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Persönlichkeitsstörungen in der ICD-11
Die Umstellung des weltweit gültigen Klassifikationssystems medizinischer Diagnosen von der ICD-10 zur ICD-11 bringt für die Klassifikation von Persönlichkeitsstörungen grundlegende Veränderungen mit sich. Die bisher gültige kategoriale Einteilung voneinander abgrenzbarer Persönlichkeitsstörungsdiagnosen, die über eine Liste von Symptomen definiert werden, wird aufgehoben zugunsten eines dimensionalen Störungsverständnisses, bei dem verschiedene Schweregrade der Beeinträchtigung von selbstbezogenen und interpersonellen Persönlichkeitsfunktionen bestimmt werden. Ein Profil von fünf maladaptiven Persönlichkeitsmerkmalen dient der Charakterisierung des klinischen Zustandsbilds. Durch den in der ICD-11 eingeführten Blick auf Störungen über die Lebensspanne hinweg ist die Altersgrenze für die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung aufgehoben.
Klaus Schmeck
von Klaus Schmeck
K lassifikationssysteme werden in regelmässigen Abständen überprüft und überarbeitet, um den aktuellen Stand der Wissenschaft zu reflektieren. Tatsächlich basiert jedoch die zurzeit noch gültige Klassifikation ICD-10, die Anfang der 1990er-Jahre veröffentlicht wurde, auf dem Forschungsstand der 80er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Dieses Klassifikationssystem ist von daher in vielen Bereichen mehr der Tradition verpflichtet als dem aktuellen Erkenntnisstand. Im Bereich der psychischen Störungen gilt dies in besonderem Masse für das Kapitel zu den Persönlichkeitsstörungen (PS). Deshalb wundert es nicht, dass sich bei der Klassifikation von psychischen Störungen in der von der WHO im Januar 2022 in Kraft gesetzten ICD-11 die mit Abstand grössten Veränderungen im Kapitel 6 «Psychische Störungen, Verhaltensstörungen oder neuronale Entwicklungsstörungen» in der Klassifikation von PS finden lassen (1, 2). In der ICD-10 wird ein kriterienorientiertes Vorgehen verwendet, bei dem eine Liste von Kriterien überprüft wird und beim Überschreiten eines bestimmten Schwellenwerts eine Diagnose vergeben wird. Dieses Vorgehen wurde zunächst begrüsst, da es zu einer erheblichen Zunahme der Reliabilität der Diagnosen führte. Gleichzeitig wurde jedoch in Kauf genommen, dass es durch diese Herangehensweise Probleme bei der Validität der Diagnosen gab und intrapsychische Vorgänge zugunsten beobachtbaren Verhaltens vernachlässigt wurden, was in den 1990er-Jahren im deutschsprachigen Raum zur Entwicklung der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik führte, die anfänglich als Gegenentwurf zur ICD-10 gedacht war (3). In Bezug auf die Diagnostik von PS zeigte sich in vielen Studien, dass beim Vorliegen einer PS die Wahrscheinlichkeit deutlich zunahm, dass zwei, drei oder sogar noch mehr andere PS-Diagnosen gestellt wurden. Durch diese extensive Komorbidität werden die Grenzen der Diagnosen verwischt und es stellte sich die grundlegende Frage, ob sich PS tatsächlich als nosologisch voneinander abgrenzbare Krankheitsentitäten klassifizieren lassen (4), wie es der medizinischen Tradition im Sinne von Kurt Schneider entspricht, oder ob sie
nicht eher im Sinne der psychologisch-empirischen Sichtweise als dimensionale Störungen zu verstehen sind, die auf einem kontinuierlichen Spektrum von ungestörter bis zu sehr schwer gestörter Persönlichkeit abgebildet werden können, sodass PS Extremvarianten von normaler Persönlichkeit darstellen (5). Zwar legt eine Vielzahl von Forschungsergebnissen nahe, dass die dimensionale Sichtweise von PS näher an der Realität liegt (6), aber dennoch wird voraussichtlich die Vergabe von unterschiedlichen PS-Diagnosen für den klinischen Alltag von erheblicher Relevanz bleiben (7).
Von ICD-10 zur ICD-11 Nach langen und zum Teil heftig geführten Diskussionen wurde mit der Einführung der ICD-11 (1) der revolutionär anmutende Schritt zum dimensionalen Verständnis von PS vollzogen, sodass in der ICD-11 alle bisher bekannten Kategorien von PS-Diagnosen aufgehoben worden sind, mit der einzigen Ausnahme der Diagnose Borderline-PS. Damit ist die Expertengruppe der WHO noch einen Schritt weiter gegangen als das im Forschungsanhang des DSM-5 beschriebene alternative Modell der PS (8), das zwar auch eine dimensionale Sichtweise propagiert, aber dennoch sechs der bisherigen PS-Diagnosen beibehält (borderline, antisozial, narzisstisch, schizotyp, ängstlich-vermeidend, zwanghaft) und somit als «Hybridmodell» bezeichnet wird (9). Einer der zentralen Gründe, weshalb das alternative Modell der PS trotz ausreichender empirischer Grundlagen nicht in den Hauptteil des DSM-5 übernommen wurde, bestand in der Einschätzung der American Psychiatric Association, dass ein solches Hybridmodell für die Anwendung in der klinischen Praxis zu kompliziert sei (2). Für die Kinder- und Jugendpsychiatrie von besonderer Bedeutung ist vor allem eine grundlegende Änderung in dem Sinn, dass das Alterskriterium zur Diagnose einer PS gestrichen worden ist und die Entwicklung von PS, wie bei den anderen psychischen Störungen auch, über die Lebensspanne hinweg betrachtet wird (10). Mit dieser Entscheidung trägt die WHO der Tatsache Rechnung, dass in den vergangenen zwei Dekaden eine Vielzahl von Forschungsergebnissen veröffentlicht wurde, in denen gezeigt werden konnte, dass die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung im Jugendalter mit
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einer dem Erwachsenenalter vergleichbaren Reliabilität und Validität gestellt werden kann (11, 12). Die in frühen Konzeptionen von PS als Kriterium verwendete Stabilität der Diagnose fand in Langzeitstudien nur wenig Bestätigung (13, 14). Die dimensionale Stabilität ist allerdings etwas höher ausgeprägt (15). In der ICD-11 wird nun als Voraussetzung für die Vergabe einer PS-Diagnose nur noch verlangt, dass sich die Persönlichkeitsauffälligkeiten über einen Zeitraum von mindestens zwei Jahren konstant zeigen sollen und dass diese maladaptiven Verhaltensmuster nicht dem Entwicklungsstand des Individuums angemessen sind (1). Als bekannt wurde, dass in der ICD-11 alle PS-Diagnosen wegfallen sollten, führte dies zu erheblicher Kritik, weil damit ein Schatz von klinischem störungsbezogenem Wissen und ebenso eine Vielzahl von Forschungsergebnissen zu einzelnen PS-Diagnosen verloren zu gehen drohte (7). Als Kompromiss wurde letztlich die Diagnose Borderline-PS beibehalten (siehe Abbildung), um die für dieses Störungsbild entwickelten evidenzbasierten Behandlungsverfahren weiterhin nutzen zu können. Die Entwurfsvorlage, die 2019 schliesslich verabschiedet werden konnte, bezeichnete Peter Tyrer, der Leiter der WHO-Arbeitsgruppe für die Klassifikation von PS, als «Amalgam of Science, Pragmatism, and Politics» (2).
Die neue Klassifikation von PS in der ICD-11 Wie im alternativen Modell des DSM-5 wird auch in der ICD-11 die grundlegende Frage, ob eine PS vorliegt oder nicht, über das Kriterium der beeinträchtigten selbstbezogenen und interpersonellen Persönlichkeitsfunktionen definiert (siehe Kasten 1), die mit erheblichem persönlichem Leiden und psychosozialen Funktionseinschränkungen verbunden sein müssen. Unterhalb der Schwelle einer Diagnose können Persönlichkeitsschwierigkeiten (früher auch als «akzentuierte Wesenszüge» bezeichnet) beschrieben werden, wie sie häufiger bei Menschen anzutreffen sind, ohne dass sie zu kontinuierlichen oder schwerwiegenden Funktionseinschränkungen führen.
Kasten 1:
Definition von PS in der ICD-11 (Kapitel 6D10)
«Eine Persönlichkeitsstörung ist gekennzeichnet durch Probleme in der Funktionsweise von Aspekten des Selbst (z. B. Identität, Selbstwert, Genauigkeit der Selbsteinschätzung, Selbststeuerung) und/oder zwischenmenschliche Störungen (z. B. die Fähigkeit, enge und für beide Seiten befriedigende Beziehungen aufzubauen und aufrechtzuerhalten, die Fähigkeit, die Sichtweise anderer zu verstehen und mit Konflikten in Beziehungen umzugehen), die über einen längeren Zeitraum (z. B. zwei Jahre oder länger) bestehen. Die Störung äussert sich in maladaptiven (z. B. unflexiblen oder schlecht regulierten) Mustern der Kognition, des emotionalen Erlebens, des emotionalen Ausdrucks und des Verhaltens und zeigt sich in einer Reihe von persönlichen und sozialen Situationen (d. h. sie ist nicht auf bestimmte Beziehungen oder soziale Rollen beschränkt). Die Verhaltensmuster, die die Störung charakterisieren, sind entwicklungsmässig nicht angemessen und können nicht in erster Linie durch soziale oder kulturelle Faktoren, einschliesslich sozialpolitischer Konflikte, erklärt werden. Die Störung ist mit erheblichem Stress oder einer signifikanten Beeinträchtigung in persönlichen, familiären, sozialen, schulischen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen verbunden.» (16)
In einem nächsten Schritt wird der Schweregrad der Einschränkung von Persönlichkeitsfunktionen beschrieben (Abbildung). Die dimensionale Anordnung von Auffälligkeiten der Persönlichkeit erstreckt sich in der ICD-11 anhand des Schweregrads von «keine Persönlichkeitsauffälligkeit» über «Persönlichkeitsschwierigkeiten», «leichtgradigen PS» (nicht alle Funktionsbereiche sind betroffen; in manchen Kontexten zeigen sich eher wenig Beeinträchtigungen), «mittelgradigen PS» (viele Funktionsbereiche sind betroffen, aber einige weniger stark) bis hin zu «schwergradigen PS», bei denen alle oder die meisten Funktionsbereiche stark bis sehr stark betroffen sind und die häufig mit Selbst- oder Fremdgefährdung einhergehen. Anstelle des bisherigen Vorgehens in der Klassifikation, bei der die Auffälligkeiten einer bestimmten PS-Diagnose zuzuordnen sind, werden in der ICD-11 spezifische Persönlichkeitseigenschaften (Traits) genutzt, um diejenigen Merkmale der Persönlichkeit eines Individuums zu beschreiben, die am hervorstechendsten sind und zum klinischen Bild der Persönlichkeitsstörung beitragen. Diese Traits umfassen die Bereiche «negative
Vorgehen zur Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen nach ICD-11
1 Eingangsfrage
Sind die allgemeinen Kriterien einer Persönlichkeitsstörung erfüllt?
Dauer > 2 Jahre; in unterschiedlichen Situationen; erheblicher Leidensdruck; nicht dem Entwicklungsstand angemessen
2
Erfassung Kriterium A
ja
nein
keine Diagnose oder Persönlichkeits-Schwierigkeiten
Liegt eine Beeinträchtigung von Persönlichkeitsfunktionen vor?
Identität, Selbstwert, Selbsteinschätzung, Selbststeuerung, Empathie, Konfliktfähigkeit, Intimität/Nähe
3
Bestimmung des Schweregrads der PS
leichte PS
mässige PS
schwere PS
4
falls Kriterium A zutreffend:
Erfassung Kriterium B
Ausgeprägte Persönlichkeitsmerkmale oder -muster
1. negative Affektivität; 2. Dissozialität; 3. Enthemmung; 4. Distanziertheit; 5. Anankasmus
5 Falls DSM-5-Kriterien für BPS erfüllt sind: PS mit Borderline-Muster (6D11.5)
Abkürzungen: PS: Persönlichkeitsstörung; BPS: Borderline-Persönlichkeitsstörung
Abbildung: ICD-11 Diagnose-Algorithmus zur Bestimmung einer PS
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Kasten 2:
Ausgeprägte Persönlichkeitsmerkmale oder -muster (Kapitel 6D11)
Negative Affektivität: «Erleben eines breiten Spektrums negativer Emotionen mit einer Häufigkeit und Intensität, die in keinem Verhältnis zur Situation stehen, emotionale Labilität und schlechte Emotionsregulation, negativistische Einstellungen, geringes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen sowie Misstrauen.» Distanziertheit: «Soziale Distanziertheit (Vermeidung sozialer Interaktionen, Mangel an Freundschaften und Vermeidung von Intimität) und emotionale Distanziertheit (Zurückhaltung, Unnahbarkeit und eingeschränkter emotionaler Ausdruck und Erfahrung).» Dissozialität: «Egozentrik (z. B. Anspruchsdenken, Erwartung der Bewunderung anderer, positives oder negatives aufmerksamkeitsheischendes Verhalten, Beschäftigung mit den eigenen Bedürfnissen, Wünschen und dem eigenen Wohlbefinden und nicht mit denen anderer); und mangelnde Empathie (d. h. Gleichgültigkeit gegenüber der Tatsache, dass die eigenen Handlungen anderen Unannehmlichkeiten bereiten, was sich in betrügerischem, manipulativem und ausbeuterischem Verhalten gegenüber anderen, Gemeinheit und körperlicher Aggression, Gefühllosigkeit gegenüber dem Leiden anderer und Rücksichtslosigkeit bei der Durchsetzung der eigenen Ziele äussern kann).» Enthemmung: «Tendenz, aufgrund unmittelbarer äusserer oder innerer Reize (d. h. Empfindungen, Emotionen, Gedanken) unüberlegt zu handeln, ohne mögliche negative Folgen in Betracht zu ziehen. … Impulsivität, Ablenkbarkeit, Verantwortungslosigkeit, Rücksichtslosigkeit und mangelnde Planung.» Anankasmus: «Perfektionismus (z. B. Beschäftigung mit sozialen Regeln, Verpflichtungen und Normen von richtig und falsch, akribische Aufmerksamkeit für Details, rigide, systematische, tägliche Routinen, übertriebene Terminplanung und Planmässigkeit, Betonung von Organisation, Ordnung und Sauberkeit); und emotionale und verhaltensbezogene Beschränkungen (z. B. rigide Kontrolle über den Ausdruck von Emotionen, Sturheit und Inflexibilität, Risikovermeidung, Beharrlichkeit und Bedachtsamkeit).» (16)
Affektivität», «Distanziertheit», «Dissozialität», «Enthemmung» und «Zwanghaftigkeit» (Kasten 2). Während die ersten vier Bereiche weitgehend identisch sind mit den im Kriterium B des Alternativen PS-Modells des DSM-5 beschriebenen pathologischen Persönlichkeits-Traits, zeigt sich im fünften Bereich («Psychotizismus» im DSM5, «Zwanghaftigkeit» in der ICD-11) die unterschiedliche Sicht der beiden Klassifikationssysteme in Bezug auf die Schizotypen PS, die in der ICD dem Psychosespektrum zugeordnet werden, weshalb in der ICD-11 die Dimension «Psychotizismus» im Persönlichkeitsprofil als entbehrlich angesehen wird. Dem erfahrenen Diagnostiker fällt bei diesen Beschreibungen von maladaptiven Persönlichkeitsmerkmalen auf, dass sich manche der bisherigen PS-Diagnosen nun in extremen Ausprägungen von Persönlichkeitsmerkmalen wiederfinden lassen (z. B. schizoide PS – Distan-
Merkpunkte:
● In der ICD-11 wurden alle PS-Diagnosen mit Ausnahme der Borderline-PS aufgehoben und zu einer Klassifikation «Persönlichkeitsstörung» mit drei Schweregradabstufungen zusammengefasst.
● Zentral zur Diagnose einer PS ist nun die Bestimmung der Beeinträchtigung von selbstbezogenen (Identität, Selbstwertgefühl, Selbstwahrnehmung, Selbstlenkungsfähigkeit) und interpersonellen Persönlichkeitsfunktionen (Fähigkeit, enge und befriedigende Beziehungen einzugehen und aufrechtzuerhalten, die Sichtweisen anderer zu verstehen und Konflikte in Beziehungen zu bewältigen).
● Verschiedene Formen von PS werden durch spezifische Profile maladaptiver Persönlichkeits-Traits beschrieben.
● Für die Diagnose einer PS gibt es keine Altersgrenze mehr, da wie bei anderen psychischen Störungen auch eine Lebensspannen-Perspektive gewählt wurde.
ziertheit; dissoziale PS – Dissozialität; zwanghafte PS – Anankasmus). Bei anderen PS-Diagnosen finden sich Kombinationen von mehr als einem maladaptiven Persönlichkeitsmerkmal (z. B. narzisstische PS – negative Affektivität und Dissozialität; ängstlich-vermeidende PS – negative Affektivität und Distanziertheit). Es ist zu vermuten, dass noch für einen längeren Zeitraum Bezug genommen wird auf die seit langem eingeführten PS-Diagnosen (z. B. «dieses pathologische Persönlichkeitsprofil entspricht dem, was früher eine narzisstische PS genannt wurde»). Das diagnostische Vorgehen zur Klassifikation von PS in der ICD-11 ist zusammenfassend in der Abbildung dargestellt.
Ausblick
Die grundlegend neue Konzeptualisierung der PS-Dia-
gnosen wird möglicherweise zunächst Verunsicherung
auslösen. Es wird interessant sein, zu sehen, wie Kliniker
in Zukunft damit umgehen werden. Letztendlich be-
steht die zentrale Funktion von Diagnosen ja darin, den
Patienten geeignete und im besten Fall auch evidenz-
basierte Behandlungsmethoden zukommen zu lassen.
Es wird einiger «Übersetzungsarbeit» bedürfen, um die
bis dato für spezifische PS-Diagnosen entwickelten Be-
handlungskonzepte für den Einsatz bei Patienten mit
allgemeiner PS-Diagnose und spezifischem Persönlich-
keitsprofil zu adaptieren.
Ein in dieser Hinsicht optimistisch stimmendes Ergebnis
lieferte eine Feldstudie mit Psychiatern, Psychologen
und Pflegekräften, die Patienten sowohl mit der ICD-10
als auch mit der ICD-11 im Hinblick auf PS klassifizieren
sollten (17). Das neue System der ICD-11 wurde dabei
als etwas besser eingeschätzt als das bisherige System
der ICD-10 in Bezug auf die Behandlungsplanung, die
Handhabbarkeit und die Kommunikation mit den Pati-
enten. Aus psychodynamischer Perspektive sollte die
neue Störungskonzeption durch die Fokussierung auf
Beeinträchtigungen in Selbstwert, Selbststeuerungsfä-
higkeit und Beziehungsgestaltung sowie der Fähigkeit
zum Perspektivenwechsel (vergleichbar zur Struktur-
achse der OPD) bessere Hinweise für spezifische Inter-
ventionen liefern als die Symptomlisten der ICD-10.
Aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht ist die nied-
rigere Schwelle für die Diagnose einer PS begrüssens-
wert, weil dadurch die Möglichkeiten der Frühinter-
vention deutlich verbessert werden, die gerade bei
Jugendlichen von besonderer Bedeutung sind. Durch
die Schweregradeinteilung sollte auch die Zuordnung
zu verschiedenen Behandlungsmodalitäten erleichtert
werden (leichtgradige PS: ambulantes Setting; schwer-
gradige PS: Wechsel zwischen ambulantem und statio-
närem/teilstationärem Setting). Kritisch anzumerken ist,
dass eine Absenkung der Schwelle zur Diagnose einer
PS auch zu einer gesellschaftlich nicht gewollten Zu-
nahme an Diagnosen führen kann (18).
l
Korrespondenzadresse: Prof. em. Dr. med. Klaus Schmeck, Dipl.-Psych. Institut für Persönlichkeitsstörungen in der Adoleszenz
Georg-Speyer-Str. 61, 60487 Frankfurt klaus.schmeck@institut-ipas.com
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