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E D I T O R I A L Vom Paria zur verordneten Medizin
«F rom Pariah to Prescription»: Unter dieser prägnanten Überschrift beschrieb Ethan Russo, ein ausgewiesener Experte auf diesem Gebiet, die Entwicklung der Meinungen über medizinischen Cannabis in den letzten drei Jahrzehnten (2). Bei uns in der Schweiz hat sich diese Entwicklung am 1. August 2022 konkretisiert, als das Bundesamt für Gesundheit (BAG) die Notwendigkeit einer Sondergenehmigung für die Verschreibung von Cannabisarzneimitteln aufhob (3, 4). Mit dieser Revision des schweizerischen Betäubungsmittelgesetzes erhofft sich der Gesetzgeber, dass mit geringerem administrativem Aufwand mehr Patienten Zugang zu medizi-
« Cannabis has been used
for centuries for medicinal purposes. The fascinating journey
from a legal and frequently prescribed status to illegal and now back to liberalization has been driven
»by political and social factors
rather than by science.» (1)
nischem Cannabis erhalten. Diese Gesetzesänderung steht im Übrigen ganz im Einklang mit der Mission der 2021 gegründeten Schweizerischen Gesellschaft für Cannabis in der Medizin (SGCM), die einen wissenschaftlich rationalen, entstigmatisierten und vereinfachten Zugang zu Therapien mit medizinischem Cannabis fördern will (5).
Interessanterweise ist diese administrative «Öffnung» nicht das Ergebnis eines wissenschaftlich besser belegten Nachweises der Wirksamkeit von Cannabis, sondern lediglich das Ergebnis eines fast exponenziellen Anstiegs der beim BAG eingereichten Anträge durch die Patienten und deren Ärzte auf eine Sondergenehmigung! Der langjährige Kollege und Cannabispionier Prof. Rudolf Brenneisen wies bereits 2018 in seinem Eröffnungseditorial der Fachzeitschrift «Medical Cannabis and Cannabinoids» auf die noch
bestehende Kluft zwischen empirischen und evidenzbasierten Daten hin (6). Es bestehe eine Diskrepanz, führt er weiter aus, zwischen dem, was selbstbehandelnde Patienten behaupten, nämlich dass Cannabis und Cannabinoide wirksame Heilmittel sein können, und dem, was kontrollierte klinische Studien beweisen. Letztlich bedauert er den Umstand, dass zu oft positive Patientenberichte als anekdotisch diskriminiert werden.
Franjo Grotenhermen, renommierter deutscher Cannabis-Arzt und Autor vieler Cannabis-Fachbücher, definiert diese unbefriedigende und für beide Seiten frustrierende Situation als «Cannabis-Dilemma» (7). Während Ärzte von ihren chronisch erkrankten Patienten von den positiven Wirkungen durch Cannabis erfahren, kann die evidenzbasierte Medizin diese Erfahrungen in den meisten Fällen nicht erklären. Das beschriebene Dilemma besteht darin, dass man Patienten eine wirksame Therapie nicht vorenthalten darf, aber im Gegenzug alle Medikamente einer strengen Prüfung bezüglich ihrer Wirksamkeit unterzogen werden sollten. Auch medizinischer Cannabis muss wie jedes andere natürliche oder synthetische Medikament die strengen Arzneimittelprüfungen durchlaufen, und dies ohne den Bonus eines jahrtausendealten, bewährten Bestandteils der traditionellen Medizin zu beanspruchen. Obwohl dies in jeder Hinsicht eine enorme Herausforderung darstellt, sollte das die Wissenschaftler motivieren, ihre Forschung zu intensivieren.
Konkret berichten Patienten und Ärzte einerseits von einer Vielzahl von positiven Wirkungen bei vielen chronischen Erkrankungen, darunter Schmerzerkrankungen unterschiedlichster Art, von Phantomschmerzen bis Migräne, bei chronisch entzündlichen Erkrankungen wie Colitis ulcerosa und Rheuma, psychiatrischen Erkrankungen wie Zwangsstörungen, Depressionen und posttraumatischen Belastungsstörungen, neurologischen Erkrankungen wie Multiple Sklerose und Tourette-Syndrom, Appetitlosigkeit und Übelkeit. Andererseits ist die wissenschaftliche Daten-
Foto: zVg
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Claude Vaney Rudolf Brenneisen
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PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
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basis, so wie man sie heute für moderne Medikamente verlangt, bisher nur für wenige Erkrankungen vorhanden. In der Tat kommen die verschiedenen Metaanalysen zum therapeutischen Potenzial von Cannabis alle zum Schluss, dass das Beweisniveau in klinischen Studien, in denen Cannabis mit einem Plazebo verglichen wird, oft bescheiden oder sogar schwach bleibt. Aus diesem Grund übernehmen heute die Krankenkassen nur ungern die Kosten für dieses Medikament. Diesen Metaanalysen zufolge gibt es lediglich hinreichende Belege für die Verwendung von Cannabinoiden, zu denen THC (Delta-9-Tetrahydrocannabinol) und CBD (Cannabidiol) gehören, bei bestimmten Indikationen, wie Übelkeit und Erbrechen im Zusammenhang mit Chemotherapie und Spastik, vor allem bei Multipler Sklerose. Ob Cannabinoide Schmerzen lindern können ist nicht klar, und wenn ja, dann nur bei neuropathischen Schmerzen, und dies mit lediglich bescheidenem Nutzen. Ebenfalls auf einer schwachen Evidenz fusst die Annahme, dass Cannabinoide den Appetit und die Gewichtszunahme bei AIDS-Patienten steigert, die Symptome von Schlafstörungen verbessert und jene des Tourette-Syndroms lindert. Ähnlich schwach ist die Evidenz für die Wirksamkeit von Cannabinoiden bei der Behandlung von Angstzuständen, Psychosen und Depressionen. Einräumend muss erwähnt werden, dass diese systematischen Übersichtsarbeiten vor allem auf Untersuchungen mit der synthetischen Monosubstanz THC (Dronabinol) in niedriger Dosierung beruhen, während die Patienten bevorzugt Vollspektrumpräparate anwenden, die aus der ganzen Pflanze gewonnen werden und alle Wirkstoffe enthalten. Die aktuellen Studien bilden daher nicht die ganze klinische Realität ab. Ausserdem wächst allmählich das Wissen über diese Pflanze, die nicht nur reich an Cannabinoiden (> 100 verschiedene Typen), sondern auch an anderen nicht cannabinoiden Wirkstoffen (Terpenen) ist, die alle ihren eigenen medizinischen Nutzen haben könnten. Um die erwünschten Nebenwirkungen, die durch Spurencannabinoide oder andere Inhaltsstoffen der
Pflanze hervorgerufen werden, zu beschreiben, wurde durch den kürzlich verstorbenen Cannabispionier Raphael Mechoulam treffend der Begriff «EntourageEffekt» geprägt (8). Ziel der vorliegenden Ausgabe soll es sein, anhand relativ gut belegter Indikationen, wie Spastik bei MS und chronischen Schmerzen, die therapeutischen Möglichkeiten und Grenzen von Cannabis aufzuzeigen. Aber auch etwas weniger gut belegte Indikationen, wie Migräne und Verhaltensauffälligkeiten bei Demenz, sollen beleuchtet werden. Abschliessend werden konkrete Verschreibungsmöglichkeiten von Cannabis in der Schweiz dargestellt. Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre. l
Dr. med. Claude Vaney Schweizerische Gesellschaft für Cannabis
in der Medizin Torweg 6, 3930 Visp E-Mail: claudevaney@gmail.com
Prof. Dr. pharm. Rudolf Brenneisen Vorstandsmitglied Schweizerische Gesellschaft
für Cannabis in der Medizin Chefredaktor Medical Cannabis and Cannabinoids
Frikartweg 9A, 3006 Bern E-Mail: sacm@bluewin.ch
Referenzen: 1. Zieglgänsberger W et al.: Chronic pain and the endocannabinoid
system: smart Llpids – a novel therapeutic option? Med Cannabis Cannabinoids. 2022 Mar 22;5(1):61-75. 2. Russo Ethan: From Pariah to Prescription, ed. Binghamton, NY. Haworth Press; 2004. 3. Bundesamt für Gesundheit BAG: Gesetzesänderung Cannabisarzneimittel; https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/medizin-und-forschung/heilmittel/med-anwend-cannabis/gesetzesaenderung-cannabisarzneimittel.html. Letzter Abruf: 22.9.23 4. Bundesamt für Gesundheit BAG: Zugang zu medizinischem Cannabis für Patientinnen und Patienten wird vereinfacht; https://www. admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen. msg-id-89372.html 5. Website Schweizerische Gesellschaft für Cannabis in der Medizin, SGCM-SSCM: Auftrag und Mission. https://www.sgcm-sscm.ch/de/ auftrag-und-mission. Letzter Abruf: 22.9.23 6. Brenneisen R: Editorial. Med Cannabis Cannabinoids. 2018 Jun 1;1(1):1-2; https://karger.com/mca/article/1/1/1/189028/Editorial. Letzter Abruf: 22.9.23 7. Grotenhermen F: Das Cannabis-Dilemma: Ein breites therapeutisches Potenzial bei einer bisher begrenzten klinischen Forschung 2018; https://www.arbeitsgemeinschaft-cannabis-medizin.de/2018/01/10/das-cannabis-dilemma-ein-breites-therapeutisches-potenzial-bei-einer-bisher-begrenzten-klinischen-forschung/. Letzter Abruf: 1.10.23 8. Mechoulam R et al.: Endocannabinoids. Eur J Pharmacol. 1998; 359:1-18.
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