Transkript
Gaumenkitzel à la Kapitän Wasserdicht
Man soll ja nicht alles glauben, was einem erzählt wird, besonders nicht, wenn ein alter Seebär ins Fabulieren kommt. Aber manche der abenteurlichen Geschichten sind tatsächlich wahr – und du kannst herausfinden, welche.
Text und Illustrationen: Christof Stückelberger*
Weisst du, in meine Praxis kommen Patienten, die essen schlicht zu ungesund. Zu viel, zu süss, zu fettig oder nur noch Kaugummi. Für solche Leute mache ich einmal im Monat einen Normal-Ess-Abend. Gestern war es wieder so weit: «Herein, herein in die gute Küche!» Ich und meine vier Gäste banden uns die Schürzen um und kochten etwas Feines. Kaum sassen wir am Tisch, klingelte es, und mein Freund Kapitän Knut Wasserdicht stand mit seinem Seehund vor der Türe. «Heihoo, alter Seebär», hiess ich ihn will-
kommen, «wie wärs mit einer Portion Spinat? Setz dich zu uns.» Wenn du den Kapitän Wasserdicht noch nicht kennst, dann lass dir gesagt sein: Er ist der abenteuerlichste Mensch, den ich kenne. Er hat alle Meere besegelt und erzählt viel davon. Nur darfst du ihm nicht alles glauben, manchmal ist es bloss Seemannsgarn, also erstunken und erlogen. Gleich erzählt er ein paar Geschichten rund ums Essen. Du kannst erraten, welche wahr und welche falsch sind. Die Lösungen stehen rechts unten.
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HOTDOK
Knut leckte gerade den dritten Teller leer, als sich die Gäste über das Eisen im Spinat unterhielten. Das war sein Stichwort: «Eisen im Spinat! Ha, zum Seeteufel! Das sind doch höchstens Spuren! An der Küste Frankreichs traf ich einen Kerl, der richtiges Eisen ass. Als ich vorbeikam, verspeiste er soeben die letzten Teile eines Fahrrads und lud mich zu seinem Schmaus ein. ‹Vielleicht eine Speiche›, sagte ich. In zwei Jahren habe er ein kleines Flugzeug gegessen. Das sei ihm lieber als Bananen und Eier, davon würde ihm schlecht. Die Speiche enthielt bestimmt mehr Eisen als Spinat, aber sie schmeckte nach Kettenöl.» 1. Gibt es Leute, die Metall essen?
«Apropos Öl, ich hatte mich im eisigen Norden verirrt und hatte tagelang nichts gegessen. Da traf ich zum Glück einen Eskimo, der mich zum Essen einlud. Es gab Stinkkopf. Er hatte vor sechs Wochen einen fussballgrossen Fischkopf in langes Gras eingewickelt und im Moorboden vergraben. Jetzt war er völlig vermodert, ranzig und ölig, aber extrem nahrhaft. Zum Glück assen wir den Stinkkopf im Freien; in einem Iglu hätte ich den Gestank nicht ausgehalten.» 2. Gibt es Eskimos, die solche Stinkköpfe essen?
folgte ihm zu einem grossen Baum, dem Ururubaum. Seine Nüsse sind ungeniessbar, aber die Rinde schmeckt fantastisch. Mein Freund schnitt mit seinem Messer kleine Vierecke heraus, die wir auf der Stelle knabberten. Weich wie Brotrinde und süss wie Schokoladenkekse mit einer Prise Zimt. Das war eine Abwechslung zum ewigen Schiffszwieback! Und die Rinde wächst immer wieder nach.» 3. Gibt es die tasmanischen Urururindenkekse?
«Das ist aber praktisch», meinte einer der Gäste «Es braucht nicht einmal einen Backofen.» «Genau, apropos ohne Backofen …», fuhr der Kapitän weiter. «Letzthin legte ich wegen eines Gewitters an einer kleinen Insel vor der schottischen Küste an. Da konnte ich sehen, wie man ohne Ofen einen saftigen Braten kriegt. Auf dem höchsten Punkt der Insel hatten die Bewohner einen Eisenspiess aufgestellt. Eben steckten sie ein paar Poulets und sogar ein ganzes gewürztes Schwein darauf. Dann brachten sie sich vor dem Unwetter in Sicherheit. Während sie die Vorspeise assen, schlugen die Blitze in den Spiess, und das Fleisch war auf der Stelle gar, aussen ziemlich verkohlt, aber innen genau richtig. Das Gewitter zog vorbei, und ich blieb noch auf einen Festschmaus bei den freundlichen Gastgebern. Bei den Schotten lernt man Energie sparen. Potz Blitz!» 4. Braten mit Blitzen. Ist das menschenmöglich?
das Restaurant hiess übersetzt ‹Gaumenkitzel›. Es gab Tintenfisch. Der war roh und so frisch, dass sich die Tentakel auf dem Teller noch bewegten. Man nimmt so einen Tentakel mit einem Stäbchen und taucht ihn zuerst in eine ölige Sauce. Das ist wichtig, weil sich die Saugnäpfe an der Zunge und im Hals festsaugen. Versteht ihr, warum das Restaurant ‹Gaumenkitzel› heisst? Zum Trinken gab es natürlich die Tinte des Tintenfischs!» 5. Gibt es ein Gericht mit Tentakeln, die sich noch bewegen?
«Heihoo, heihoo!» Kapitän Wasserdicht prostete fröhlich mit seinem Glas in die Runde. Meine Gäste machten bloss lange Gesichter. Sie mussten zuerst die Vorstellung der lebenden Tentakel verdauen. Ich bin nicht sicher, ob ihnen das Seemannsgarn meines Freundes geschadet oder geholfen hat. Das war gewiss kein Normal-Ess-Abend, aber ich habe mich auf jeden Fall glänzend unterhalten. Ich hoffe, du auch.
Deine
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*Christof Stückelberger ist Sekundarlehrer und Illustrator. Er lebt in Winterthur. www.stueckelberger.ch
Lösungen: 1. Ja, es gab sogar diesen Mann. Er hiess
Michel Lotito. Schon als Kind fing er an, sonderbare Dinge zu essen. In seinem Leben verschlang er insgesamt etwa neun Tonnen Metall. 2. Das stimmt. 3. Das ist frei erfunden. 4. Schön wäre es, wenn man die Blitzenergie so nutzen könnte. Dem Kapitän ist die Fantasie durchgebrannt. 5. Ja, in Korea ist das eine Spezialität. Sie heisst San Nak Ji. Aber ohne die Tinte als Drink.
Zufrieden betrachtete Kapitän Wasserdicht die angeekelten Gesichter meiner Gäste. Doch dann erzählte er schnell etwas Angenehmes: «An der tasmanischen Küste lebt ein guter Freund. Nach einem feinen Essen in seinem Garten sagte er: ‹So, wir schreiten zum Dessert.› Er erhob sich, und ich
Knut Wasserdicht lehnte sich zurück und strich sich zufrieden den Schnauz glatt. Dann fiel ihm noch eine echt schauerliche Geschichte ein: «Aber man muss gar nicht alles Fleisch kochen. Die Asiaten essen viel rohen Fisch. Da habe ich einmal etwas ganz Spezielles gegessen. Es war in Korea, und
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