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Zöliakie: krank durch G
Immer mehr Menschen vertragen Gluten nicht, ein Eiweiss, das in Weizen und anderen Getreidesorten enthalten ist. Die bis
Zöliakie ist eine Erkrankung des Dünndarms, ausgelöst durch eine Glutenunverträglichkeit. Bei einer Einnahme von
heute einzige Therapie ist das Meiden bestimmter Lebensmittel. Wird die Therapie
Gluten greift die Immunabwehr die Dünndarmschleimhaut an, was zu
nicht strikt eingehalten oder die Zöliakie einer chronischen Ent-
nicht erkannt, erhöht sich das Risiko für weitere Erkrankungen.
zündung führt. Der Körper kann Nährstoffe nicht
mehr richtig aufneh-
von Helen Weiss*
Nicht nur in Backwaren
men, was zu vielfältigen Symptomen und
und Teigwaren ist Gluten Beschwerden führt, die
enthalten, sondern versteckt bei den einzelnen Be-
auch in vielen Fertiggerich- troffenen sehr unter-
ten, Fertigsaucen, Schoko- schiedlich
riegeln und sogar in
sind. Ent-
Kartoffelchips.
sprechend
lange dauert
es, bis eine Zölia-
kie erkannt wird, gemäss
Statistik sind es 13 Jahre.
«Die Dunkelziffer ist
hoch», bestätigt Michael
Fried, Direktor der Klinik für Ga-
stroenterologie und Hepatologie am
Universitätsspital Zürich.
Glutenunverträglichkeit nimmt zu Nicht jeder Betroffene zeigt typische Symptome wie Durchfall, Bauchschmer-
zen und Gewichtsverlust. Auch Schlaflosigkeit, Müdigkeit, Depressionen, Ei-
senmangel, Blutarmut oder das Ausbleiben der Menstruation können Anzeichen für eine Zöliakie sein. Die Glutenunverträglichkeit wurde lange als Kinderkrankheit eingestuft, deshalb wussten früher meist nur Kinderärzte
darüber Bescheid. Auch heute sind gemäss Michael Fried noch nicht alle Ärzte genügend informiert: «Viele Ärzte denken fälschlicherweise, Zöliakie trete relativ selten auf.» Tatsächlich
nehmen die Fälle zu. War vor 20 Jahren noch 1 von 1000 Europäern betroffen, ist es heute 1 von 100. Bei Zöliakie besteht eine erbliche Veranlagung. Es wurde beobachtet, dass bei Verwandten von Betroffenen die Krankheit gehäuft
auftritt. In aktuellen Studien aus Finnland konnte gezeigt werden, dass 20 Prozent der Familienangehörigen von Zöliakiepatienten eine latente Zöliakie aufweisen. Dabei handelt es sich um eine Glutenunverträglichkeit, die sich erst im Lauf des Lebens entwickelt und nur bei glutenreicher Kost Beschwerden verursacht.
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ERNÄHRUNG
Getreide
FOTO: ISTOCKPHOTO
Umfassend abklären Heute wird Zöliakie auch dank besserer Diagnosemöglichkeiten vermehrt erkannt. Bis vor einigen Jahren war die Diagnose nur mit einer DünndarmBiopsie möglich, bei der Gewebe entnommen und mikroskopisch untersucht wird. Inzwischen steht bei Verdacht auch ein Test zur Verfügung, mit dem sich Antikörper im Blut nachweisen lassen. Doch dient dieser Test lediglich einer ersten Abklärung: Bei einem positiven Ergebnis ist eine Zöliakie wahrscheinlich, doch ist der Test kein Beweis. Umgekehrt kann bei negativem Befund eine Erkrankung nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden. Deshalb ist es entscheidend, die Vorgeschichte eines Patienten zu berücksichtigen und dabei auch auf unspezifische Beschwerden zu achten. Eine umfassende Abklärung ist deshalb so wichtig, weil eine nicht behandelte Zöliakie das Risiko für weitere Autoimmunerkrankungen sowie für Osteoporose und Lymphknotenkrebs erhöht.
Lebenslange Diät Wenn sich die Betroffenen strikt glutenfrei ernähren, erholt sich die Darmschleimhaut innerhalb einiger Wochen bis Monate. Die meisten unter ihnen können dann ohne gesundheitliche Beeinträch-
tigungen leben. Als Alternative zu den glutenhaltigen Getreidesorten sind Hirse, Mais, Reis,
Amarant, Tapioka, Buchweizen, Quinoa, Sojabohnen, Teff, Kastanie und Kochbanane erlaubt. Diese Nahrungsmittel sind jedoch deutlich teurer als vergleichbare Normalprodukte. Ein weiterer Nachteil ist, dass glu-
tenfreie Backwaren weder knusprig noch besonders schmackhaft sind. Nach bisherigen Erkenntnissen muss die glutenfreie Ernährung lebenslang eingehalten werden und duldet keine Nachläs-
sigkeit. «Die sozialen Einschränkungen, die daraus entstehen, sind enorm», sagt Anita Dimas von der Interessengemeinschaft Zöliakie. Bereits geringe Mengen von Gluten beeinträchtigen die Darmschleimhaut nachhaltig, und es dauert
oft Monate, bis sie sich wieder erholt. Der Besuch in einem Restaurant, das glutenfreie nicht strikt von glutenhaltigen Speisen trennt, kann daher leicht zu Bauchschmerzen oder Schlimmerem führen.
Suche nach
neuen Behand-
lungsmöglichkeiten Das strikte Meiden von glutenhaltigen Nahrungsmitteln ist bis heute die einzige Therapie bei Zöliakie, die Wissenschaft forscht jedoch nach weiteren Behandlungsmöglichkeiten. Ein solcher
Forschungsansatz ist derzeit die Enzymtherapie. Es gelang, Enzyme aus keimendem Getreide zu isolieren, die das Gluten in kleine Stücke spalten. Dadurch, so die Überlegung, würde das Gluten vom Immunsystem nicht
mehr als solches erkannt, und
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eine Entzündung könnte verhindert werden. Diese Untersuchungen werden aber vorerst nur im Labor gemacht.
Bei einer weiteren Therapieform aus Australien soll eine Immunisierung gegen Gluten durch eine Impfung erfolgen.
Hilfe zur Selbsthilfe
IG Zöliakie
• Zöliakie Jugendclub
Die glutenfreie Ernährung ist eine IG Zöliakie
www.zoeliakieclub.ch
patientengesteuerte Therapie. Das Birmannsgasse 20, 4055 Basel • Association Of European Coe-
bedeutet, die Erkrankten sind Tel. 061-271 62 17 (9–11 Uhr)
liac Societies
selbst für die Einhaltung ihrer Diät E-Mail: sekretariat@zoeliakie.ch
www.aoecs.org
verantwortlich. Deshalb ist es Internet: www.zoeliakie.ch
• Coeliac Youth of Europe
wichtig, dass sie sich bei Fragen an
www.cyeweb.eu
eine Anlaufstelle wenden können Weitere Adressen:
und Gelegenheit haben, sich mit • Association Romande de la Zöliakie-Kochkurse und glu-
anderen Betroffenen auszutau- Coeliakie
tenfreie Rezepte
schen. Die IG Zöliakie der deut- www.coeliakie.ch
www.glutenfreie-rezepte.ch
schen Schweiz informiert über alle • Gruppo Celiachia della Sviz- www.glutenfreiessen.ch
Belange der glutenfreien Ernäh- zera Italiana
www.glutenfrei-kochen.de
rung und das Leben mit Zöliakie: www.celiachia.ch
www.glutenfrei-lebenswelt.de
«Dieser Ansatz ist sehr interessant. Die Resultate von klinischen Studien müssen aber noch abgewartet werden», sagt Michael Fried. Nicht nur die Wissenschaft, auch die Nahrungsmittelindustrie sucht nach neuen Ansätzen. So könnten mit einem Glutenersatz, hergestellt aus glutenfreien Getreidesorten, bessere Backresultate und eine geschmackliche Verbesserung von glutenfreien Backwaren erreicht werden. Auch gibt es neue Züchtungen von Weizensorten, die kein zöliakieauslösendes Gluten enthalten. Doch bis diese Ansätze ausgereift sind, heisst es für die Betroffenen, sich weiterhin strikt an eine glutenfreie Diät zu halten.
*Helen Weiss ist freischaffende Journalistin. Sie lebt in Basel.
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