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Der Wert der Pflege
In der Schweiz werden rund 250 000 Betagte von ihren Angehörigen betreut oder gepflegt. Für Aussenstehende ist nicht
M aria Landolt** nahm vor einem Jahr ihre Mutter zu sich. Die 80-Jährige konnte nicht mehr alleine in ihrer Wohnung leben, weil sie
immer sichtbar, wie viel Arbeit und Auf-
an Demenz leidet. Im Haushalt der
wand dies bedeutet. Mit einem Betreuungs- und Pflegevertrag können Angehö-
Tochter hat sie eine Tagesstruktur, und es ist immer jemand anwesend. Maria Landolt ist mit einem 80-Prozent-
rige die finanzielle Entschädigung und
Pensum als Pflegehilfe in einem Alters-
eine verbindliche Entlastung regeln.
heim tätig, ihre Kinder sind ausgeflogen. «Mein Mann arbeitet Schicht, und
von Rita Torcasso*
ich kann die Arbeitszeiten so legen, dass
sie sich möglichst wenig überschneiden,
ausserdem wohnt
ein Schwager im
selben Haus», sagt
sie.
Vor einem halben
Jahr schloss Maria
Landolt mit der
Mutter einen Pfle-
gevertrag ab, der
ein Entgelt für
Wohnen, Essen
und Betreuung re-
gelt. Damit ist sie
wohl eher eine
Ausnahme, ob-
wohl die Pro Se-
nectute Schweiz
Toni Räber, Sozialberater bei Pro Senectute, im Gespräch mit einem Klienten. seit 20 Jahren
Beratung und einen Mustervertrag anbietet. «Unser Ziel war damals, die ambulante Pflege aufzuwerten», sagt Marianne Weber, Leiterin Fachstelle Sozialberatung und Information bei Pro Senectute Schweiz. Sie betont: «Es ist wichtig, dass die Pflegenden zusammen mit den Betreuten die Frage klären, welche Leistungen sie erbringen können und wofür sie eine finanzielle Entschädigung erwarten.» Heute werden 6 von 10 Pflegebedürftigen zu Hause gepflegt, bei zwei Dritteln von ihnen leisten Töchter, seltener auch Söhne, die Betreuungs- und Pflegearbeit.
Nicht einfach selbst-
verständlich «Ich liess mich bei der Pro-SenectuteStelle an meinem Wohnort beraten», erzählt Maria Landolt. Nach einer «Familienkonferenz» mit ihren fünf Geschwistern habe sie den Vertrag dann zusammen mit dem Sozialberater aufgesetzt. Zum Vertrag gehören Empfehlungen: Neben dem Mietanteil werden 630 bis 810 Franken für das Essen und 120 bis 160 Franken für die Wäsche berechnet; für Haushalt, Pflege und Betreuung gilt ein Stundenlohn zwischen 20 und 25 Franken. «Diese offiziellen Empfeh-
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PFLEGE
Pflege kostet
Hilflosenentschädigung erhalten Betagte, die auf dauernde Hilfe angewiesen sind. Bisher wurde sie für mittlere und schwere Beeinträchtigungen ausbezahlt, ab 2011 auch für leichtere. Info: www.ahv-iv.info/andere/00134/00143/index.html?lang=de Ergänzungsleistungen zur AHV-Rente erhalten Betagte, deren Lebenskosten nicht gedeckt sind und/oder Angehörige, die aufgrund ihrer Pflege eine länger dauernde Erwerbseinbusse erleiden. Info: www.ahv-iv.info/andere/00134/00221/index.html?lang=de Betreuungsgutschriften erhalten Betreuende im Erwerbsalter für die Pflege Angehöriger, wenn diese im selben Haushalt, Wohnhaus oder auf demselben Grundstück leben und bereits Anspruch auf Hilflosenentschädigung haben. Erforderlich ist ein Antrag an die AHV-Ausgleichskasse.
lungen waren hilfreich, um überhaupt eine Idee zu haben, was meine Leistungen wert sind», bemerkt Landolt. Eine weitere wichtige Regelung betrifft die Betreuung während ihrer Ferienabwesenheit und die Vollmachtsüberschreibung. «Viele Angehörige haben zuerst einmal ein schlechtes Gewissen, wenn sie für die Unterstützung der Eltern Geld verlangen», sagt der Sozialarbeiter Toni Räber, der für die Pro Senectute des Kantons Luzern Sozialberatung anbietet. Vor allem Frauen, die nicht erwerbstätig seien, betrachteten es oft als ihre Pflicht, beide Eltern oder einen Elternteil zu pflegen, so seine Erfahrung. Maria Lan-dolt ergänzt: «Der Vertrag bedeutete für mich auch, dass ich mich nach einem halben Jahr Probezeit bewusst entscheiden musste, ob ich die Pflege langfristig übernehmen will.» Bei dieser Entscheidungsfindung hilft eine Checkliste, die mit zum Vertrag gehört. Toni Räber erklärt dazu, dass viele Pflegende sich diese Frage gar nie bewusst stellen: «Beratung wird leider sehr oft erst gesucht, wenn ihnen die Belastung über den Kopf gewachsen ist.» Seine Aufgabe sieht der Sozialberater vor allem darin, Fragen zu stellen: Sind Pflege und Erwerbsarbeit vereinbar, welche Vorstellungen hat die pflegende Person, und was sind die Erwartungen der pflegebedürftigen Person, helfen Geschwister regelmässig mit, braucht es allenfalls eine externe Unterstützung wie Spitex oder Mahlzeitendienst? Räber weiss aus Erfahrung: «Wenn Pflegende genügend entlastet werden und Wertschätzung erhalten, ist das die beste Garantie dafür, dass die Pflegebedürftigen gut und liebevoll betreut werden.»
Rechtlich bindend Zahlen über abgeschlossene Pflegeverträge gibt es keine. Dass ein Bedürfnis besteht, zeigen die Downloads im Internet: In den letzten 12 Monaten wurde der Vertrag 5000-mal von der Internetseite der Pro Senectute Schweiz heruntergeladen. Ein Pflegevertrag ist rechtlich bindend und kann deshalb nur abgeschlossen werden, wenn beide Parteien urteilsfähig sind. Im Zweifelsfall sollte der Hausarzt eine Bestätigung ausstellen. Es ist auch möglich, den Vertrag mit Geschwistern abzuschliessen oder die Vormundschaftsbehörde einzuschalten. «Es ist wichtig, das Thema früh genug in der Familie anzusprechen», betont Maria Landolt. «Ich bin froh, dass wir noch rechtzeitig eine Regelung vereinbaren konnten, heute wäre die Mutter dazu nicht mehr imstande.» Ein Pflegevertrag entlastet – nicht nur die pflegende Person, sondern auch die pflegebedürftige. «Es fällt ihr leichter, die Hilfe anzunehmen, wenn sie auch eine Gegenleistung dafür erbringen kann», so Toni Räber. Wie hoch diese Leistung ist, hänge einerseits von der finanziellen Situation der Pflegebedürftigen ab, andererseits aber auch davon, ob es nötig ist, für die Pflege die Erwerbsarbeit zu reduzieren oder aufzugeben. Wenn die Altersrente für die zusätzlichen Kosten nicht ausreicht, unterstützen Ergänzungsleistungen der AHV. Bei dauernder Pflege besteht ein vermögensunabhängiges Recht auf Hilflosenentschädigung. Den Antrag auf eine solche Entschädigung hat Maria Landolt gestellt, doch bisher hat sie noch keinen Bescheid erhalten. Sie sagt: «Ich werde im nächsten
Jahr meine Erwerbstätigkeit auf 50 Prozent reduzieren müssen, weil die Mutter eine intensivere Betreuung benötigt.» Bis jetzt verlangt sie von ihr nur ein Entgelt für Miete, Essen und Wäsche, neu käme dann die Zeit für die Betreuung hinzu, um ihre Lohneinbusse zu kompensieren. «Ich hoffe, dass die Mutter das dann mit der Hilflosenentschädigung bezahlen kann», so Landolt.
*Rita Torcasso ist freischaffende Journalistin. Sie lebt in Zürich.
**Name von der Redaktion geändert.
INFO
Der Betreuungs- und Pflegevertrag
Muster eines Betreuungs- und Pflegevertrags, des Erhebungsblatts und Empfehlungen sind erhältlich bei: Pro Senectute Schweiz, Lavaterstr. 60, Postfach, 8027 Zürich, Tel. 044-283 89 89 oder als pdf: www.pro-senectute.ch/pflegevertrag Beratung bieten die regionalen Dienstleistungscenter von Pro Senectute: www.pro-senectute.ch Bei Konflikten berät die unabhängige Ombudsstelle für das Alter: www.uba.ch Informationen für Pflegende: www.redcross.ch/activities/social/care/index-de.php
Buchtipp: Monika Brechbühler, Ein Pflegefall in der Familie. Organisation, Entlastung, Hilfe, Beobachter-Buchverlag, 24 Franken.
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