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Verste
Mikroschielen sieht man kaum. Es ist angeboren, wird jedoch oft erst entdeckt, wenn Störungen wie Doppelbilder auftreten. Dann können die Augen durch eine Operation «gerade gestellt» werden.
von Rita Torcasso*
Die berühmteste Frau mit Silberblick ist wohl Mona Lisa von Leonardo da Vinci. Weil ihre Augen nicht ganz symmetrisch sind, entsteht der Eindruck, als würde sie dem Blick des Betrachters folgen.
Operieren oder versuchen Sie
es mit speziellen Brillengläsern.» Mit diesem Bescheid verliess Margarita Müller** die Augenartzpraxis. Die 54-Jährige hatte die Ärztin aufgesucht, weil ihr, wenn sie müde war, ein Auge wegrutschte. Dann sah sie Doppelbilder. Diagnostiziert wurde ein Mikroschielen. Rund 6 Prozent der Bevölkerung schielt. Bei 2 Prozent der Betroffenen sieht man aber nichts: Sie leiden an einem sogenannten Mikroschielen, das auch als verstecktes Schielen oder als Silberblick bezeichnet wird. Zum Problem wird eine solche Abweichung erst, wenn das Gehirn sie nicht mehr ausgleichen kann. Als erste Massnahme wurde bei Margarita Müller eine durchsichtige Folie mit vertikalen Linien auf ein Brillenglas geklebt. Eine solche Prismenfolie zwingt das Auge, gerade zu sehen. Doch kaum nahm sie die Brille ab, waren die Doppelbilder wieder da: Die erhoffte Umgewöhnung gelang nicht. Die Augenärztin schickte sie schliesslich in die Augenkli-
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ecktes Schielen
Fachbegriffe zum Schielen
• Amplyopie: Schwachsichtigkeit, verursacht durch Schielen.
• Binokularsehen: beidäugiges Sehen.
• Mikrostrabismus (Mikroschielen): unauffällige Form des Schielens.
• Orthoptik (griechisch: Lehre des Geradesehens): Methoden zur Behandlung des Schielens.
• Orthoptist/in: Nimmt im Auftrag des Augenarztes Seh- und Schielwinkelprüfungen vor, stellt bei Störungen des beid-
äugigen Sehens selbstständig Diagnosen und führt fördernde und korrigierende Therapien für die Augen durch.
• Prismenbrille: Wird bei der Behandlung von Schielen verwendet. Ein Prisma aus Glas oder Folie verschiebt das fehler-
haft wahrgenommene Bild zum optimalen Sehpunkt. Wird eine Prismenbrille bei einem kleinen Schielwinkel einge-
setzt, verstärkt sich das Schielen, wenn man die Brille nicht mehr trägt.
• Stereosehen: Die Fähigkeit, räumlich zu sehen, was bei Schielen nicht möglich ist.
• Strabismus (Schielen): Fehlstellung der Augen, ein Auge weicht von der Blickrichtung des anderen Auges ab. Die bei-
den Sehachsen stehen nicht parallel, sondern in einem Winkel (Schielwinkel).
• Strabologie: Gebiet der Augenheilkunde, das sich mit Schielen befasst.
• Winkelfehlsichtigkeit: Ein Begriff, den es in der Augenheilkunde nicht gibt. Er verwirrt, weil er eine Fehlsichtigkeit
suggeriert, doch ist Schielen durch ein gestörtes Gleichgewicht der Augenmuskeln bedingt.
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nik des Kantonsspitals St. Gallen, um das weitere Vorgehen abzuklären.
Fehlsichtig durch Schielen Mikroschielen ist angeboren. Rund ein Viertel der betroffenen Personen benötigen irgendwann in ihrem Leben eine Schieloperation. Bei Kindern weist oft eine einseitig verstärkte Schwachsichtigkeit auf eine Abweichung des Auges hin. Diese durch Schielen bedingte Fehlsichtigkeit wird Amplyopie genannt. Daniel Mojon, Leitender Arzt der Strabologieabteilung in St. Gallen, erklärt: «Kleinkinder können das schielende Auge völlig ‹ausschalten›, dadurch verstärkt sich die Schwachsichtigkeit und, wenn nichts unternommen wird, verlieren sie das zweiäugige Sehen.» Die einfachste Behandlung einer Amplyopie ist, ein Auge abzukleben, um das Kind zu zwingen, das andere Auge wieder zu benutzen. Auf diese Weise und je nach Situation mit einer Sichtkorrektur kann die
Schwachsichtigkeit bis zum achten Lebensjahr ganz oder teilweise behoben werden. Danach ist eine Veränderung nicht mehr möglich. «Eine möglichst frühe Schieloperation hat aber nur in ganz bestimmten Fällen Vorteile», sagt Mojon. Oft könne man damit gut bis ins Vorschulalter zuwarten und so bei etwa 10 Prozent der Kinder einen unnötigen Eingriff vermeiden.
Beschwerden mit zunehmendem Alter Mikroschielen kann oft über Jahrzehnte vom Gehirn ausgeglichen werden, bevor Beschwerden auftreten. Zum einen, wie bei Margarita Müller, spielt das Alter eine Rolle: Mit den Jahren verliert man die Fähigkeit, das Auge durch Nervenimpulse gerade zu halten. Zum anderen kann die Verschreibung einer Prismenbrille einen Einfluss haben. Daniel Mojon erklärt: «Prismen rücken zwar das Bild, welches das Auge empfängt, in die optimale Position, doch bei einem klei-
nen Schielwinkel bringt das nichts, denn das Auge ist ja seit Geburt daran gewöhnt und stellt nicht um.» Als Folge könne sich der Schielwinkel vergrössern, wenn die Brille nicht mehr getragen wird. Bei Beschwerden seien Prismengläser deshalb meistens nur eine Übergangslösung. Bei Margarita Müller verstärkten sich die Störungen innerhalb weniger Monate. Sie sah nun die Untertitel im Kino, Bilder an der Wand, die Anzeigetafeln im Bahnhof und das Gegenüber in Gesprächen doppelt. Nur mit allergrösster Anstrengung gelang es ihr noch, die Bilder gerade zu rücken. In St. Gallen wurden ihre Augen in der Orthoptik, die oft auch als «Sehschule» bezeichnet wird, untersucht. Die Orthoptistin Rahel Sallenbach führte verschiedene Messungen durch, um den genauen Schielwinkel zu bestimmen. Dabei berücksichtigte sie auch das angelernte Verhalten des schielenden Auges. Weitere Messungen galten der Fehlsichtigkeit. Bei Margarita Müller
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Schieloperation: Links die traditionelle Operationsmethode, rechts die neue Methode, bei der statt ein grosser Schnitt mehrere kleine Öffnungen gemacht werden.
FOTO: ZVG
wurde mit 16 Jahren Kurzsichtigkeit festgestellt: Die Werte waren bei einem Auge höher und mit Hornhautverkrümmung verbunden. Die Orthoptistin erklärt, dass auch durch eine zu starke Sichtkorrektur das Schielen verstärkt werden kann. Nach mehreren Untersuchungen, um auch zeitliche Veränderungen zu berücksichtigen, betrug der Schielwinkel bei Margarita Müller beim Blick in die Ferne 11 Grad, in die Nähe 9 Grad.
Ausgleich durch Eingriff
an beiden Augen Diese Abweichungen machten eine Operation unumgänglich. Obwohl Mikroschielen einäugig ist, mussten beiden Augen operiert werden. Daniel Mojon erklärt: «Statt die Augenmuskeln einseitig zu verkürzen, wird mit dem beidseitigen Eingriff ein Ausgleich hergestellt.» Margarita Müller erinnert sich: «Dieser Entscheid machte am meisten Angst; vorher hatte ich mich damit getröstet, dass ein Auge bliebe, falls etwas passieren sollte.» Daniel Mojon versteht diese Angst, bemerkt aber, dass Schieloperationen sehr sichere Eingriffe seien. Nach seiner Schätzung treten in der Schweiz nur bei 1 von 10 000 Operationen schwerere Komplikationen wie eine Verletzung der Augenhülle oder eine Infektion auf. Daniel Mojon entwickelte vor sieben Jahren eine neue Operationsmethode: die «Minimally Invasive Strabismus Surgery», kurz MISS genannt. Statt mit ei-
nem grossen Schnitt durch die Bindehaut erreicht er die Augenmuskeln durch mehrere sehr kleine Öffnungen. Der Vorteil: Die Verletzungsgefahr der Hornhaut ist geringer und die Narben sind kleiner. «Das kann vor allem bei einer weiteren Operation wichtig sein, um dann nicht durch vernarbtes Gewebe schneiden zu müssen», sagt der Augenchirurg. In St. Gallen werden heute praktisch alle Schieloperationen mit dieser neuen Methode durchgeführt, bisher waren es gemäss Mojon an die 3000 erfolgreiche Eingriffe. Margarita Müller wurde im Juli 2008 operiert. Der Chirurg verlagerte drei Augenmuskeln zwischen 2 und 6 mm nach hinten. Der Eingriff dauerte gut eine Stunde und bereits fünf Stunden später konnte die Patientin das Spital verlassen, ohne Verbände an den Augen: «Schmerzen hatte ich keine. Erschrokken bin ich, als ich im Spiegel den Bluterguss in einem Auge sah.» Erst als die Narkose völlig abgeklungen war, spürte sie die schmerzenden Augenmuskeln. Nach zwei Tagen konnte sie wieder arbeiten und der Bluterguss verschwand rasch. Die Nachkontrolle zeigte, dass die Augen nun parallel ausgerichtet waren. Und zum ersten Mal in ihrem Leben konnte Margarita Müller jetzt dreidimensionale Objekte auf Bildern erkennen. Das dreidimensionale Sehen (Stereosehen) ist nur bei beidäugigem geradem Sehen möglich.
Eine zweite Operation
brachte den Erfolg Doch schon nach kurzer Zeit nahm sie wieder Doppelbilder wahr, vor allem, wenn sie nach oben schaute: «Das war ein Schock.» Solche Bilder können direkt nach der Operation auftreten, weil sich das Auge noch nicht an die neue Stellung gewöhnt hat. Dann aber verschwinden sie wieder. Bei Margarita Müller dauerte das doppelte Sehen aber an. Man hatte sie zwar vor der Operation informiert, dass bei jedem zehnten Eingriff eine weitere Korrektur nötig ist, doch das hatte sie verdrängt. Erneute Messungen zeigten, dass bei ihrem linken Auge noch immer eine Abweichung von 8 Grad nach innen auftrat, die man von aussen aber nicht wahrnehmen konnte. Seit der zweiten Operation ist nun ein gutes Jahr vergangen. Margarita Müller sagt: «Ich habe keine Beschwerden mehr; ganz selten, nach mehreren Stunden am Computer, wenn ich sehr müde bin, weicht das Auge für Sekundenbruchteile ab, richtet sich aber sofort wieder gerade aus.» Die Wahrscheinlichkeit, dass es dabei bleibt, ist gross. Daniel Mojon schätzt aufgrund seiner 20-jährigen Erfahrung als Augenchirurg, dass lediglich bei 5 Prozent der operierten Schielpatienten wieder dauerhafte Beschwerden auftreten.
*Rita Torcasso ist freischaffende Journalistin. Sie lebt in Zürich.
**Name von der Redaktion geändert.
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