Transkript
KURZGESCHICHTE
Basel– Sizilien ohne Flugticket
von Claudia Gürtler*
Beim Aufstarten seines Computers hörte Gabriel statt eines «Pling» ein respektloses «Blas mir in die Schuhe!». Es mussten seine überreizten Nerven sein. Computer reden nicht mit Menschen, und Gabriel hatte Ferien nötig, Ferien, Ferien, Ferien. Er hatte sie verdient, und Florentin würde ihn im Geschäft vertreten. Im Sommer war eh Flaute. Da dachten die Leute nicht weiter als bis zu ihrer Badehose. Apropos Badehose: Er musste nur noch Badehose und Krimi in den Koffer stopfen und einen Last-Minute-Flug buchen. Dafür allerdings würde man einen Computer brauchen, der sich nicht verweigert. Gabriel rief ein paar Freunde an; aber alle Teilnehmer waren «momentan nicht erreichbar». Frau Müller aus dem unteren Stock klingelte, und Gabriel gab ihr die Ersatzschlüssel, damit sie während seiner Abwesenheit die Katze fütterte und den Briefkasten leerte. Nein, einen Computer habe sie nicht, mit diesen neumodischen Dingern habe sie nichts am Hut, lachte Frau Müller, und ihr Sohn sei mitsamt Laptop in Asien unterwegs. Gabriel fand im Kellerabteil seinen Koffer und fluchte, als er die gewaltsam geöffneten Schlösser sah. Ach ja, das war in Marokko gewesen. Warum nur hatte er nicht gleich einen neuen gekauft? Den Keller müsste man ausmisten, nahm er sich vor, als ihm der Rucksack seines Grossvaters, eines Störschuhmachers, auf den Kopf fiel. Ein muffiges Teil – aber enorm praktisch mit seinen unzähligen
Taschen. Gabriel stellte den Rucksack zurück und machte eine Runde im Quartier.
Die beiden Internetcafés hatten geschlossen, im
Supermarkt waren die Koffer ausverkauft, und bei Ranjit an der Ecke gab es Ranjits sonniges Lächeln, Batterien und Kaugummi mit Kiwigeschmack zum Aktionspreis. Die Welt hatte sich gegen Gabriel verschworen. Sie wollte, dass er zu Hause blieb und den Sommer mit der Katze auf einem zwei Quadratmeter grossen Balkon verbrachte. Die Welt hasste Gabriel – oder sie war ganz einfach schon in den Ferien. Im Schein der einzigen Glühbirne wog Gabriel im Keller den Rucksack des Grossvaters erneut in der Hand, dann rannte er die Treppe hinauf und begann zu packen. Die Socken links, die Unterwäsche rechts, die Wasserflasche ins schmale Fach und die Regenjacke oben drauf. Er kratzte den Staub von den unverwüstlichen, handgearbeiteten grossväterlichen Wanderschuhen. Was für ein Zufall, dass sie dieselbe Schuhgrösse hatten. Bald würde er wissen, ob sein Grossvater ein Aufschneider war oder ob es tatsächlich
möglich war, zu Fuss von Basel nach Sizilien zu gelangen. «Wenn du geschwindelt hast, bekommst du etwas zu hören!», rief Gabriel. Dann grinste er ausgelassen. Sein drahtiger, unternehmungslustiger Grossvater würde nichts mehr zu hören bekommen. Vier Tage vor seinem 100. Geburtstag hatte er seine letzte Reise angetreten. Gabriels Rückkehr verzögerte sich. Herbststürme rissen dürre Blätter von den Bäumen, die Katze schmollte, und Florentin war völlig überarbeitet, als Gabriel braun gebrannt, gut gelaunt und ein paar Kilo leichter in Basel aus dem Zug stieg. «Auch mal wieder an der Arbeit, Faulpelz?», liess sein Computer beim Aufstarten verlauten. Als er Gabriels Gesicht
sah, ahnte er, dass er zu weit gegangen war, und tatsächlich tauschte Gabriel den erholten und wieder tadellos funktionierenden PC bei Ranjit an der Ecke gegen Dinge ein, die Wanderer brauchen. Hundert Päckchen Kaugummi mit Kiwigeschmack überreichte ihm Ranjit lächelnd als Zugabe.
*Claudia Gürtler ist Jugendbuchautorin und Bibliothekarin. Sie lebt in Allschwil (BL). Homepage: www.graueinsel.ch
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ILLUSTRATION: PETER WANNER