, Konsumkaffee, Kraftkaffee,

Lätsch, Muckefuck, Päckli-Kaffee, Pläm-

pel, Sanitätskaffee, Schlapper Kaffee,

Schweizerkaffee, Sparkaffee, Volkskaffee,

Wegluegere Kafi

HH

Die Ursprünge des Bohnenkaffees liegen in Äthiopien. Bis Anfang des 17. Jahrhunderts blieben Anbau und Konsum mehrheitlich auf den arabischen Raum beschränkt. Dann gelangte das Exotikum Mitte des 17. Jahrhunderts via kaffeepflanzende Kolonien (vorab holländische und französische) nach Europa, doch die sehr frostempfindliche Kaffeepflanze konnte die warmen Länder nicht verlassen. Echter Kaffee blieb ein teures Privileg. Deshalb wurde Kaffeeersatz aus einheimischen Pflanzen angebaut. Die Werbebotschaften für den Kaffee der armen Leute setzten auf identitätsstiftende, nationale Symbolik; so warb zum Beispiel eine Zichorienfabrik in Renens mit Nationalheld Wilhelm Tell, Hilber’s Feigenkaffee in Österreich mit Edelweiss und Alpenrosen, oder auch Trachtenfrauen standen für volksverbundene, gesunde und zudem inländische Produkte.

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KAFFEEERSATZ

Die Kaffeemühle auf der Franck AromaPackung war ein geläufiges Markenzeichen.
Trachtenmädchen und Bergblumen nd gesund.
von Heini Hofmann*
Eine enorme Palette Ausgangssubstanzen für die Kaffeeersatzstoffe waren Wurzelgewächse und Getreide, getrocknete Früchte und Nüsse sowie Samen, Kerne und Hülsenfrüchte. Aus nahezu allem, was die Natur hergab, wurde Kaffeesurrogat gemacht. Doch vieles konnte sich nicht halten und verschwand wieder, wie etwa die früher häufig verwendeten Erdmandeln, wohl weil sie geschmacklich nicht sonderlich überzeugten. Die Verarbeitung der Ersatzstoffe für den Eigengebrauch umfasste die folgenden Schritte: Erlesen und Waschen der Pflanzenteile, Zerkleinern in gleichmässige Stücke, Trocknen, Rösten und Mahlen. Bei Malz-, Eichel- und Kastanienkaffee war zudem vorgängiges Einweichen notwendig. Und von den Steinobstkernen konnte nur der innere, weiche Teil verwendet werden.

Kaffee aus Zichorien (Blauer Kaffee) und aus anderen einheimischen Produkten gehörte auf den Esstisch der Bauern und Arbeiter wie Kartoffeln und Brot. Über Generationen hinweg waren die scham- oder schalkhaften Bezeichnungen für Kaffeeersatz im Sprachgebrauch fest verankert.
Wichtiger Röstprozess Obschon Surrogate oder Mixturen davon ein ausgewogenes, ja ansprechendes Geschmacksresultat aufwiesen, konnten sie das Aromabouquet des Bohnenkaffees mit seinen fast 1000 Geruchskomponenten nie erreichen. Auch fehlte all diesen Ersatzkaffees die psychoaktive Substanz Koffein. Die Kaffeeähnlichkeit – bezüglich Geschmack und Farbe – wurde durch den Röstvorgang erzielt; denn ungerösteter Kaffee(ersatz) wäre gar nicht trinkbar. Zur Röstung für den Heimgebrauch gelangten früher Röstzangen, Pfannen und Trommelröster, aber auch einfache Bleche zum Einsatz. Bei relativ starker Hitze wurden die jeweiligen Surrogate unter stetem Umrühren beziehungsweise Drehen direkt über dem offenen Feuer geröstet. Die Kunst bestand darin, anhand der Färbung des Röstguts (typisches Kaffeebraun) den Endpunkt des Röstprozesses zu erkennen und ein Verkohlen zu verhindern.
Die Kaffeeriecher Verzweifelt versuchte im 18. Jahrhundert die Obrigkeit, den offenbar schon weitverbreiteten Konsum von Echtkaffee in den Unterschichten zu verbieten. Man wollte verhindern, dass das einfache Volk wegen des teuren Exotengetränks gänzlich verarmt. So liess etwa der Erzbischof von Köln 1766 verkünden, dass «die Erfahrung zeiget, dass durch solchen sich immer mehr ausbreitenden Gebrauch des Thée und Caffée viele Zeit ohne Gewinn und Nutzen zugebracht, Knechte, Mägde, Taglöhner und andere Leute zur schädlichen Verschwendung ihres verdienten Lohns verführet». Weder das Ausschenken und Trinken, noch das Aufbewahren von Kaffee waren erlaubt, ja sogar der Besitz von Kaffeegeschirr blieb untersagt. Zur Kontrolle

wurden sogenannte Kaffeeriecher eingesetzt. Auch in der Schweiz wurde moniert: «Kaffi, Thee und Leckerli, bringed de Bur ums Äckerli.» Während Adlige und Bürgerliche für den echten Bohnenkaffee goldverziertes Porzellan verwendeten, waren es beim Surrogatproletariat schlicht bemalte Steinguttassen.
Zichorienindustrie Solche Kaffeeverbote förderten ungewollt die Surrogatproduktion und es etablierte sich eine eigentliche Kaffeeersatzindustrie. Trotzdem standen Surrogate und Bohnenkaffee in keinem direkten Konkurrenzverhältnis: Der Konsum von
Kleine Surrogatauswahl
Pflanzen, aus denen sich «Kaffee» herstellen lässt:
• Wurzelgewächse: Zichorie (Wegwarte), Karotten, Kartoffeln, Sellerie, Erdnüsse, Erdmandeln
• Getreidefrüchte: Gerste, Roggen, Weizen, Dinkel, Hafer, Hirse, Sago, Buchweizen
• Samen, Kerne, Hülsenfrüchte: Eicheln, Lupinen, Kastanien, Kichererbsen, Bohnen, Sonnenblumenkerne, Kirschkerne, Dattelkerne, Leinsamen, Kürbiskerne
• Getrocknete Früchte, Nüsse: Feigen, Äpfel, Birnen, Kastanien, Nüsse, Mandeln, Hagebutten
• Andere Grundsubstanzen: Brotkruste, Malz, Trester, Karamel HH

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FOTOS: JOHANN JACOBS MUSEUM

ERNÄHRUNG

FOTOS: JOHANN JACOBS MUSEUM

„Verbott wegen des Thée- und Caffée-Trinckens“, erlassen 1766 vom Erzbischof von Köln.
Bohnenkaffee und derjenige von Surrogaten stieg parallel an. Um 1900 wurden weltweit 494 000 Tonnen Röstkaffee produziert, im Vergleich dazu in Europa 273 000 Tonnen Zichorienpulver. Zichorienpionier war Major Christian von Heine in Braunschweig, der 1769 ein staatliches Monopol mit Schutzsiegel zugesprochen erhielt. Das kam so: Seine Frau, geborene Reichsgräfin, wurde auf der Flucht im Siebenjährigen Krieg von plündernden Soldaten in ihrer Kalesche überfallen und erlitt einen Nervenschock. Ihr Leibarzt verschrieb ihr zur Stärkung den bitteren Saft der Zichorienwurzel. Da ihr das Zeug nicht schmeckte, kam sie auf die Idee, es zu trocknen und zu rösten und daraus einen Sud zu machen – womit sie ihrem Mann die Idee für den Kaffeeersatz geliefert hatte …
Das Johann-Jacobs-Museum in Zürich beherbergt unter anderem die weltgrösste Kaffeebibliothek.

Als dann im 19. Jahrhundert die Surrogatfabriken wie Pilze aus dem Boden schossen, wurde das Schutzsiegel durch die Schutzmarke abgelöst. Bekanntes Beispiel ist die 1828 im württembergischen Vaihingen gegründete Firma Heinrich Franck Söhne. Deren Markenzeichen für das Zichorienpulver und für das später in Basel produzierte Franck Aroma, eine stilisierte Kaffeemühle, wurde zum Begriff. In der Schweiz gab es 1885 bereits 29 Kaffeeersatzfabriken.
Gefälschter Kaffee (-ersatz) Wie bei allen Nahrungs- und Genussmitteln, gab es auch bei den Kaffeeersatzstoffen Fälschungen, indem skrupellose Profiteure die Surrogate mit billigsten Substanzen ähnlicher Farbe und Konsistenz streckten. So wurden etwa Mehl, Zwieback oder Kaffeesatz, aber auch gemahlene Wurzeln und Baumrinde, ja sogar Erde, Torf und Ziegelmehl beigemengt – wohl mit ein Grund, dass Surrogate oft als übel riechend bezeichnet wurden. Die seriösen Hersteller schützten sich dagegen mittels Produktmarken, Echtheitsbezeugungen und Empfehlungen durch Fachleute. Ab dem 19. Jahrhundert überführten die aufkommenden Lebensmittelinspektorate die Betrüger. Da Bohnenkaffee um ein Vielfaches teurer war als die Ersatzstoffe, wurde auch dieser gefälscht und mit billigen Surrogaten vermischt.
Gesund soll das Getränk sein Die Ernährungsreform im 19. Jahrhundert war nicht nur dem koffeinhaltigen Bohnenkaffee abhold, sondern taxierte auch den Zichorienkaffee despektierlich als «Zuckerwasser mit brauner Farbe und bitterem Geschmack». Sie plädierte für einen höheren Nährwert des Massengetränks und propagierte daher den Gesundheitskaffee aus Getreide, Malz, Feigen, Eicheln und Früchten. Hauptzielgruppen waren neben Betagten und Kranken auch Kinder und Jugendliche. Nicht von ungefähr wurden Letztere oft als Werbeträger eingesetzt. Pfarrer Sebastian Kneipp (1821–1897) im

bayrischen Wörishofen empfahl die Gesundheitskaffees aus Getreide, Malz und Eicheln und bewarb persönlich den (später auch in Solothurn hergestellten) Kathreiner Malzkaffee. Auch der Schweizer Kräuterpfarrer Johannes Künzle (1857–1945) war ein vehementer Gegner des Bohnenkaffees und warb für das Oltner Virgo Kaffeesurrogat aus Getreide und Früchten. Der Name Virgo (lateinisch: Jungfrau) sollte, zusammen mit der auf der Packung abgebildeten hehren Bergwelt, für die Reinheit des Produkts bürgen.
Heute ein Nischen-
produkt Krisenzeiten bewirkten stets einen Anstieg des Surrogatkonsums.Während der beiden Weltkriege wurden sowohl Bohnenkaffee als auch Kaffeesurrogate zur rationierten Mangelware. Dadurch gab es immer gewagtere Experimente mit Ersatzprodukten (z.B. Dahlienknollen). Die Schweiz deckte ihren Kaffeebedarf bis zum Zweiten Weltkrieg zu rund 50 Prozent durch Surrogate, die in den Nachkriegsjahren noch lange mit negativen Erinnerungen an Entbehrung behaftet blieben. Erst seit dem «Wirtschaftswunder» der Fünfzigerjahre konnten sich alle Bevölkerungsschichten reinen Bohnenkaffee leisten, womit die Surrogate verschwanden, allerdings nicht ganz. Heute ist Kaffeeersatz vorwiegend als Instant- oder gemahlener Filterkaffee im Handel. Ja, es gibt sogar Wiederbelebungsversuche, so beim Altreier Alpenkaffee (Grenze Südtirol/Trentino), welcher aus Lupinen hergestellt wird, die nun im Rahmen eines EU-Projekts erneut angebaut werden. Vom Arme-Leute-Image hat sich der Surrogatkaffee inzwischen weitgehend befreit. Besonders bekömmliche Mischungen aus Getreide, Malz, Feigen, Eicheln, Zichorien und Obst bilden heute ein etabliertes Nischenprodukt. Geschätzt wird es von Leuten mit Koffeinunverträglichkeit und von stillenden Müttern – oder es wird ganz einfach aus Nostalgie konsumiert.
*Heini Hofmann war früher Zoo- und Zirkustierarzt, heute arbeitet er als freier Wissenschaftspublizist.

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