Transkript
E D I T O R I A L Autismus-Spektrum-Störungen
im Erwachsenenalter
A utismus-Spektrum-Störungen (ASS) sind en vogue. Sie sind omnipräsent, begegnen uns in Büchern, Filmen, Serien und sozialen Medien. Das gesteigerte öffentliche sowie fachliche Bewusstsein für die Problematik sowie die Tatsache, dass aufgrund der aktuellen diagnostischen Kriterien auch leichtere Fälle erfasst werden, führten im Verlauf der letzten Jahrzehnte zu einer erheblichen Zunahme der Fallzahlen. Auch Umweltfaktoren, wie z. B. ein höheres Alter der Eltern oder die Einnahme gewisser Pharmaka während der Schwangerschaft, werden in diesem Zusammenhang als mögliche Ursachen diskutiert. Aktuell wird eine Prävalenz von zirka 2% angenommen.
sprechen kann, dabei aber vielleicht nicht erkennt, dass sein Gegenüber von seinen Erzählungen gelangweilt ist. Die Fähigkeit, Blickkontakt aufzunehmen und adäquat auf gewisse soziale Reize zu reagieren, kann durchaus vorhanden sein; es handelt sich dabei aber nicht um intuitives, sondern um auf kognitiver Ebene hart erarbeitetes Verhalten, dessen Aufrechterhaltung viel Energie kostet. Insbesondere, wenn ASS erst im Erwachsenenalter erkannt wird, hat die betroffene Person oft schon komorbide psychische Störungen entwickelt, welche die autistische Symptomatik überlagern können. Das erschwert den diagnostischen Prozess zusätzlich.
Was kennzeichnet Menschen aus dem autistischen Spektrum? Ihre Art wahrzunehmen, Informationen zu verarbeiten und das daraus resultierende Verhalten sind anders als bei nicht autistischen Menschen, den sogenannten Neurotypischen. Im Gegensatz zu den stark ausgeprägten Fällen (z. B. frühkindlicher Autismus nach Kanner) fanden hochfunktionale Formen von Autismus erst in den letzten Jahrzehnten mehr Beachtung. Die Diagnose Asperger-Syndrom wurde erst 1992 in die ICD-10 (international classification of diseases) aufgenommen. In den neuen Klassifikationssystemen (ICD-11, DSM-5) werden autistische Störungen nicht mehr in Kategorien unterteilt, sondern dimensional erfasst. Die Übergänge innerhalb des Spektrums sind fliessend, von schwerstbeeinträchtigten, pflegebedürftigen bis hin zu hochfunktionalen Autisten und Autistinnen.
Vielen Fachärztinnen und Fachärzten für Erwachsenenpsychiatrie ist das Thema ASS wenig vertraut, da die Thematik oft auch heute noch kein Bestandteil ihrer Ausbildung ist. Das erklärt die teilweise bestehenden Berührungsängste und Hemmungen, eine ASS zu diagnostizieren. Frühzeitiges Erkennen der Diagnose und Einleiten unterstützender Massnahmen ist aber sehr wichtig: nicht nur, um den in der Regel sehr hohen Leidensdruck bei Betroffenen und ihrem Umfeld zu reduzieren, sondern auch um der Entstehung komorbider Störungen und einer drohenden beruflichen Invalidisierung entgegenzuwirken. Daher ist es wichtig, möglichst viele Fachleute, die bisher nicht die Möglichkeit hatten, in diesem Bereich Erfahrungen zu sammeln, für dieses spannende und klinisch relevante Thema zu sensibilisieren.
Das Erkennen von ASS ist für die damit konfrontierten Fachleute oft eine herausfordernde Aufgabe. Woran liegt das? Es gibt nicht den typischen Autisten oder die typische Autistin. Autismus hat, genauso wie andere psychiatrische Störungen auch, viele Gesichter. Die Probleme im Bereich der sozialen Kommunikation sind auch qualitativer und nicht nur quantitativer Natur. Das heisst, dass ein Mensch mit ASS durchaus extrovertiert und gesprächig sein und mit Begeisterung über ein bei ihm beliebtes Thema
In den folgenden Beiträgen werden Sie Wissenswertes betreffend Diagnosestellung, Umgang und Unterstützung bei ASS im Erwachsenenalter erfahren. l
Dr. med. Jennifer Niemeyer Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie
Steinerstrasse 45 3006 Bern
E-Mail: jennifer.niemeyer@ppp-bern.ch
Foto: zVg
Jennifer Niemeyer
1/2024
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
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